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Paul Sörensen: Entfremdung als Schlüsselbegriff einer kritischen Theorie der Politik

Rezensiert von Arnold Schmieder, 03.11.2016

Cover Paul Sörensen: Entfremdung als Schlüsselbegriff einer kritischen Theorie der Politik ISBN 978-3-8487-2535-9

Paul Sörensen: Entfremdung als Schlüsselbegriff einer kritischen Theorie der Politik. Eine Systematisierung im Ausgang von Karl Marx, Hannah Arendt und Cornelius Castoriadis. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2016. 478 Seiten. ISBN 978-3-8487-2535-9. D: 86,00 EUR, A: 88,50 EUR, CH: 119,00 sFr.

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Thema

Politikverdrossenheit bis -überdruss, ob in noch oder nicht mehr ‚gesellschaftsfähigen‘ Formen, gilt es zu verstehen und mehr noch theoretisch zu erklären, wozu Sörensen den Begriff der Entfremdung als eine „nicht-essentialistische Kategorie“ (Rosa) heranzieht, um sie für den Zweck einer kritischen Theorie der Politik als eben nicht nur ein Phänomen zu beschreiben, sondern als (wesentliche) Ursache zu entfalten. Entfremdung tritt laut Sörensen zur Seite der Erfahrung da umso deutlicher hervor, als der Prozess der Exklusion voranschreitet und sich der Zwang verfestigt, eine dennoch den herrschenden Verhältnissen konforme Identität aufzubauen oder nur zu präsentieren. Deutlich zeigt sich, dass man geringer werdenden bis keinen Einfluss auf die (Nah- und Fern-)Welt hat, somit kein Selbstbild möglich ist, in dem man sich über Anerkennung als Teil seiner sozialen Umgebung wahrnimmt. Im Umkehrschluss ist laut Sörensen nur durch kollektive Aneignung der ‚Welt‘, des Sozialen, Entfremdung zu überwinden, also politisch. „Qualitative Beheimatung“ (nicht fern dem Blochschen Begriff von Heimat), so seine Quintessenz, „kann nur mittels einer transformierenden Aneignung und Anverwandlung der geteilten Welt und der sie aufspannenden Institutionen und Strukturen erfolgen.“ (S. 422) In diesem Sinne kreist der Autor auch um den Begriff der Institution, um allfällige Naturalisierungen bis zu Sachzwangtheoremen einer Kritik zu unterziehen.

In seiner überarbeiteten Dissertation bezieht sich Sörensen nach Aufnahme des Entfremdungsbegriffs bei Marx vor allem und sehr ausführlich auf Hannah Arendt und Cornelius Castoriadis auch insoweit, als bei beiden der Entfremdungsbegriff zwar nicht explizit im Hinblick auf kritische Theorie der Politik theoretisch erörtert würde, jedoch beider Ansätze für seinen Argumentationsstrang fruchtbar zu machen seien, zumal im Hinblick auf Bewältigungsstrategien, die der Autor konturieren will. Das bietet sich darum an, weil beide „letztlich Entfremdungstheoretiker sind“, wie auch Hartmut Rosa (S. 13), Doktorvater des Verfassers, in seiner Einleitung betont, deren Titel gleichsam den Tenor der Arbeit anklingen lässt: „Die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zwingen: Demokratie als Resonanzsphäre“. (S. 11) So hebt er das Arendt- und das Castoriadis-Kapitel besonders hervor, da Sörensen hier seine „Ausgangsthese“ entfalte, „weil beide die Schließung des Politischen im skizzierten Sinne als Grundproblem der Politik begreifen und auf die (Wieder-)Aneignung oder Erschließung der Welt durch das gemeinsame politische Handeln abzielen.“ (S. 13 f.)

