Frank Schulz-Nieswandt: Im alltäglichen Labyrinth der sozialpolitischen Ordnungsräume (...)
Rezensiert von Prof. Dr. phil Alexander Th. Carey, 03.04.2017
Frank Schulz-Nieswandt: Im alltäglichen Labyrinth der sozialpolitischen Ordnungsräume des personalen Erlebnisgeschehens. Eine Selbstbilanz der Forschungen über drei Dekaden. Duncker & Humblot GmbH (Berlin) 2016. 90 Seiten. ISBN 978-3-428-14913-1. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR.
Thema und Überblick
Der Autor legt in diesem Fachbuch sein drei Dekaden überdauerndes Forschungsprogramm dar. Sein Ziel ist es, eine Bilanz seiner Studien zu sozialpolitischen Themen, Themen der Daseinsvorsorge und des Genossenschaftswesen zu ziehen. Hierbei streift der Blick – sinnbildlich formuliert als „Flug der Eule der Minerva“ (S. 81ff.) – verschiedene sozialpolitische Räume, die er methodisch und konzeptionell mit der „personalen Erlebnisgeschehensordnung“ (S. 21ff.) verbindet.
Im nächsten großen Teil dieser Abhandlung zieht der Autor Verknüpfungen des Raums der Sorge (insbesondere der Daseinsvorsorge) mit dem sozialen Wandel. Kleinere Abschnitte gehen auf Ordnungsversuche seiner Forschung, auf die „‚Soziale Frage‘ und Zivilisationskrise“ ein.
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Die erkenntnisleitenden Fragen, die den Verfasser zum Thema des „Alltags des Sozialpolitikgeschehens“ beschäftigen, sind: Wie erlebt der Mensch diesen Raum der Ordnung? Welche Eigenlogiken treiben Institutionen, welche Programmcodes die rollenspielenden Akteure, was sind die Drehbücher der Filme, die hier ablaufen? Wie wird dieses Geschehen in seiner kulturgrammatischen Ordnung von der Person psychodynamisch erlebt. Wie sieht das alltägliche Drama marginalisierter sozialer Segmente, prekärer Lebenslagen, exkludierter Menschen aus? Wie inszeniert sich die Sozialpolitik mit Blick auf diese Alltagsdramen (S. 11)? Auch wenn der Begriff eines sozialpolitischen Geschehensraums des Alltags in diesem Buch nicht definiert ist, so fällt an den genannten Fragen auf, dass diese sehr psychoanalytische/psychodynamische Prägungen bzw. kulturwissenschaftliche Betrachtungsweisen aufweisen. Das ist für das Thema Sozialpolitik eine ungewöhnliche Betrachtung, die jedoch für den Autor kennzeichnend ist. Für ihn ist die Fundierung einer Sozialökonomie in sozialwissenschaftlichen Bezugssystemen entscheidend.
Sein Ansatzpunkt ist stets die personale Sorgestruktur auf der einen Seite, die ihre Entsprechung auf der anderen Seite in sozialpolitischen Antworten des Gewährleistungsstaates finden muss. In dieser personalen Daseinsaufgabe geht es aber nicht nur um die „menschliche Existenzproblematik“, sondern auch um – aus der Kraftquelle der Liebe heraus – die Bewältigung von lebenszyklischen Herausforderungen, die den Menschen als Menschen ausmachen. Hierbei ist alles möglich: das Scheitern, die Entfremdung (durch soziale Vereinsamung und Phobien, aber auch über den „warenästhetischen“ Fetischismus und mentalen Kapitalismus), seine symbolische Programmierung durch gouvernementale Dispositionen (S. 24f). Die Sorge beinhaltet – seiner Einschätzung nach – nicht nur eine selbstreferentielle/narzisstische Selbstsorge, sondern auch die soziale Mitsorge für den Mitmenschen (S. 25). Daraus entwickelt der Autor die ontologische Transformation der Philosophie des ICHs zur Philosophie des MICHs, welches in die „Grammatik des Sozialen“ (S. 26) eingebunden ist.
