Robert Lucas Sanatanas: Obdachlos. Porträts vom Leben auf der Straße
Rezensiert von Daniel Niebauer, 09.12.2016
Robert Lucas Sanatanas: Obdachlos. Porträts vom Leben auf der Straße. Verlag Herder GmbH (Freiburg, Basel, Wien) 2016. 207 Seiten. ISBN 978-3-451-31327-1. D: 24,99 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 32,50 sFr.
Thema
Heutzutage muss niemand in Deutschland auf der Straße leben. Dies ist eine häufig anzutreffende Aussage, die zugleich jede weitere ernsthafte Auseinandersetzung mit obdachlosen Menschen weitgehend unterbindet. Doch warum gibt es Menschen, die ein Leben ohne Obdach führen? Tun sie dies freiwillig oder erzwungenermaßen? Robert Lucas Sanatanas trifft „Obdachlose, Berber und Penner, Diebe, Arbeitssklaven und Betrüger, Sektenmitglieder, Schmuggler und Dealer“ (S.9). Dabei gewähren uns diese Menschen Einblicke in ihre Lebensentwürfe auf der Straße und lassen erahnen, welche unterschiedlichen Motive es hierfür geben kann.
Autor
Robert Lucas Sanatanas – selbst zeitweise obdachlos – lebt als Autor und Literaturveranstalter in Berlin.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich in 28 Kapitel, wobei das erste und letzte Kapitel als einleitender bzw. abschließender Kommentar des Autors zu verstehen ist. Dazwischen gestatten 26 Kapitel, die jeweils einen Umfang zwischen 3 und 13 Seiten haben, unterschiedliche Einblicke in das Leben wohnungsloser Menschen bzw. „einen Blick an die Ränder unserer Gesellschaft“.
Unmittelbar zu Beginn des Buches (S.10-11) stellt Sanatanas klar, dass es sich weder um ein Sachbuch, noch um eine abstrakte wissenschaftliche Auseinandersetzung handelt. Es ist auch kein journalistischer Versuch, mal eben in die Rolle wohnungsloser Menschen zu schlüpfen. Vielmehr erzählt der Autor seine eigenen Erfahrungen langjähriger Wohnungslosigkeit und vor allem aber von seinen Begegnungen mit anderen wohnungslosen Menschen. Anstatt wie so häufig über diese Menschen zu sprechen, kommen sie selbst zu Wort, indem ihnen möglichst viel Raum für originale Zitate gegeben wird. Dabei zeigt sich jedoch nicht nur das „Drinnen“ und „Draußen“ dieser Personen, sondern auch das „Drinnen“ und „Draußen“ in Bezug auf unsere Gesellschaft.
In 26 Kapiteln werden weit über 20 Menschen porträtiert, mal in wenigen Sätzen, mal auf mehreren Seiten. Sanatanas begegnet unterschiedlichen Personen in verschiedenen Kontexten, die hier nur vereinzelt angedeutet werden können.
- So begleitet er beispielsweise Karsten M. (S.29) alias Dark Vader auf dessen Diebeszug von Brieftaschen bis Laptops.
- Oder Manfred T. (S.38) alias Petrus, der sich in einer Straße eingerichtet hat, vom Gemüsehändler und Bäcker Verpflegung erhält und dank eines Arrangements mit Vermieter und Bewohnerschaft in einem Dachboden die Nächte verbringt.
- Monique C. lebt hingegen in einer virtuellen Parallelwelt in einem eigens ausgebauten Pferdestall, in dem es außer einer angezapften Internetverbindung kaum etwas gibt.
- Eine schmerzhafte Vergangenheit ist besonders bei Yelly (S.105) spürbar, die nur noch auf ihre Filzpuppen in ihrem Flechtkorb als verlässliche Freunde vertrauen kann.
- Tim (S.151) schläft nachts in einem Keller und verschafft sich tagsüber Zutritt zu Tagungen und Konferenzen, bei denen er Essen, Give-aways oder Tüten mit Prospektmaterial erbeuten kann.
