Daniel Franz: Menschen mit geistiger Behinderung im Alter
Rezensiert von Prof. Dr. Erik Weber, 25.04.2017

Daniel Franz: Menschen mit geistiger Behinderung im Alter. Impulse zur inklusiven Weiterentwicklung der Dienste und Einrichtungen. Lebenshilfe-Verlag (Marburg) 2016. 48 Seiten. ISBN 978-3-88617-555-0. D: 9,00 EUR, A: 9,30 EUR.
Thema
Die Tatsache, dass sich eine Generation von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung im Prozess des Älter- und Altwerdens befindet, ist im Fachdiskurs keine Neuigkeit mehr. Diese erfreuliche Entwicklung geht jedoch, wie Alterungsprozesse der übrigen Bevölkerung, mit einer Reihe von Herausforderungen einher, einige davon durchaus spezifisch.
Daher kommt die Broschüre aus dem Lebenshilfe-Verlag von Daniel Franz zur rechten Zeit, bildet sie doch gewissermaßen „state of the art“ des gesamten Fachdiskurses ab und beschreibt notwendige Veränderungen.
Autor
Der Autor, Dr. Daniel Franz, hat sich bislang durch eine Reihe von Publikationen rund um die Thematik des Deinstitutionalisierens (siehe kurze Auswahl am Ende der Rezension) hervorgetan. Frühere Arbeiten umfassen aber auch bereits die Themengebiete Sozialraumorientierung und Hilfeplanung. Als Mitarbeiter von Frau Prof. Dr. Iris Beck (Universität Hamburg) hat er kürzlich den Ambulantisierungsprozess in der Hansestadt evaluiert (vgl. ebenfalls unten gemachte Literaturangabe).
Entstehungshintergrund
Auf dem Weg des Schließens vorhandener Forschungsdesiderata und der Gewinnung wichtiger Erkenntnisse im Kontext des Themas Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung im Alter, ist in den letzten Jahren ein erfreulicher Zuwachs zu konstatieren. Insbesondere die Studien und dokumentierten Forschungsprojekte am Standort Münster der katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen haben dazu beigetragen (und werden in der hier besprochenen Broschüre eingehend gewürdigt). Zwar weisen die vorhandenen Teilhabeberichte der Bundesregierung zu recht auf eine immer noch unbefriedigende Datenlage hin, jedoch liegen bezüglich wichtiger Zukunftsfragen gesicherte Erkenntnisse vor, die beispielsweise folgende Punkte ins Zentrum rücken:
- Besonderes Augenmerk bedarf der Schnittstelle zwischen Eingliederungshilfe- und Pflegeleistungen in diesem Kontext (insbesondere durch die Einführung des Bundesteilhabegesetzes, auf dessen Entstehung und Wirkung die Broschüre von Franz jedoch noch nicht eingehen konnte).
- Eine weitere sensible und bedeutsame Schnittstelle stellt der Übergang in den Ruhestand dar.
- Gemeinwesenorientierte Konzepte der Eingliederungshilfe sind noch unzureichend auf den Personenkreis von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung im Alter ausgerichtet.
Aufbau und Inhalt
Die 48 Seiten umfassende Broschüre von Daniel Franz beginnt mit einer dreiseitigen Zusammenfassung des Gesamtinhaltes. Hier wird bereits die Grobgliederung deutlich:
- Altern und sogenannte geistige Behinderung,
- Übergang in den Ruhestand,
- tagesstrukturierende Angebote,
- Wohnen und Wohnumfeld,
- Gesundheitsförderung und -erhaltung,
- Auseinandersetzung mit Sterben und Tod.
Nach der Zusammenfassung zu Beginn werden dann die o.g. sechs Themenbereiche in der oben beschriebenen Reihenfolge tiefgehender beleuchtet.
Nach dem einleitenden Kapitel Altern und Altersbilder, schiebt der Autor allerdings noch ein weiteres Thema als Querschnittsthema ein: Die Aspekte Personenzentrierung, soziale Netzwerke und Notwendigkeiten einer integrierten regionalen Versorgungsplanung werden gewinnbringend für die Gesamtdiskussion eingebracht und verweisen auch auf die Bedeutung des Untertitels der Broschüre, die den Anspruch erhebt, Impulse zur inklusiven Weiterentwicklung von Diensten und Einrichtungen der Eingliederungshilfe zu liefern.
In Folge des bereits erwähnten einleitenden Kapitels Altern und Altersbilder, in dem der Autor insbesondere den Aspekt der ‚Plastizität des Alters‘ in den Vordergrund rückt, enden die oben skizzierten Folgekapitel allesamt mit drei zentralen Fragen: Was ist zu tun? Welche Informationen müssen vorliegen? Wer sind geeignete Kooperationspartner(innen)?
Nicht alle o.g. Kapitel sollen hier näher beschrieben werden, jedoch ein weiterer Aspekt hervorgehoben werden, der sich im Kapitel zum Thema Tagesstruktur und Freizeit findet (S. 26f.): Hier wird ein sogenanntes „flexibles Rahmenmodell“ (26) vorgeschlagen, das sich insbesondere an einer Vielfalt von Angeboten im Sinne der „Unterstützung individueller Lebensstile“ (ebd.) orientiert und hierzu Gestaltungsvorschläge unterbreitet.