Auf dieser Grundlage „entsteht“ der institutionell verfestigte Raum der Sozialpolitik, der in die Gestaltungswelt der personalen Welt – auf jeweils unterschiedlichen rechtlichen Regime-Ebenen – als Antwort wieder zurückfällt: individualisiertes Völkerrecht, unionsbürgerschaftliches Europarecht, grundrechtsfundiertes GG, System des SGBs auf Bundesebene, Konkretisierungen im Landes- und Kommunalrecht. Die Verbindung des sozialen Raums mit Sozialpolitik wird durch die infrastrukturelle Gewährleistung von Kapazitäten und professionellen Dienstleistungen generiert und im besten Fall, nämlich der inklusiven Sozialraumorientierung, stabilisiert. Bei der Frage zwischen einer notwendigen oder kompensatorischen Regulierung bzw. einer minimalistischen oder vollversorgenden Steuerung wird vom Autor richtigerweise darauf hingewiesen, dass rein marktwirtschaftlich strukturierte, auf neo-klassischen Theorien basierende freie Märkte fachlich nicht adäquat und hinsichtlich der vorhandenen Evidenzen überholt sind. „Angesichts asymmetrischer Informationsverteilungen, unvollständiger spezifizierter Verträge bei Vertrauens- und Glaubensgütern personenbezogener Dienstleistungen (in Abgrenzung zu sog. perfekten Erfahrungsgütermärkten mit Wiederholungskäufermechanismen) etc. ist ein erheblicher Regulierungsbedarf der Märkte notwendig“ (S. 38).
Eine weitere Verbindung zwischen dem organisational-institutionellem Raum der Sozialpolitik und dem (psychischen) Raum der Lebensführung des Menschen, der (zu) knappe Ressourcen zur Lebensbewältigung hat, ist der „professionshabituelle Raum“ (S. 40ff.), der mit seinen jeweiligen Eigenlogiken die Optimierung der Ergebnisqualität der Leistungsstrukturen erschweren kann: Paternalismus, Expertokratie, overprotection, Infantilisierung (ebda.). Hier gilt es zwischen Bedürfnisartikulation (des Klienten, des Nutzers) und der Bedarfsdefinition/-festsetzung der professionellen Expertise gleichgewichtige Aushandlungskulturen zu schaffen. Die perspektivische Aufzählung der Räume endet mit dem Hinweis auf die Verstrickungen organisatorischer und institutioneller Art, dem labyrinthischen [1] „Nebenraum“ der Beratungslandschaften, die sich gern im sozialen und sozialökonomischen Bereich „angesiedelt“ haben, und ein sich (neu) entwickelndes Heimatbedürfnis im Zeichen der Globalisierung.
Zu 2
Im nächsten größeren Abschnitt schließen sich Überlegungen zum unternehmerischen Raum der Sorge in Verbindung zum sozialen Wandel an (S. 58ff.). Hierzu bündelt der Autor Ernst Forsthoffs Begriff der Daseinsvorsorge mit den klassischen Überlegungen des Managements von Sozialunternehmen und betont nochmals die Sicherstellungsaufgabe im Raum zwischen der demokratischen politischen Sphäre öffentlicher Gewährleistungen und wettbewerbsordnungsrechtlicher Regime. „Auch eine privatwirtschaftliche Sicherstellung der öffentlichen Gewährleistungsaufgabe bleibt öffentlich gebunden, wird entsprechend – mit Blick auf das Marktdesign – reguliert und sollte im besten Fall dies auch als wirtschaftsethische Selbstbindung verstehen“ (S. 63).
Die Faktoren, die zum aktuellen sozialen Wandel führen, benennt der Autor insbesondere mit dem „Altern“ (S. 65f.), der „Schrumpfung“ (S. 66f.) und der „Qualifikation“ (S. 67ff.). Abschließend betont er die Notwendigkeit eines unternehmerischen Demographiemanagements (S. 69f.) im Rahmen von Führungsaufgaben in einer „multi-modalgemischten Wirtschaft“ (S. 70f.).
Diskussion
Der Autor verschränkt in dieser Abhandlung multi-modale Räume zwischen dem Alltag des Menschen, seiner ontologisch-anthropologisch abgeleiteten Sorge um sich und dem Mitmenschen, seinem Dasein, welche im Sozial- und im Oikos-Raum eingebettet und über Sozialpolitik und Sozialrecht institutionalisiert werden. Wie bereits oben ausgesagt, ist das Verständnis von Raum in dieser Abhandlung nicht weiter definiert. Wäre dies geschehen, dann hätte der Verfasser feststellen können, dass einige von ihm benannte Räume zueinander gehören und eigentlich miteinander fusioniert gehören. Sein grundsätzlicher Tenor in seinen Publikationen ist die disziplinarische und wissenschaftliche Erweiterung sozialpolitischer und sozialrechtlicher Gestaltung um die Humanities, um der fachlichen Komplexität der Daseinsfürsorge konzeptionell gerecht werden zu können.