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in fünf Hauptkapitel gegliedert und gleich in der Einleitung verweist der Autor mit einem Horkheimer-Wort auf die generelle Problematik seines Gegenstandsbereiches: „Allgemeine Kriterien für die kritische Theorie als Ganzes gibt es nicht.“ (S. 20) Ganz „basal“ will der Verfasser aber mit Kammler einem „Verständnis politischer Wissenschaft als praktisch-kritische Wissenschaft von politisch-sozialer Herrschaft“ folgen (S. 21) und entsprechend im Anschluss an Held einem „Politikverständnis“, das er „als durch das Phänomen der Macht in all ihren Facetten gekennzeichnet“ sieht. (ebd., Anm. 5) Doch weist er „Weltaneignung“ als politischen Prozess aus und entziffert „Entfremdung und Institution“ gleich in der folgenden Kapitelüberschrift als Barrieren solcher Aneignung, um die eine kritische Theorie der Politik wesentlich zu kreisen habe. Institutionen begreift er als „objektivierte und normierende Handlungsverknüpfungen“ (Rehberg, zit. S. 75), auch nach seiner Lesart eine der „grundlegenden Annahmen von Karl Marx“, „die in einer Entfremdungsdiagnose und -kritik berücksichtig werden müssen, da sie in nicht zu vernachlässigender Weise zum Gelingen oder Scheitern individueller Lebensvollzüge beitragen können.“ (ebd.) Die Anleihe bei Gehlen, dem „Extremisten der Ordnung“ (Rehberg), findet sich hier gekappt: Der Ordnung, so Gehlen, in Institutionen repräsentiert, haben sich Menschen zu fügen und sie selbst ist der Kritik entzogen. Für den Verfasser ist es demgegenüber jedoch um eine Perspektive auf die Möglichkeit des Nicht-Scheiterns und wie sie eben nicht durch Fügsamkeit gewonnen werden kann zu tun, was in den Folgekapiteln ausgreifend entwickelt wird.

In den Kapiteln III. und IV. setzt sich Sörensen wesentlich unter Bezug auf Hannah Arendts von ihm so genannter Handlungstheorie, mit ihren Begriffen vom Sozialen und Politischen, Entfremdungserfahrungen, Institutionen und ‚Freiheit‘ auseinander, um auf ihren Analysen und Argumentationsfiguren Perspektiven der Bewältigung thematisch zu machen, wozu er auch Castoriadis heranzieht. Dessen Sozialphilosophie entnimmt er Vorstellungen von Politik und politischem Handeln, wobei er auch hier auf Entfremdung und Institution fokussiert, um schließlich Bewältigungsstrategien und vor allem die Aufgaben einer kritischen politischen Philosophie zu pointieren, die er in der das Kapitel beschließenden Zwischenüberschrift unter „Graben, Sprengen, Erschüttern“ fasst. (S. 404)

Bei Arendt entnimmt der Autor, „dass Entfremdungserfahrungen (…) unmittelbar mit Stillstellung bzw. Schließung des Politischen in Verbindung stehen. Das Leiden an Weltlosigkeit, das sich (…) in der Verhinderung des Über-sich-verfügen-Könnens und der Ausbildung einer kohärenten und narrativ integrierbaren Identität sowie vorenthaltener Anerkennung manifestiert, wird durch derartige Vorgänge bzw. Zustände zementiert und auf Dauer gestellt.“ Demgegenüber wäre für eine sich „in Umgestaltungsoffenheit“ ausdrückende „institutioneninhärente Reflexivität“ zu plädieren (S. 231), was laut Forst „Kombination mit einer diskursiven Öffentlichkeit“ supponiere, wo sich „Kritik nicht nur in Bezug auf verschiedene soziale Sphären äußern“ könne, sondern sich „auf die Bedingungen der politischen Rechtfertigung selbst“ bezöge. (zit. ebd.)

