Kira Nierobisch: Identitätsbildung in der Jugendarbeit
Rezensiert von Dr. Wolfgang Rechtien, 13.01.2017
Kira Nierobisch: Identitätsbildung in der Jugendarbeit. Zwischen Gemeinschaft, Individualität und Gesellschaft. Springer VS (Wiesbaden) 2016. 400 Seiten. ISBN 978-3-658-11359-9. D: 49,99 EUR, A: 51,39 EUR, CH: 51,50 sFr.
Thema
Lebenskonzepte und Identitätsmuster, die lange Zeit als selbstverständlich nicht hinterfragt wurden, werden heute durch gesellschaftliche Entwicklungen wie Globalisierung, Individualisierung und Pluralisierung fragwürdig. Konzepte wie Kontinuität, Kohärenz, Entwicklungslogik u.a.m. weichen – so Kira Nierobisch – Begriffen wie Kontingenz, Diskontinuität, Fragmentierung und Reflexivität, die die individuellen und kollektiven Diskurse von Selbst- und Welterfahrung bestimmen.
Aktuell gehört Identität daher zu den wichtigsten sozialwissenschaftlichen Konzepten zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft.
Die Autorin will in ihrer biographietheoretisch angelegten Dissertation den Blick sowohl auf die individuelle Identitätskonstruktion als auch auf Prozesse der Vergemeinschaftung und daraus folgende kollektive Identitäten (bei Frauen) richten. Sie versucht dies anhand von Interviews mit 12 Frauen, die in ihrer Jugend in Leitungsfunktionen bei den Pfadfindern tätig waren, einer Gruppierung, die traditionell ein intensives Gemeinschaftsgefühl pflegt.
Autorin
Dr. phil. Kira Nierobisch arbeitet mit den Schwerpunkten Außerschulische Jugendbildung, Bildungsberatung, qualitative Biographie- und Sozialforschung und Didaktik und Methodik als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der AG Erwachsenenbildung an der pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.
Entstehungshintergrund
Es handelt sich um eine an der Universität Mainz im Jahre 2011 erstellte Dissertation.
Aufbau und Inhalt
Nach einem Vorwort von apl. Prof. Dr. Eva Borst (Universität Mainz) finden sich 10 Kapitel:
- Einleitung
- Identitätsbildung in der späten Moderne
- Das Forschungsfeld: PfadfinderInnenverbände, Wandervogelbünde und Jungenschaften
- Kollektivität und Individualität: Zentrale Aspekte der Identitätsbildung im historischen und aktuellen bündischen Kontext
- Biographische Zugänge zu Identitätsbildungsprozessen
- Das empirische Konzept der Untersuchung
- Einzelfallportraits und weitere Falldarstellungen
- Fallkontrastierung und Typenbildung
- Theoriebildung
- Resümee und Ausblick
sowie je ein Abbildungs-, Abkürzungs- und Literaturverzeichnis.
Im Kapitel 2 – abgesehen von den Falldarstellungen das umfangreichste der Kapitel – berichtet Kira Nierobisch Grundlegendes zu Verläufen der Identitätsbildung. Sie stützt sich dabei auf Konzepte von Hitzler & Honer (Selbst-Identität als Bastelexistenz) und Keupp (Selbst-Identitäten als Patchwork), die sie auch kritisch betrachtet, sowie auf Baumann (das vertriebene Selbst; nichtexistente, imaginäre Gemeinschaften), Tönnies (Gemeinschaft und Gesellschaft) und Plessner (Grenzen der Gemeinschaft).
Das Forschungsfeld der Arbeit (Kap. 3), das „Bündische“, wird historisch nachgezeichnet, vom Anfang des 20.Jahrhunderts, über die Weimarer Zeit und die des Nationalsozialismus bis hin zu den Umbrüchen nach dem 2. Weltkrieg. Ein besonderer Blick gilt den Frauen und Mädchen und ihren Rollenerwartungen. Die Pädagogisierung und die bei den Pfadfindern vermittelten Werte und Moralvorstellungen werden geschildert, aber auch in ihren Auswirkungen kritisch reflektiert, etwa, inwieweit „das Bündische“ als Gegenentwurf zum aktuellen gesellschaftlichen Kontext anschlussfähig bleibt.
Das in den jugendlichen Bewegungen zu findende „ideelle und menschliche Potential“ – so Nierobisch -wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts von verschiedenen politischen, kirchlichen und sozialen Organisationen zunehmend für die Platzierung ihrer Ideen und zur Indoktrination genutzt, insbesondere Jugendliche in Leitungsfunktionen wurden als Multiplikatoren missbraucht – „Jugend führt Jugend“ war die Propagandaparole der Hitlerjugend. Erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wurden solche Tradierungen hinterfragt, z.B. der Führungsbegriff durch einen partizipativ hinterlegten Leitungsbegriff ersetzt. Das besondere Interesse der Untersuchung (Kapitel 4) von Nierobisch richtet sich auf Mädchen und Frauen mit einer Leitungsfunktion und damit auf drei Komplexe: Bündische Geschlechtsstereotype, Bedeutung von Leiterinnen und Leitern im Binnenverhältnis der Bünde sowie gemeinschaftsverbindende Elemente im Kontext ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Dies sind die Aspekte, auf die dann im Rahmen der empirischen Untersuchung eingegangen wird.
