Christian Steuerwald: Die Sozialstruktur Deutschlands im internationalen Vergleich
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Berg, 27.09.2016

Christian Steuerwald: Die Sozialstruktur Deutschlands im internationalen Vergleich. Springer (Berlin) 2016. 3., überarbeitete Auflage. 379 Seiten. ISBN 978-3-531-15887-7. 24,95 EUR.
Thema
Menschen leben üblicherweise in vielfältigen Beziehungen zu Mitmenschen. Solche Beziehungen können relativ unabhängig von konkreten Personen sein und dauerhafte Beziehungsgefüge, Institutionen, letztlich Strukturen herstellen. Soweit sie gesamtgesellschaftliche Bedeutung haben, kann man sie als Sozialstruktur bezeichnen und analysieren.
Autor
Dr. Christian Steuerwald ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mainz und hat zwischenzeitlich Lehrstuhlvertretungen im Bereich der Soziologie inne.
Entstehungshintergrund
Die vorliegende Publikation geht auf ein Lehrbuch von Stefan Hradil von 2004, 2.Auflage 2006, zurück, das nunmehr Steuerwald vollständig überarbeitet hat und verantwortet.
Aufbau
Zunächst entfaltet der Autor Grundzüge der Modernisierungstheorien als Maßstab der Analyse und Grundlage des Vergleichs. Es folgen sechs Kapitel, im Umfang von 20 bis an die 50 Seiten, die allesamt gleich aufgebaut sind: Nach begrifflicher Klärung und Einordnung in den Modernisierungskontext werden die empirischen Befunde für Deutschland und im internationalen Vergleich vorgestellt, schließlich modernisierungstheoretisch bewertet.
Die Kapitel befassen sich mit
- der Bevölkerung (Lebenserwartung, Migration, Altersstruktur etc.)
- Lebensformen (Haushalte, Familien)
- Bildung und Bildungschancen
- Erwerbstätigkeit bzw. Arbeitslosigkeit
- Einkommens- und Vermögensungleichheit
- sozialer Sicherung
- Kultur und Lebensweise
Auf eine kurze Schlussbemerkung (S. 341-349) zur Netzwerkgesellschaft der Zukunft folgen über 500 Literaturangaben.
Inhalt
Gesellschaftliche Modernisierung ist ein umfassender historischer Prozess, der sich in der Ausdifferenzierung (Spezialisierung und Arbeitsteilung), der Verzahnung (Integration) gesellschaftlicher Teilbereiche, der Ablösung von Traditionen durch Zweckrationalität, im teils Universalisieren von Werten und Normen, teils aber auch in der Pluralisierung von Lebensstilen ausdrückt. Da Modernisierung eine bessere Anpassung an die Umwelt und höhere Leistungsfähigkeit erlaubt, kann sich keine Gesellschaft ihr entziehen. Modernisierung heißt Fortschritt. Moderne Gesellschaften wirken dahingehend, dass weniger fortgeschrittene Gesellschaften gefördert werden und „aufholen“. Modernisierungstheorien erklären empirisch beobachtbare Vorgänge, formulieren aber auch Ziele (Marktwirtschaft, Demokratie).
Im Sinne der Modernisierungstheorien ist es, eine Entwicklung von der Agrar- über die Industrie- bis zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft nachzuzeichnen. Tatsächlich aber, räumt der Autor ein, gibt es durchaus Gesellschaften, die alle Phasen gleichzeitig durchlaufen oder auch die Industrialisierung ausgelassen haben.
Der Band gibt einen so umfassenden und detaillierten Überblick, dass im Rahmen einer Rezension nur einige Stichpunkte zur Modernisierung und im internationalen Vergleich erwähnt seien:
- Die Alterung der deutschen Gesellschaft wird in der Mitte des Jahrhunderts allmählich zurückgehen, weil dann die geburtenstarken Kohorten sterben. Bis dahin wird jedoch auch ein Drittel weniger Menschen als heute im Erwerbsalter sein, selbst wenn moderate Einwanderung anhält.
- Im Schnitt sind 5% der Haushalte in EU-Mitgliedstaaten Ein-Eltern-Haushalte. In südeuropäischen Ländern ist dies weitaus seltener als in nordeuropäischen. Alleinerziehende und ihre Kinder sind überall, vor allem aber in Irland und Großbritannien erheblich armutsgefährdet.
- Die Bildungsexpansion hat in allen Industrieländern stattgefunden, in den skandinavischen Ländern deutlich früher und stärker. Der Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft ist in Deutschland vergleichsweise stärker ausgeprägt. In manchen Ländern zeigen gerade benachteiligte Kinder auffällige Resilienz, d.h. Schulerfolg trotz bildungsferner/armer Herkunftsfamilien. In Deutschland schneiden Kinder aus griechischen, iranischen oder vietnamesischen Familien besser ab als Kinder ohne oder mit anderem Migrationshintergrund.