Bei Castoriadis sind die Überlegungen zu „Selbst- und Weltverhältnis“, zu Entfremdung, „hinsichtlich ihres Gelingens wie auch Scheiterns (…) stets unaufhebbar“ verwoben. (S. 334) Dies folgt seinem Begriff von Autonomie, die keine – menschliche, d.h. anthropologische – Gegebenheit ist, sondern „gesellschaftlich-geschichtliche Schöpfung“, so Castoriadis, „genauer gesagt als Schöpfung eines Entwurfs, der bereits teilweise realisiert ist.“ (zit. S. 262) Entfremdung ist als das Andere von Autonomie zu verstehen und somit ist von Entfremdung auch im Sinne von Rahel Jaeggi zu sprechen, „wenn der Anspruch auf Autonomie in irgendeiner Art und Weise in der sozialen Formation, der das entfremdete Subjekt entstammt, real und vorhanden ist (…). Entfremdung wäre dann (‚nur‘) eine Kategorie zur Beschreibung von Leidenserfahrungen in spezifischen historischen Konstellationen“, und wo in „sozialen Formationen“ diese Form der Autonomie nicht als „Leitidee“ vorhanden sei, sie „ihre Autonomie verleugnen“, wären sie als ‚heteronom‘ zu bezeichnen. (S. 262 f.) Aus der Sicht von Sörensen ist es dabei unter Anleihe bei Bauman angezeigt, Gesellschaften nicht als heteronome und autonome zu unterscheiden, „sondern in autonome an sich und autonome für sich“ (Bauman), was der Verfasser wie folgt aufgreift: „Der Unterschied besteht darin, dass die Selbstinstituierung der Gesellschaft – bzw. ihre Schöpfung – im zweiten Fall explizit und bewusst erfolgt. Meinem Vorschlag nach, sollte Entfremdung nur als ein Deutungsmuster für Gesellschaften zweiteren Typus verwendet werden.“ (S. 263, Anm. 275) Und diese ‚Selbsteinrichtung‘ der Gesellschaft besorgt ein „Subjekt“ (hier als pars pro toto und keineswegs bei Castoriadis auch nur in die Nähe des „automatischen Subjekts“ lt. Marx gedacht), das „beständige ‚Bewegung‘“ ist, es ist das, „was ‚sich macht‘ (…). Es besteht und entwickelt sich in und vermittels seines tätigen (und sprechenden) In-der-Welt-Seins. Nicht zuletzt durch das Reflexionspotenzial befeuert, besteht das Subjekt als sich in seinem Sein stets selbstbefragendes Projekt“ (S. 340), referiert der Autor und speist im Anschluss die „konstitutive Erfahrung intersubjektiver Anerkennung“ (S. 345) à la Honneth ein – alles tragende Säulen der wie definierten Autonomie. Wenn auch Castoriadis dem Marxismus und dem Sozialismus abgeschworen habe, scheine in seinem Begriff der Autonomie doch jener Marxsche Begriff von „wahrer Freiheit“ auf, womit bei Castoriadis „das zentrale normative Gegenstück der Entfremdung“ benannt sei“. (S. 377 f.) Unter dem Strich und im O-Ton Castoriadis heißt das in Bezug auf die Demokratie, „dass die Fragen nach Freiheit, Gerechtigkeit, Angemessenheit und Gleichheit im Rahmen des Gesellschaftlichen ‚Normalbetriebs‘ ständig neu gestellt werden können.“ (zit. S. 359) Dabei macht Sörensen darauf aufmerksam, dass Castoriadis und Arendt das gleiche Problem umtreibt, nämlich wie „bestmöglich gewährleistet werden“ könne, „dass Neuanfänge in das Gewordene nachströmen, es reaktualisieren, umformen und gegebenenfalls auch ‚zerstören‘? (…) Emphatisch ausgedrückt geht es mithin auch Castoriadis um nicht weniger als das Anliegen der Institutionalisierung der Revolution“, wobei jedoch seine „demokratietheoretische(n), institutionell-strukturelle(n) Schriften“ als Beitrag „zu einem solchen entdramatisierten Revolutionsverständnis“ zu verstehen seien. (S. 394 f.)