Diese notwendige und fachlich richtige Erkenntnis wird allerdings in den allermeisten Fällen in gesundheits- und sozialwirtschaftlichen deutschen Curricula, die größtenteils in den 1990er und 2000er Jahren in Deutschland erstellt wurden, (noch) nicht lehrpraktisch stringent umgesetzt. Diese Studiengänge werden konventionell vom „Markt“-Denken her konzipiert. Hierbei wird eklatant übersehen, dass ein „Markt“, verstanden als ein spezifisches, preisorientiertes Allokationssystem, auf Grund seiner Strukturbedingungen historisch bis in die Gegenwart hinein niemals in der Lage war und ist, meritorische Güter, wie z.B. soziale Dienstleistungen, mit einer fachlich gerechtfertigten Güte hervorzubringen. „Die steuernden, anreizenden und zuordnenden (allokativen) Eigenschaften der Marktwirtschaft sind dergestalt, dass Bedürfnisse, die zu ihrer Befriedigung eher gesellschaftliche als individuelle Aktivitäten erfordern, nur mit Schwierigkeiten identifiziert, formuliert oder entwickelt werden können. […] Nicht einmal […] soziale [.] Kosten-Nutzen-Relationen [bei Entscheidungen in Marktkontexten] werden korrekt eingeschätzt, weil nämlich die externen Effekte falsch bewertet werden […]. Aus den Allokationen folgt eine Unterversorgung mit kollektiven, hingegen eine Überversorgung mit individuellen Gütern“. [2] Der ordnungspolitische und infrastrukturelle Umgang mit sozialer Not wird sich nicht mehr an den klassischen Alternativen Markt/Hierarchie oder Kooperation/Wettbewerb entscheiden, sondern das jeweilige Netzwerk wird entscheiden, mittels welcher Technologien, Organisationsformen und Personalkompetenzen öffentliche Aufgaben (sprich gesellschaftliche Funktionen) qualitativ gut und bedarfsorientiert erfüllt werden können. [3] Auf diese sozialpolitischen und sozialwirtschaftlichen Bezüge geht er stellenweise jedoch nur simplifizierend ein.
Fazit
Der Autor zeigt in diesem Buch sein eigenes Forschungsprogramm auf. Forschungsgegenstand ist hierbei stets die lebensweltorientierte und psychodynamisch angereicherte Kultur der Sorge und der Mitsorge, die zu berücksichtigende „Personalität des Menschen“ auf der Mikroebene und die „Idee der Partizipation am Gemeinwesen“ auf der lokalen/regionalen Mesoebene und auf der Makroebene die sozialpolitische und sozialrechtliche Bewirtschaftung von Versorgungslandschaften im Rahmen der „Gewährleistungsstaatsaufgabe“. Die Leserin/der Leser wird in dieser Abhandlung immer wieder überrascht sein, über mytho-poetische, theologische und psychodynamische Ausflüge mit der „Eule der Minerva“. Denn der Verfasser bringt seine breite geistes- und sozialwissenschaftliche Kompetenz multiperspektivisch in die schriftliche Darstellung hinein. Für die/den interessierte/n Leser_in, die noch keine geisteswissenschaftlichen Berührungspunkte gehabt haben, sind diese Skizzen in diesem kleinen Buch eine große Herausforderung, den Text und damit das Denken des Autors zu verstehen.
[1] Tatsächlich meint der Autor „Irrgarten“ statt „Labyrinth“. Beim Labyrinth gibt es einen vorgezeichneten Weg ins Innere und wieder hinaus; der Irrgarten kennt keine direkten und zielführenden Wege. „Gemeint ist vielmehr eine andere Variante der Mythe, wonach der Mensch sich verliert, verloren geht auf der Suche des rechten Wegs zum erwünschten Ziel“ (S. 47).
[2] Vgl. Albert, Michael (2014): Parecon. Leben nach dem Kapitalismus, in: Herzog, Lisa/Honneth, Axel (Hrsg.): Der Wert des Marktes. Ein ökonomisch-philosophischer Diskurs vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Suhrkamp: Berlin, S. 329-353. Siehe auch eine historische Analyse von ökonomischen Transaktionen in Polanyi, Karl (2014): Die Entbettung des Marktes. Aristoteles entdeckt die Volkswirtschaft, in: dito, S. 268-305.
[3] Vgl. Baecker, Dirk (2006): Wirtschaftssoziologie, transcript Verlag: Bielefeld, S. 128.
Rezension von
Prof. Dr. phil Alexander Th. Carey
M.A.
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Zitiervorschlag
Alexander Th. Carey. Rezension vom 03.04.2017 zu:
Frank Schulz-Nieswandt: Im alltäglichen Labyrinth der sozialpolitischen Ordnungsräume des personalen Erlebnisgeschehens. Eine Selbstbilanz der Forschungen über drei Dekaden. Duncker & Humblot GmbH
(Berlin) 2016.
ISBN 978-3-428-14913-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21343.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
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