- Die Erwerbstätigkeit von Frauen ist in Griechenland oder Italien, Tschechien, Polen oder Ungarn unter oder nur knapp über 50 %, ist gerade auch im Bereich der Teilzeitarbeit gering. Der Anstieg atypischer Beschäftigungsverhältnisse ist modernisierungstheoretisch nicht erklärt.
- Im Zuge und als Folge der Modernisierung sollen, so die Theorie, Ungleichheiten innerhalb und zwischen Gesellschaften kleiner werden.Tatsache ist, dass Einkommen in Deutschland zeitweise stabil waren, aber seit zwanzig Jahren wieder ungleicher werden, was für Vermögen sowieso gilt. Das ohnehin geringe Pro-Kopf-Einkommen im ärmsten Drittel aller Länder ist seit 1970 im Vergleich zu den reichen Ländern noch einmal deutlich gefallen.
- In allen europäischen Gesellschaften verringerten die Transfereinkommen (Sozialleistungen) die Armutsgefährdung, besonders deutlich u.a. In Irland, Griechenland, den skandinavischen Ländern.
- Seit den 1970er Jahren lässt sich in Europa eine Abnahme materialistischer und eine Zunahme postmaterialistischer Wertorientierungen (Geld, Sicherheit vs. Partizipation, Meinungsfreiheit) feststellen, gleichzeitig stieg aber der Anteil der Mischtypen auf über 50% an. Die Bürgerinnen und Bürger in den EU-Mitgliedsstaaten fühlen sich Europa durchaus verbunden, aber mit der Nation und dem Wohnort bzw. der Region stärker.
- Die Industriegesellschaft und die postmoderne Dienstleistungsgesellschaft waren schon auch durch neue Technologien determiniert, die weitere Entwicklung zur „wissensbasierten Netzwerkgesellschaft“ wird es noch mehr sein.
Diskussion
Steuerwald gibt mit diesem soliden Band einen guten Überblick. Der Text ist dicht, verschiedentlich im Satzbau ungewöhnlich, mit kleineren Schreibfehlern (Vorwort!). Mit insgesamt 91 Abbildungen und 38 Tabellen, viele auch in Farbe, ist der Band um visuelle Information bemüht. Manche Grafiken sind schwer lesbar, mitunter ist die Abszisse nicht klar. Insgesamt ist die nutzerfreundliche Präsentation überaus lobenswert.
Inhaltlich bietet der Autor viel; das Kapitel zur „sozialen Sicherung“ ist weniger der Soziologie, mehr der Sozialpolitik zuzuordnen. Kritikpunkte gibt es doch einige! Der Autor selbst benennt sie, allerdings konsequenzlos. Der modernisierungstheoretische Ansatz ist möglich, aber nicht zwingend. Es bleibt bei einem individualistischen Ansatz: Dass sich Bürgerinnen und Bürger in Parteien, Initiativgruppen, Kirchen und Verbänden organisieren, gehört doch unbedingt zur Sozialstruktur, genannt Zivilgesellschaft. Die Ungleichheit von Vermögen wird kurz dargestellt, aber zu sehr auf Immobilien zugespitzt, als ob das Eigentum an Produktionsmittel wenig Bedeutung hätte.
Wenn Steuerwald wie viele Mitglieder seiner Profession Gesellschaft und Territorialstaat gleichsetzt, muss er sich die Kritik am „methodischen Nationalismus“ gefallen lassen: Inzwischen gibt es doch etliche empirische Arbeiten, die transnationale Netzwerke, Kommunikation, Mobilität und (finanzielle, kulturelle) Transfers belegen.
Während der Autor bei seinem Ausblick auf die globale Netzwerkgesellschaft durchaus einen gewissen „technologischen Determinismus“ einräumt, präsentiert er im Hinblick auf die vorausgehenden Gesellschaftsformationen, also die postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft oder Industriegesellschaft kaum Material. Dabei wären die gesellschaftlichen Wirkungen, um nur zwei Beispiele zu nennen, des Automobils und der „Pille“ nicht hoch genug einzuschätzen.
Fazit
Christian Steuerwald hat hat eine reichhaltige, dichte Übersicht über die Sozialstruktur Deutschlands, auch im internationalen Vergleich erarbeitet, die sich deutlich an traditionelle Formate anschließt, also durchaus noch modernisiert werden könnte.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Berg
Hochschule Merseburg
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Zitiervorschlag
Wolfgang Berg. Rezension vom 27.09.2016 zu:
Christian Steuerwald: Die Sozialstruktur Deutschlands im internationalen Vergleich. Springer
(Berlin) 2016. 3., überarbeitete Auflage.
ISBN 978-3-531-15887-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21325.php, Datum des Zugriffs 28.09.2023.
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