Roland Stein, Hans Kranert et al.: Inklusion an beruflichen Schulen
Rezensiert von Dipl.-Hdl. Dr. phil. Klaus Halfpap, 07.10.2016

Roland Stein, Hans Kranert, Stephanie Wagner: Inklusion an beruflichen Schulen. Ergebnisse eines Modellversuchs in Bayern. W. Bertelsmann Verlag GmbH & Co. KG (Bielefeld) 2016. 160 Seiten. ISBN 978-3-7639-5752-1. D: 34,90 EUR, A: 35,90 EUR.
Thema
Von 2012 bis 2016 wurde in Bayern an neun Standorten ein Projekt zur Inklusion von jungen Menschen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (vor allem in den Schwerpunkten Lernen und emotional-soziale Entwicklung) an berufsbildenden Schulen in Kooperation mit je einer allgemeinbildenden Schule durchgeführt, und zwar mit einer wissenschaftlichen Begleitforschung durch die Universität Würzburg in den Schuljahren 2013/14 und 2014/15. Die Dokumentation darüber mit den Ergebnissen des Projekts, den Fragestellungen und die angewandte Methodik wird in dieser Studie dokumentiert. Empfehlungen für die Weiterentwicklung des bayerischen Berufsschulsystems im Hinblick auf Inklusion werden gegeben, die auch für andere Bundesländer anregend sein können.
Autoren
sind die an der Universität Würzburg tätigen
- Prof. Dr. Roland Stein als Lehrstuhlinhaber für Pädagogik bei Verhaltensstörungen,
- Dipl.-Päd. Hans-Walter Kranert als Akademischer Rat an diesem Lehrstuhl (Sonderschullehrer) und
- Dipl.-Päd. Stephanie Wagner als ehemalige Mitarbeiterin
Aufbau
Nach einer Einleitung (5 f.) ist das Buch wie folgt gegliedert:
-
Teil
1 Forschungsstand, Methodik, Fragestellungen,
Diskussion und Empfehlungen (7 ff.)
- Diskussion und Forschungsstand zu Inklusion in der beruflichen Bildung in Deutschland (9 ff.)
- Berufliche Bildung in Bayern (13 ff.)
- Grundanlage des Modellversuchs sowie der wissenschaftlichen Begleitung (15 ff.)
- Methode und Vorgehen der wissenschaftlichen Begleitung (17 ff.)
- Fragestellungen und Befunde im Hinblick auf den Beratungsauftrag (25 ff.)
- Diskussion und Empfehlungen (43 ff.)
- Literatur (53 ff.)
Teil 2 Daten und Instrumente (61 ff.)
- Datengrundlage (63 ff.)
- Instrumente (141 ff.)
- Abbildungs- und Tabellenverzeichnis (153 ff.)
Inhalt
Einführend weisen die Autoren darauf hin, „dass nun die beiden über Jahrzehnte hinweg unterschiedlich und spezialisiert entwickelten ‚Subpädagogiken‘ Berufspädagogik sowie Sonder- und Heilpädagogik … durch die Inklusionsdebatte stärker zusammenfinden und einen gemeinsamen Diskurs vorantreiben müssen“ (11), was in der Berufspädagogik – so der Rezensent – im handlungstheoretischen Kontext z. B. in dem „Modellversuch Lernbüro“ in den 1980er Jahren (in Nordrhein-Westfalen) bereits anklang (vgl. z. B. Halfpap: Dynamischer Handlungsunterricht, Darmstadt 1983).
Nach einer im 4. Kapitel ausführlichen Erläuterung der durchgeführten formativen Evaluation mit sieben Evaluationsinstrumenten werden mit dem abschließenden Hinweis auf die Ziele der anstehenden Beratungsaufgaben (23 f.) 11 zentrale Forschungsfragen und Hypothesen der wissenschaftlichen Begleitung analysiert und deren Bedeutung für die Vorgehensweise herausgearbeitet: u. a. zu organisatorischen und personellen Maßnahmen (32 ff.), zur Notwendigkeit der Kooperation der Fachkräfte (38 f.) und der Einbindung der Wirtschaft (41 f.). Weiterbildungsbedarfe sind groß (40 f.).
Im 6. Kapitel werden die dargestellten Befunde und „die zentralen Ergebnisse in knappem Überblick diskutiert und daraus wesentliche Schlussfolgerungen und Empfehlungen generiert“ (43), und zwar zu den Zielbereichen Unterricht, Schulentwicklung und Schulorganisation, Lehrkräfte, Schüler. Besonders bedeutsam ist u. a., dass die bisherige Fächerstruktur zwecks fächerübergreifender Vermittlung der Lerninhalte (44) aufgegeben wurde und die Weiterentwicklung multiprofessioneller Teams empfohlen wird (50). Empfehlungen für die Weiterentwicklung des Berufsschulsystems in Bayern werden gegeben (51 f.).