Diskussion
Der Broschüre in erster Linie zugute zu halten, dass ihr in zweierlei Hinsicht etwas Vorbildliches gelingt:
- Sie beschreibt einerseits sehr komprimiert, aber ohne Auslassungen, den Stand der Forschung und des Fachdiskurses. Hier muss man schon sehr weit suchen, bis man Ähnliches in ähnlicher Qualität findet.
- Darüber hinaus gelingt der Broschüre tatsächlich auch das, was sie im Untertitel verspricht: Es werden vielfältige Impulse zur inklusiven Weiterentwicklung von Diensten und Einrichtungen gegeben, die nun ihrer Umsetzung bedürfen! In fast jedem Kapitel werden real existierende Beispiel aus Praxisfeldern im Sinne guter Praxis beschrieben.
Zwar kann auch die vorliegende Broschüre die Schnittstelle zwischen Eingliederungshilfe- und Pflegeleistungen nicht dahingehend auflösen, dass hier konkrete Vorschläge, etwa zu konkreten Finanzierungsfragen, gemacht würden. Dies ist angesichts der derzeit sich neu gestaltenden Gesetzeslage auch kaum möglich. Aber im Kontext dieses wichtigen Schnittstellenthemas werden durchaus praxisorientierte Vorschläge unterbreitet, die der Autor fachlich herleitet und begründet.
Etwas überflüssig muten die Zitate aus bereits anderweitig vorliegenden Grundsatzpapieren der Lebenshilfe an, die einige Kapitel einleiten. Dies hätte die Broschüre bzw. die Lebenshilfe eigentlich gar nicht nötig, denn die Tatsache, dass diese Veröffentlichung innovative Wege beschreibt, die teilweise bereits beschritten werden, wird auch ohne den direkten Verweis auf die Lebenshilfe deutlich. Aber dies ist eine Marginalie in dieser sonst äußerst lesenswerten und vorbildlich zusammengetragenen Grundsatzbroschüre.
Die Broschüre kritisiert durchweg ein „anbieterdominantes Denken“ (15), das Innovationen im Kontext des Themas Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung im Alter derzeit noch oft blockiert, und sucht nach Alternativen. Daher hat nach Auffassung des Rezensenten insbesondere das Kapitel zu den Querschnittsthemen Personenzentrierung, soziale Netzwerke und integrierte regionale Versorgungsplanung erhebliches Innovationspotenzial, das von den Akteuren im Feld noch lange nicht ausgeschöpft ist.
Zielgruppe
Die Broschüre richtet sich nach eigenen Anmerkungen an „Leitungskräfte und Vorstände“ (13) der Dienste und Einrichtungen der Eingliederungshilfe. Zu ergänzen wäre aber nach Ansicht des Rezensenten unbedingt die Zielgruppe der Entscheidungsträger im Bereich der Leistungsträger – denn diese Akteure finden in der vorliegenden Broschüre sicher auch Anregungen, die sie zum Teil vielleicht noch nicht kennen.
Fazit
Dem oben beschriebenen positiven Gesamteindruck der Broschüre von Daniel Franz ist an dieser Stelle nichts hinzuzufügen, außer dem Wunsch, dass diese Veröffentlichung eine möglichst breite Resonanz, auch über die Einflussbereiche der Lebenshilfe hinaus (!) finden möge. Denn das beschriebene Thema und die damit einhergehenden Herausforderungen werden die Dienste und Einrichtungen der Eingliederungshilfe noch über Jahre beschäftigen und Weichenstellungen im Hinblick auf die Gestaltung eines inklusiven Gemeinwesens sind dazu bereits heute notwendig, wenn dieses Leitziel denn in einer erfolgreichen Umsetzung münden soll.
Weiterführende Literaturhinweise des Autors:
- Franz, Daniel (2016): Menschen mit geistiger Behinderung im Alter -Organisationsentwicklung für Einrichtungen und Dienste. Hrsg. durch den Bundesverband Lebenshilfe e. V. Marburg. Lebenshilfe Verlag.
- Franz, Daniel & Beck, Iris (2016): Normalisierung. In: Hedderich, I. et. al (Hrsg.): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn. Verlag Julius Klinkhardt. 102-107.
- Franz, Daniel & Beck, Iris (2015): Evaluation des Ambulantisierungsprogramms in Hamburg. Hamburg. Hrsg.: Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (AGfW) Hamburg e. V. Online verfügbar unter: http://agfw-hamburg.de.
- Franz, Daniel (2014): Anforderungen an MitarbeiterInnen in wohnbezogenen Diensten der Behindertenhilfe. In: Teilhabe – Die Fachzeitschrift der Lebenshilfe. 55 (2). 48-54.
- Franz, Daniel (2014): Anforderungen an MitarbeiterInnen in wohnbezogenen Diensten der Behindertenhilfe. Veränderungen des professionellen Handelns im Wandel von der institutionellen zur personalen Orientierung. Marburg. Lebenshilfe-Verlag.
Rezension von
Prof. Dr. Erik Weber
Diplom-Heilpädagoge, Professur Inklusive Bildungsprozesse bei geistiger und mehrfacher Behinderung
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