Im abschließenden Kapitel entfaltet der Verfasser, dass und warum Entfremdung als politisches Problem anzusehen ist und wie – eben politische – Bewältigungsstrategien aussehen könnten (bzw. müssten). Auch wenn „kein noch so ausgefeilter institutioneller Entwurf“ endgültige Sicherheit garantieren könne, „insofern eine jede Beschränkung stets nur Selbstbeschränkung ist. Wenngleich darüber zu reden stets geboten ist, so wäre es illusionär, sich von solchen Mechanismen eine definitive Garantie vor dem Rückfall in Barbarei zu erhoffen.“ Fatalismus sei nicht angezeigt und würde dem „Abenteuer der Demokratie“ nicht gerecht. Darum schließt er perspektivisch bei Arendt und Castoriadis und deren „Verweis auf Erziehung“ an, nämlich als „eine Möglichkeit des Umgangs mit dieser Herausforderung“ (S. 433), wobei er den „radikaldemokratische(n) Bürger“ im Auge hat – und dafür „radikaldemokratische Erziehung zum Gegenstand gesellschaftlichen und politiktheoretischen Interesses werden“ muss. (S. 442) Wenn auch „das Unheil der Entfremdung mit Adorno zwar ‚primär in den Verhältnissen und nicht in den Menschen‘“ liege, so dürfe „die Untersuchung (und das Projekt der Demokratisierung) dabei nicht haltmachen.“ Und da radikale Demokratisierung nur möglich sei, „wenn sie von den Menschen aktiv getragen und gelebt wird“, würde man in diesem Zuge „zwangsläufig mit dem Problem der Autorität konfrontiert“ und es gelte, sich nicht „aus Scheu vor der Autoritätsproblematik in Zurückhaltung zu üben“, was „keine Lösung“ sei. Zwar wäre eine „Konzeption radikaldemokratischer Erziehung“ noch auszuarbeiten, doch seien ihre „Eckpfeiler aufzuspannen: Aneignungswille, produktiver Nonkonformismus, Kontingenzbewusstsein, Konflikt- und Affektfähigkeit sowie eine Haltung der Offenheit gegenüber anderen wie auch sich selbst.“ Allerdings garantiere all das keine nicht-entfremdete Existenz. Doch aber könne es helfen, „die Welt und das Selbst nicht so zu nehmen, wie sie sind. Das heißt in diesem Falle einerseits, ‚weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen‘ (Adorno […])“, andererseits sei eben infolge der Einsicht in die „eigene Nichtidentität“ darauf zu verzichten, den anderen in Selbstidentität zu zwingen, was in des Autors Vokabular heiße: „in die Entfremdung“. (S. 436 f.) Für politische Theorie stehe daher die Aufgabe an, Angebote zur „Selbst- und Weltbeschreibung“ zu machen, worin sie „praktisch“ würde. Und in ihrer „analytisch-darstellenden bzw. diagnostisch-erschließenden Funktion“ würde sie einen Beitrag zur – so das folgende Marx-Zitat – „Selbstverständigung (…) der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche“ leisten. Die „öffnenden Eigenschaften von politischer Theorie“ könnten dabei um „die Pfeiler ‚Kritik‘ und ‚Utopie‘ gruppiert werden.“ (S. 438)

Diskussion

Assoziativ mag man ein älteres Register ziehen und an den Begriff der „Menschenwissenschaften“ (Elias) erinnern. Programmatisch fällt darunter der ‚analytische‘ Blick auf eine historische Struktur, bei Elias im Begriff einer der Geschichte zugrunde liegenden „Idee“ gefasst, was die Kultur einer Epoche meint, das so genannte herrschende „Meinungsklima“ (Toulmin), gemeinhin den Zeitgeist. Aufgabe des Forschers sei es, diesen Komplex von Strukturierungsprinzipien in seiner Wirkung auf das je historisch eingebundene Individuum zu analysieren. Elias ging es um die Reziprozität von Geschichte und Struktur und menschlicher Psyche. So gesehen möchte man die Arbeit von Sörensen solchem Menschenwissenschaften-Verständnis zuordnen und ihr zumal da Aufmerksamkeit zollen, wo sie sich vom Mainstream sozial- und politikwissenschaftlicher Felder in Forschung und Lehre abhebt, soweit er aus neueren Publikationen und kursorischer Kenntnisnahme dessen kenntlich wird, was aus Studienverlaufsplänen entsprechender Disziplinen an deutschen Universitäten zu ersehen ist. So trägt seine Arbeit vor allem als Diskussionsgrundlage dem zu, worauf der Verfasser am Schluss (u.a.) mit Verve insistiert: Bildung.