Im sehr umfangreichen 2. Teil werden als 8. Kapitel ausführlich die Datengrundlagen veröffentlicht: die Beschreibung der Schülerschaft (64 ff.), Ergebnisse der Fragebogenerhebungen (80 ff.) sowie die im Modellversuch eingesetzten diagnostischen Verfahren (136 ff.). In den hier eingangs angegebenen beiden Schuljahren der wissenschaftlichen Begleitforschung haben am Modellversuch ca. 650 bzw. fast 900 Schüler/innen teilgenommen (63) überwiegend im Alter von 15 bis 17 Jahren (69). Ausbildungsberufe waren u. a.: Gärtner, Tischler, Friseur, (Fach-)Verkäufer, Anlagenmechaniker, Kaufmann im Einzelhandel (65 ff.); in den Handwerksberufen überwiegend männlich (68) mit einer Ausbildung in einem Betrieb (73). Ein Großteil der Schüler (85,4 %) nahm an keiner Berufsvorbereitungsmaßnahme teil (73).
Auf der Grundlage dieser Datenbasis erfolgt dann die Analyse nach den ausgewählten Evaluationsinstrumenten (80 ff.), die hier nicht vollständig skizziert werden können. Einige wenige Ergebnisse: ausbildungsrelevante Einstellungen und Erfolgsfaktoren sind recht unterschiedlich (81), mit voranschreitendem Alter wächst die Lernbereitschaft (83).
Die abschließend veröffentlichten „Instrumente“ der wissenschaftlichen Begleitung an der Universität Würzburg können anregende Hinweise für eine diesbezügliche Arbeit anderer Schulen und Ausbildungsinstitutionen geben (141 ff.): Monatstagebuch (für Lehrkräfte), Organisationsdaten, Bildungsbiografien, Fragebogen zur Erfassung ausbildungsrelevanter Einstellungen und Erfolgsfaktoren sowie Hinweise zum Schüler-Fragebogen zur Selbsteinschätzung und Lehrer-Fragebogen zur Fremdeinschätzung der Schüler durch die Lehrkräfte.
Diskussion
Wie hier einführend zum Inhalt bereits erwähnt, hat die Berufspädagogik in den 1970er und 1980er Jahren aufgrund praktischer Unterrichtserprobungen an berufsbildenden Schulen z. B. in Nordrhein-Westfalen und später auch in Mecklenburg-Vorpommern handlungstheoretisch fundierte Unterrichtsmodelle bzw. -konzepte entwickelt, die u. a. durch fächerübergreifendes bzw. fächerverbindendes ganzheitliches Arbeitslernen (im kaufmännischen und technischen Bereich) vor allem auch Schlüsselqualifikationen gefördert haben (generell, nicht nur bei den sogenannten Jungarbeiterinnen und Jungarbeitern sowie koedukativ). Es ist erfreulich, dass durch die Inklusion nunmehr eine aktuelle Breitenwirkung dieser Arbeit stattfindet und eine wissenschaftstheoretisch aspektreiche Erweiterung erfährt. Das z. B. auch zitierte Werk von Biermann/Bonz zum Thema hätte stärker aufgegriffen werden können.
Unter diesem Aspekt ist u. a. die Behauptung der Autoren bezüglich des Erfolgs dieses Modellversuchs sehr zu hinterfragen: „Es kristallisierte sich jedoch auch heraus, dass der klassische Frontalunterricht unverzichtbar bleibt, stellenweise auch auf Wunsch der Schüler“ (35). Dass diese das ungewohnte eigenaktive kooperative Arbeitslernen anfangs nicht bevorzugen, ist verständlich, aber veränderungsbedürftig durch einen veränderten „Frontaluntericht“!
Fazit
Trotz einiger diskussionsnotwendiger Punkte ist dieses Buch über Ergebnisse dieses Modellversuchs zur Inklusion an beruflichen Schulen in Bayern eine Studie, die wegweisende Anregungen zur Inklusion nicht nur an beruflichen Schulen in Bayern, sondern generell auch für sogenannte allgemeinbildende und berufsbildende Schulen in Deutschland überhaupt gibt. Es ist klar gegliedert, logisch aufgebaut sowie praxisbezogen und anschaulich schriftlich verfasst.
Rezension von
Dipl.-Hdl. Dr. phil. Klaus Halfpap
Ltd. Regierungsschuldirektor a. D.
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