Antoine Vauchez: Europa demokratisieren
Rezensiert von Prof. Dr. Marion Möhle, 29.06.2017

Antoine Vauchez: Europa demokratisieren. Hamburger Edition (Hamburg) 2016. 135 Seiten. ISBN 978-3-86854-296-7. D: 12,00 EUR, A: 12,30 EUR.
Thema
Die Europäische Union befindet sich bereits seit einiger Zeit in einer Krise – und diese Krise ist nicht zuletzt auch der Tatsache geschuldet, dass sie an einem Demokratiedefizit leidet. Hier setzt der Autor an und versucht Antworten auf die Frage zu finden, wie die Europäische Union abseits von institutionellen oder vertraglichen Reformen einen Weg aus der derzeitigen Sackgasse finden könnte, um sich zu einem europäischen Projekt weiterzuentwickeln, das zukunftsweisend ist.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in vier Kapitel unterteilt und enthält darüber hinaus Anhänge. Ergänzt wird es um eine Einleitung und ein Vorwort zur deutschen Ausgabe. Hier macht Antoine Vauchez, der an der Sorbonne eine Forschungsprofessur für politische Soziologie und Recht innehat, das Anliegen seines Buches deutlich: es geht ihm darum, den aktuellen Stillstand Europas zu überwinden, das zwischen Exit-Bestrebungen und brüchiger Loyalität der Mitgliedsländer gefangen zu sein scheint. Dabei sieht Vauchez die Ursache der Krise Europas u.a. darin, dass unklar ist, was eigentlich das reale Europa ist und folglich auch kaum praktikable Vorschläge existieren, wie es reformiert werden könnte. Die Krise Europas ist für Vauchez in allererster Linie eine Krise der Demokratie, wie er in der Einleitung verdeutlicht. Dies ist umso bemerkenswerter, als es in den letzten Jahren an Versuchen seitens der EU, das „Demokratiedefizit“ zu beseitigen, nicht gemangelt hat. Die Ursache hierfür hat der Autor bereits im Vorwort angesprochen: Europa und die Europäische Union sind nebulöse Begriffe und so kommt es zu Verwechslungen zwischen einem Europa, wie es angeblich ist und einem Europa, wie man es sich wünscht. Den Grund für dieses Demokratiedefizit sieht Vauchez vor allem darin, dass die drei zentralen Institutionen der EU – der Europäische Gerichtshof, der Europäische Rechnungshof und die Europäische Kommission – von den Bürger/innen Europas nicht legitimiert sind. Diese gilt es zu demokratisieren.
Unter der Überschrift „Eine ‚potemkinsche Demokratie‘?“ steigt der Autor gleich im ersten Kapitel in die aktuelle Krisendiagnose ein, die eine Mischung aus verschiedenen Aspekten darstellt. Neben mangelndem Wählerinteresse bei Wahlen zum Europäischen Parlament sind hier auch „gescheiterte“ Referenden in den Mitgliedsländern sowie ein immer offensiverer Druck der EZB und der Europäischen Kommission zur Durchsetzung der Bedingungen zur Rettung Griechenlands zu nennen. Eine Ursache für dieses an vielen Stellen erkennbare Demokratiedefizit sieht Vauchez darin, dass seit Jahrzehnten versucht wird, Europa am nationalstaatlichen Demokratiemodell auszurichten. Hinzu kommt, dass Institutionen wie Gerichtshof, Zentralbank und Kommission nicht in diesen Diskussionsprozess einbezogen wurden. Mit dem Vertrag von Lissabon 2009 sollte die erste supranationale Demokratie der Welt etabliert werden, die mit allen hierfür notwendigen Institutionen ausgestattet war. Damit sollte eigentlich der Weg in ein echtes demokratisches Europa vorgezeichnet sein. Schon in den Jahrzehnten zuvor war in den verschiedenen europäischen Verträgen versucht worden, mehr demokratische Elemente in der EU einzuziehen, so dass eigentlich der Weg zu einem demokratischen Europa vorgezeichnet war. Allerdings kam dann die Wirtschafts- und Finanzmarktkrise dazwischen, der die EU unter Handlungszwang setzte – und dazu führte, dass die Troika, zu der neben dem IWF auch die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank gehören, das Heft in die Hand nahmen – und das Europäische Parlament zum Zuschauen verurteilt war. Vauchez stellt folgerichtig fest, dass „der europäische Bürger nur zaghaft hinter der Gestalt des Wirtschaftsteilnehmers hervorscheint.“ (S. 41)
Das zweite Kapitel widmet sich unter der Überschrift „Europa zwischen Unabhängigkeit und Expertentum“ der Frage, wie es um die europäische polis bestellt ist und damit um die Frage nach der politischen Legitimität Europas. Dabei bezieht sich Vauchez auf die Anfänge der EU, die mit dem Haager Kongress 1948 ihren Ausgang nahm. Damals, so die wichtigste Erkenntnis, ging es dezidiert um europäische Leitlinien politischer Legitimität. Allerdings hat diese nicht in Richtung einer europäischen Bürgerdemokratie, sondern in die einer europäischen Expertokratie entwickelt.
Im dritten Kapitel erläutert Vauchez das Problem, dass die eigentliche politische Macht zunehmend von einem Dreigestirn eigentlich unpolitischer Institutionen der EU übernommen wurde. Diese „Unabhängigen“ sind neben der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank auch der Europäische Gerichtshof. Dies wurde vor allem im Zusammenhang mit der Finanzmarktkrise unübersehbar – und führte nur noch mehr zu einer Krise der ohnehin schwachen demokratischen Legitimität der EU.
Eine Lösung für dieses gravierende Problem sieht der Autor letztlich nur in einer Demokratisierung der Europäischen Union, die er im vierten Kapitel skizziert. Hierbei ist, so Vauchez, an den „Unabhängigen“ anzusetzen und zwar insofern, als sie aus „ihrem dogmatischen Schlaf zu reißen“ sind (S. 113). Damit ist vor allem gemeint, politische Ansätze zu entwickeln, die den „Unabhängigen“ das Recht streitig machen, alleine selber über die Auslegung ihres durch die europäischen Verträge anvertrauten Mandats zu entscheiden. Dies kann nur in einem öffentlichen Diskussionsprozess geschehen, der Sozialpartner und NGOs mit einbezieht.
Zielgruppen
Das Buch richtet sich an alle, die an der Zukunft Europas interessiert sind, wobei eine gewisse Vorbildung in Bezug auf die Geschichte und die Struktur der Europäischen Union sicherlich von Vorteil ist, um das Buch mit Gewinn zu lesen.
Fazit
Das vorliegende Werk von Antoine Vauchez´ ist sehr klug aufgebaut und gut nachzuvollziehen – es erfordert aber, sich auf die ausgesprochen dichte Argumentation einzulassen, die auf gerade einmal auf rund 130 Seiten nicht nur Reformvorschläge für die EU macht, sondern dabei auch einen umfassenden historischen Bogen vom Anbeginn des europäischen Einigungsprozesses bis zur aktuellen Krise schlägt. Es ist zu hoffen, dass dieses Buch sowohl von WissenschaftlerInnen wie PraktikerInnen breit rezipiert wird.
Rezension von
Prof. Dr. Marion Möhle
Hochschule Esslingen, Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege
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Zitiervorschlag
Marion Möhle. Rezension vom 29.06.2017 zu:
Antoine Vauchez: Europa demokratisieren. Hamburger Edition
(Hamburg) 2016.
ISBN 978-3-86854-296-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21336.php, Datum des Zugriffs 11.12.2023.
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