Da stellt sich die Frage nach dem Zweck von Bildung und somit nach ihren Inhalten. Vielleicht deprimierend, letzten Endes aber nur folgerichtig die ‚Beschreibung‘ von Frank Fear, der annimmt, „dass mittlerweile der Neoliberalismus auch zur vorherrschenden Ethik im amerikanischen Hochschulwesen geworden ist.“ Dass eine dominierende wettbewerbsorientierte Einstellung auch die unternehmerische Hochschule hierzulande kennzeichnet, schwankt zwischen befürwortenden und kritischen Einschätzungen und findet sich insbesondere zur Seite der Anpassung bei jenen Studierenden hauptsächlich der Geisteswissenschaften wieder, die sich über unbequeme und wenig praxistaugliche Studieninhalte beklagen. Diesen kaum verborgenen, vorherrschenden Zweck von Bildung meint Sörensen explizit nicht und kann ihn nicht meinen, weil er quer zu dem steht, was für „Überwindung von Entfremdung“ erheischt ist, nämlich „radikaldemokratische Erziehung“ (S. 442) – und nicht nur qua Inhalten an Hochschulen. Da es dabei um Menschenwürde und Bildung zugleich geht (und dies schon bei Kant mit Blick auf das Sittengesetz und die Erfüllung der Pflicht), braucht es den ‚erzogenen Erzieher‘ im Sinne Kants, der in seinen „Plänen“ zur „Erziehungskunst“ vor Augen haben soll: „Kinder sollen nicht nur dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglichen besseren Zustand des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen erzogen werden.“ (Kant) Es scheint, dass Sörensens Desiderate gegenüber Bildungsinhalten für den Zweck radikaldemokratischer Grundhaltung dem so fern nicht stehen.

Generell sattelt Sörensen auf einer Diskussion auf, wo es um ‚Demokratie leben‘ wie bei Ginsborg geht, der entlang einem fiktiven Gespräch zwischen Marx und Mill dann doch mit ernsthaftem Nachdruck zeigt, wie bitter nötig im Hinblick auf die so genannte Zivilgesellschaft und den Staat alle Demokratien reformiert gehören. Im Hinblick auf den „sozialkulturellen Entwicklungsgrad“ und seiner Einschätzung dürfte der Autor dem Historiker Cipolla nicht fern stehen, der meinte, dass sein „Urteil von der Qualität der Schulen abhängt, die den Grad der Freiheit des Denkens, der Information und Lehre impliziert“. Mit ‚Freiheit‘ kann nicht die bürgerliche gemeint sein, denn die wäre nach Hannah Arendt nur die, „ein Monopolkapitalist zu werden, und wer will das schon?“ (zit. S. 238, Anm. 242) Vielleicht nicht Monopolkapitalist, denn wer kann das schon – doch ist der Begriff von ‚Freiheit‘ zumal im so genannten Neoliberalismus als aktuelle Stütze des Kapitalismus so kontextualisiert. „Radikaldemokratisierung“ (S. 442) bedeutet dann auch, dies über und dank einer Erziehung zu einer ‚Bildung‘ zu erkennen, die stückweise ausgemustert weil nicht verwertbar ist, und dies nicht einmal im Sinne einer auf Integration angelegten Harmonisierung von Widersprüchen – und sich als doch noch möglicher Gegenpart auch nicht mit der Klage über entfremdetes Leben bescheiden darf, das nach derzeit historisch Möglichem über radikaldemokratische Reklamation ‚weniger entfremdet‘ zu gestalten wäre.