Der Frage, wie gesellschaftliche Geschlechterkonstruktionen in individuelle Biographien integriert oder variiert werden, geht die Autorin mit dem „Paradigma der Narrativen Identität“nach, das im Kapitel 5 vorgestellt und im folgenden Kapitel (6) als empirische Grundlage der Untersuchung im Einzelnen erläutert wird.
Drei der insgesamt 12 Interviews werden anschließend (Kapitel 7) als ausführliche Portraits geschildert und mit Abschnitten zur Bedeutung von Individualität und Gemeinschaft, wie sie von den befragten Frauen gesehen wurde, abgeschlossen. Die übrigen Interviews finden sich als Kurzportraits.
Im 8. Kapitel arbeitet die Autorin gemeinsame Merkmale der Biographien heraus und verwendet diese in der Form dreier Dimensionen – Dispositions- und Sozialisationsbedingungen, bündische und pfadfinderische Erfahrungen sowie biographische Selbstentwürfe und Erfahrungstransfer aus der bündischen Zeit – für den Versuch einer „empirisch begründeten Typenbildung“ und einer fallvergleichenden Kontrastierung.
Das 9. Kapitel, überschrieben als „Theoriebildung“, betrachtet die „unterschiedlichen Relevanzen der biographischen Basisdispositionen für den Transfer der bündischen Erfahrungen“, die einen Beitrag zur Identitätsbildung, also zum Entstehen von Selbstbildern und zur Konstruktion von Haltungen leisten (S. 361).
Anhand der biographischen Analyse konnten – so die Autorin in Resümee und Ausblick (Kapitel 10) – diese identitätsbildenden Prozesse in ihren personalen und sozialen Funktionen erfasst werden. Identität ist dabei als mehrdimensionales Konstrukt zu sehen, das die personale, die soziale und die kollektive Identität umfasst. Anders als bei den sog. postmodernen, fluiden Identitätskonzepten gründen Identitätsstrategien im traditionsreichen bündischen Kontext auf Beständigkeit und Bindung an die Gruppe. Kritische Reflexion der kulturellen Praxen – so scheint es – findet sowohl seitens der Organisation als auch der Mitglieder kaum statt. Selbstkritische kognitive Distanzierung erfolgt meist erst aus der biographischen Retrospektive.
Das Ergebnis ihrer Untersuchung führt Nierobisch zu der Vermutung, dass die Gemeinschaftserfahrung im bündischen Kontext wesentlich zur Festigung der jeweiligen Identität beigetragen hat – und zu einer Relativierung der Annahme, dass es in der pluralisierten und individualisierten Gesellschaft nur noch multiple Identitäten geben könne. Angesichts einer zunehmend fluiden und kalten Gesellschaft sei es an der Zeit, über Vergemeinschaftungsformen nachzudenken, die Heranwachsenden affektiven Halt und zugleich Wertschätzung ihrer Besonderheit geben können.
Diskussion und Fazit
Diskurse über Identität – keineswegs alle, aber eben doch einige – leiden gelegentlich unter einer Versprachlichung, die auch eigentlich eher banalen Erkenntnissen den Anschein von Bedeutsamkeit verleiht, und die Reduktionsarbeit vom Gesagten zum Gemeinten kann dann schon mal zu ernüchternden Resultaten führen. Kira Nierobisch folgt in Teilen ihrer Theoriekapitel diesem Brauch – vielleicht gezwungenermaßen, weil es sich um eine Dissertation handelt.
Die Beschreibung des Forschungsbereiches, die bündische Bewegung in ihrer auch historischen Bedeutung für jugendliche Identitätsbildung, ist aufschlussreich und weist sowohl auf die stabilisierende Funktion solcher sozialen Gruppierungen als auch auf damit verbundene kritische Abschottungsprozesse hin. Untersucht wird dies anhand von zwölf biographisch orientierten Interviews. Es handelt sich damit um einen sehr speziellen Untersuchungsbereich und eine spezielle Methodik, die Verallgemeinerungen und Transfer kaum zulassen, was im Titel dieser Veröffentlichung nicht zum Ausdruck kommt. So kann dieser Erwartungen wecken, denen der Inhalt der Arbeit nicht gänzlich entspricht – zumindest hat er das bei mir als Rezensenten getan.
Rezension von
Dr. Wolfgang Rechtien
Bis 2009 Vorstandsmitglied
und Geschäftsführer des Kurt Lewin Institutes für Psychologie der
FernUniversität sowie Ausbildungsleiter für Psychologische
Psychotherapie.
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Zitiervorschlag
Wolfgang Rechtien. Rezension vom 13.01.2017 zu:
Kira Nierobisch: Identitätsbildung in der Jugendarbeit. Zwischen Gemeinschaft, Individualität und Gesellschaft. Springer VS
(Wiesbaden) 2016.
ISBN 978-3-658-11359-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21342.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.
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