- Mit Karl G. (S.91), der wie einige weitere Personen des Buches Stimmen hört, sieht Sanatanas einen Science-Fiction-Film im Kino an, mit anderen trifft er sich in Cafés oder an öffentlichen Plätzen.
Im letzten Kapitel wendet sich der Autor seiner persönlichen Geschichte und seinem Weg von „Draußen“ nach „Drinnen“ zu. Dabei berichtet er weder von einer Erfolgsgeschichte noch von den ausschlaggebenden Beweggründen, sondern kommt letztlich zu dem einfachen Schluss: „Es war nötig.“
Diskussion
Das Buch ist sowohl fesselnd und mitreißend, als auch stellenweise irritierend und mehrdeutig. Es lohnt daher sehr, einige Passagen öfter zu lesen, da die situativ eingefangenen Begegnungen zum Teil mit eigenen Erfahrungsberichten sowie gesellschaftspolitischen und philosophischen Kommentaren des Autors verschwimmen. Aber gerade dies kennzeichnet die Stärke des Buches. So wirken einerseits die dargestellten Personen unmittelbar und in mannigfaltiger Art und Weise auf den Rezensent: mal ergreifend und berührend, mal liebevoll und witzig, mal beängstigend und verstörend. Andererseits schafft Sanatanas aber auch mit seinen eigenen Erfahrungen und Anmerkungen einen Rahmen um die einzelnen Personen, der über die dargestellten Menschen hinaus zum nachdenken auffordert.
Die geschilderten Begegnungen wirken stets authentisch, einfühlsam und respektvoll, ohne dabei zu beschönigen oder moralisch zu verurteilen. Dadurch wird deutlich, wie vielseitig wohnungslose Menschen und ihre Sichtweisen auf das Leben und ihre Umwelt sein können.
Wie eingangs erwähnt, ist das Buch nicht als wissenschaftliche Abhandlung zu verstehen, sodass eine rein wissenschaftliche Kritik und Leseart nicht zielführend wäre. Vielmehr stellt sich die Frage, wie die Perspektive dieses Buches auf Obdachlosigkeit auch konstruktiv für Wissenschaft und Praxis im Feld der Wohnungslosenhilfe wirken kann. Ist die Zielgruppenorientierung einer der obersten Maxime professionellen Handelns, dann ist das Buch ein Plädoyer für einen sensiblen und differenzierten Umgang mit der Heterogenität wohnungsloser Menschen. Neben wissenschaftlichen Klassifikationen und Statistiken bedarf es einer kontinuierlichen kritischen Selbstreflexion, um sich der subjektiven Vielfalt von Wohnungslosigkeit, ja vielmehr der Heterogenität aller Menschen in unserer Gesellschaft bewusst zu werden.
Fazit
„Obdachlos – Porträts vom Leben auf der Straße“ von Robert Lucas Sanatanas sei all jenen ans Herz gelegt, die an einer sensiblen und vielfältigen Auseinandersetzung mit dem Thema Obdachlosigkeit interessiert sind. Insbesondere ist das Buch auch Studierenden, Praktiker_innen und Wissenschaftler_innen im Feld der Wohnungslosenhilfe zu empfehlen, da es eine bedeutsame Perspektive und einen anderen Zugang als üblich zur Zielgruppenorientierung – also der tatsächlichen Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen und Lebenslagen wohnungsloser Menschen – beitragen kann.
Rezension von
Daniel Niebauer
M.A.
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Fakultät für Soziale Arbeit
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
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Es gibt 1 Rezension von Daniel Niebauer.
Zitiervorschlag
Daniel Niebauer. Rezension vom 09.12.2016 zu:
Robert Lucas Sanatanas: Obdachlos. Porträts vom Leben auf der Straße. Verlag Herder GmbH
(Freiburg, Basel, Wien) 2016.
ISBN 978-3-451-31327-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21374.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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