Dass Sörensen den nicht nur in der jüngeren Vergangenheit ausgewalzten Entfremdungsbegriff so prominent als Schlüsselbegriff für eine wie von ihm avisierte kritische Theorie der Politik aufnimmt, dass er damit in gleichsam ‚praktischer Absicht‘ operiert (was ggf. Inhalt seiner Gespräche am „WG-Küchentisch“ war, die ihm „über den „Gegenstand [seiner] Arbeit jenseits der Theorie nachzudenken“ halfen [S. 478]), enthebt ihn zum einen nicht der Frage, warum Marx diesen Begriff aus den Frühschriften im ‚Kapital‘ zwar nicht aufgegeben, aber durch den Begriff der Verdinglichung scheint´s ‚präzisiert‘ hat, zum anderen einer problematisierenden Reflexion, wie sie bei Adorno in der ‚Negativen Dialektik‘ aufzunehmen geboten scheint: Kreisend um „Dinghaftigkeit“ betont er dort, dass trotz „des Vorrangs des Objekts (…) die Dinghaftigkeit der Welt auch Schein“ ist und „der Fetischcharakter der Ware (…) nicht subjektiv-irrendem Bewußtsein angekreidet“ ist, „sondern aus dem gesellschaftlichen Apriori objektiv deduziert, dem Tauschvorgang“, der „notwendig falsches Bewußtsein“ schaffe. Und Adorno kritisiert, „Verdinglichung“ sei selbst „die Reflexionsform der falschen Objektivität; die Theorie um sie, eine Gestalt des Bewußtseins, zu zentrieren, macht dem herrschenden Bewußtsein und dem kollektiven Unbewußten die kritische Theorie akzeptabel. Dem verdanken die frühen Schriften von Marx, im Gegensatz zum ‚Kapital‘, ihre gegenwärtige Beliebtheit“. Und mehr noch möchte man Sörensen die Folgesätze zu bedenken geben: „Worunter die Menschen leiden, darüber gleitet mittlerweile das Lamento über Verdinglichung eher hinweg, als es zu denunzieren. Das Unheil liegt in den Verhältnissen, welche die Menschen zur Ohnmacht und Apathie verdammen und doch von ihnen zu ändern wären; nicht primär in den Menschen und der Weise, wie die Verhältnisse ihnen erscheinen. Gegenüber der Möglichkeit der totalen Katastrophe ist Verdinglichung ein Epiphänomen; vollends die mit ihr verkoppelte Entfremdung, der subjektive Bewußtseinsstand, der ihr entspricht.“ Von hier aus (was dem Autor bekannt ist [vgl. u.a. S. 18] und wo er meint, „nicht haltmachen“ zu dürfen und auf das „Problem der Autorität“ zu sprechen kommt [S. 436]) hätte Sörensen unschwer darauf kommen und in seinen Theorieentwurf substantiierend Eingang finden können (allerdings sein Liebäugeln mit Castoriadis kritischer relativiert), was point de vue der ‚Sichtachse‘ radikaldemokratischen Bewusstsein sein sollte – nämlich die Strukturierungsprinzipien noch vor der Ebene von Elias in der Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft auszumachen, einer Ökonomie, die nach ihren Kerngehalten anhält. Den von ihm reklamierten „radikaldemokratische(n) Habitus“ (S. 437) siedelt er jedoch auf der Ebene einer auf Dauer zu stellenden Taktik an, womit der neuralgische Punkt zum Skotom wird. Zudem hätte er auch eine andere Sicht auf das „Problem der Autorität“ eröffnen können – um es mit einem Wort des Soziologen Merton (über die „Verteilung von Macht und Autorität“ im ‚Rollen-Set‘) verallgemeinernd zu verdeutlichen: „Mit Autorität ist die kulturell legitimierte Organisation der Macht gemeint.“

Jene „Revolution in Permanenz“, so Marx an den Bund der Kommunisten, von Luxemburg und Mehring der Sozialdemokratie als Leitbegriff angedient, ist bei Sörensen um das ausgedünnt, was Trotzki mit diesem Begriff als Verbindung von revolutionsstrategischen und politischen Aspekten fassen und dabei vor allem auf dem Hintergrund der Abfolge sozioökonomischer Transformationen verstanden wissen wollte. Dass sie „sich verdinglichen“, Sörensen nennt „beherrschende und nicht-responsive soziale, politische und kulturelle Institutionen und Strukturen (…), die sich ihrer Transformierbarkeit entziehen“, soll „im Ausgang von individuellen Leidenserfahrungen die überindividuellen Rahmungen in den Blick nehmen“ lassen, um sie zumal ihres „behindernden Charakters“ zu befragen. (S. 441) Das wäre der eine Pfeiler, den Sörensen einschlagen will, nämlich Kritik, und der andere Pfeiler, die Utopie, ist (im Grunde) immer schon da, wo Menschen erkennen, dass etwas so, wie es ist, ihnen nicht frommt und so nicht sein müsste. Dagegen aber ist ‚Verdinglichung‘ ein Bollwerk und auch das, was bei Horkheimer und Adorno als Totalisierungszusammenhang ausgewiesen ist. Entfremdung als Erfahrung und übersetzt in Kritik initiiert (ggf.) Analyse der tatsächlichen Ursachen und ist (ggf.) Nährboden des Utopischen; so nicht von kritischer Theorie und nicht nur der Politik affiziert, mag ein solches eingeengt Utopisches nach ‚barbarischen‘ Auswegen und emanzipatorischen Umwegen nach Maßgabe eines „entdramatisierten Revolutionsverständnisses“ (S. 359) schielen und dies sogar mit radikalem und sich demokratisch gebendem Gestus reklamieren. Eine sich an den Revolutionsbegriff anlehnende radikale Demokratie in Permanenz übersieht bis exiliert, worauf Bobbio in seinen Überlegungen zur Ethik und Zukunft des Politischen längstens hingewiesen hat, dass es in einer unübersichtlicher werdenden „Kritik im Handgemenge“ (Marx) – wo ohne herabwürdigenden Zungenschlag Sörensens Schrift angesiedelt zu sein scheint – vor allem darum geht, Moral nicht mit Politik und gute Gründe nicht mit Macht zu verwechseln, auch der Macht einer Mehrheit nicht, auch da nicht, wäre hinzuzufügen, wo sie in ihrer bloß radikaldemokratischen Permanenz nicht das Problem an der Wurzel fasst, was Entfremdung als Phänomen hat erscheinen lassen. Auch wenn Sörensen davon ausgeht, auf der Folie von Marx´ ‚Entfremdungstheorie‘ „eine sozialhistorische Denkfigur mit eminent politischer Bedeutung freizulegen“ (S. 51), sollte er sich der Wurzeln, die Marx in seinem Werk ‚freilegt‘, vergewissern, wie sie im Gedanken einer „Revolution in Permanenz“ Angelpunkt waren. Und wenn der Autor meint, selbst das Radikaldemokratische sei keine Garantie gegen ein Abrutschen in Barbarei, darf man ihn (und nicht nur am WG-Küchentisch) fragen, wie er denn die Folgen des Kapitalismus, langsam auch ökonomisch und sozial wie psychosozial in den Metropolen spürbar, bezeichnen will: zunehmende Armut, Hunger und Not, Ausbeutung und dies auch mit den Mitteln des Krieges. Sicherlich wird eine „fatalistische Haltung“, „gefährlich und verlockend“ zugleich, „dem Abenteuer der Demokratie (…) nicht gerecht“ (S. 433); dem kann man nur zustimmen und daran mit Wallat u.a. Fragen um Subversion und Gewalt und Moral anschließen, vor allem für eine ‚Öffnung des Politischen‘, mit der die „versteinerten Verhältnisse zum Tanzen“ gezwungen werden (Marx), nicht nur um einem „Rückfall in Barbarei“ (Sörensen) abzuwehren, sondern dem sehr real ‚Barbarischen‘ Einhalt zu gebieten.

Hartmut Rosa kommt in seinem Vorwort darauf zu sprechen, „dass entfremdende Verhältnisse aus einer Schließung des Poltischen entstehen“, was „ebenso plausibel wie relevant in einer spätmodernen Welt“ sei, „in der die Gestaltungsmacht der Politik angesichts ökonomischer Sachzwänge immer mehr zu schwinden scheint.“ Als Frage möchte man anschließen, ob es nur so scheint und wenn es nicht nur so scheint, ist die alte Frage um Staat und Politik neu eröffnet. Rosa fährt fort: „Die vorgeschlagene Lösung einer nur demokratisch zu bewerkstelligenden ‚dynamischen Stabilisierung‘ schließlich vermag ebenfalls zu überzeugen“ – und da möchte man fragen, ob es als ‚Lernschritt‘ und dann in welche Richtung gemeint ist. Und Rosas moderat gehaltener Vorbehalt, „- wenngleich es vielleicht schwer fällt zu sehen, wie sie sich unter den gegebenen Umständen realisieren ließe“, ist von Gewicht, als damit Anschlussdiskussion reklamiert wird – auch bezüglich der Frage, „wie sich in Sörensens Konzeption Demokratie und Kapitalismus zueinander verhalten“ (S. 15) und darüber hinaus im Sinne mehr einer überfälligen Revitalisierung denn Erneuerung der Kapitalismuskritik unter der Aufforderung: „Wider die Unsichtbarmachung einer ‚Schicksalsmacht‘.“ (Rosa)

Fazit

Die Arbeit von Paul Sörensen empfiehlt sich im Sinne einer solchen ‚Sichtbarmachung‘ als ‚Entfremdungsdiagnose‘, die der Verfasser auf individueller wie kollektiver Ebene beschreibt. Diese rechtfertigt er als ‚Schlüsselkategorie‘, wo er sich im Rahmen der Einleitung mit Weltaneignung als politischem Prozess auseinandersetzt. Wenn er auch hier wie in Bezug auf die gesamte Arbeit auf vorgängige eigenen Publikationen zurückgreifen kann, besticht seine Argumentation durch sehr breite interdisziplinäre Anleihen, was die gesamte Arbeit auszeichnet, insoweit vor allem seine Thesen außerordentlich materialreich unterfüttert sind. Mit den Theorien, die er vorstellt und auf denen er seine schlussendliche Argumentation aufbaut, ist er profund vertraut und vermag von dort aus Entfremdung eben als Schlüsselbegriff einer kritischen Theorie der Politik auszuweisen. Sörensen nimmt eine kritische Position ein, die wiederum zu Kritik provoziert, als Entfremdung als „subjektive(r) Bewußtseinsstand“ (s.o., Adorno) radikaldemokratisch so zu wenden ist, dass es nicht bloß ‚anders falsches Bewusstsein‘ ist, dem so nicht sichtbar wird, was Ursachen von ‚Barbarei‘ und drohender ‚totaler Katastrophe‘ sind. Sich in der Weise kritisch auseinanderzusetzen, befruchtet den Diskurs all jener, die nicht nur Studierende mit ‚anderen‘ Bildungsambitionen sind (etwa solchen in Erinnerung an Vorformulierungen bei Kant), die sich also „nicht dumm machen lassen“ wollen durch herrschende Engführung vorgeblicher Bildungsinhalte, sondern in weitestem Sinne an Bildung für den Zweck tatsächlicher Demokratisierung interessiert sind und den Gedanken, dass es nicht nur ganz anders möglich, sondern dringend geboten ist, nicht fallen lassen wollen.

Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 03.11.2016 zu: Paul Sörensen: Entfremdung als Schlüsselbegriff einer kritischen Theorie der Politik. Eine Systematisierung im Ausgang von Karl Marx, Hannah Arendt und Cornelius Castoriadis. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2016. ISBN 978-3-8487-2535-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21366.php, Datum des Zugriffs 08.06.2023.


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