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Mithu M. Sanyal: Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens

Rezensiert von Prof. Dr. Richard Utz, 13.07.2017

Cover Mithu M. Sanyal: Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens ISBN 978-3-96054-023-6

Mithu M. Sanyal: Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens. Edition Nautilus Verlag (Hamburg) 2016. 224 Seiten. ISBN 978-3-96054-023-6. D: 16,00 EUR, A: 16,50 EUR.

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Thema und Zielsetzung

Ziel des Buches ist es, „Narrative … und Verbindungslinien sichtbar zu machen“ (8), die die gesellschaftliche Rede über Vergewaltigung geprägt haben und bis auf den heutigen Tag prägen. Die leitende Intention der Autorin ist es, den Lesern ein „befreiendes Leseerlebnis“ zu ermöglichen, das zu einer „Wiederaneignung: von Denk- und Handlungsoptionen“ im Kontext des Redens und Denkens über Vergewaltigung in der Öffentlichkeit führen kann. (8)

In historischer Perspektive beschreibt die Autorin die Frauen- und Männerbilder, die in der Rede und den Argumenten des Sexualstrafrechtes, der es exekutierenden Richtermänner und der diagnostizierenden Psychopathologen-Männer enthalten sind.

Aufbau und Inhalt

Die Autorin beginnt mit der Dekonstruktion des seit der Antike herrschenden Klischees von den heißen Männern und den kalten Frauen, das in den soziobiologischen Erzählungen der aktiven Männchen und passiven Weibchen weiterlebt, in der die aggressiven Phallokraten die widerspenstigen Amazonen überwinden und diese von jenen überwunden werden wollen. Ein bekanntes Beispiel für das Überdauern dieses Klischees ist die bekannte Studie von Thornhill und Palmer aus dem Jahre 2000, in der es die Autoren so erwartbar wie trivial als Mythos vom genetisch getriebenen Vergewaltigungsmann in ihrer „Natural History of Rape“ naturalistisch verewigen und zur evolutionsbiologischen Gattungskonstanten erheben.

Aber nicht nur in der Soziobiologie sondern auch auf die Bestseller-Listen und an die Spitze der Film-Charts schaffen es die Klischees des sexuellen Begehrens à la Shades of Grey sich zu verstetigen, in denen sich das angeblich in den tiefsten Tiefen schlummernde Uraltgelüst nach Dominieren und Dominiertwerden immer wieder profitabel vermarkten lässt. Sex sells, nicht weil sie in die Gene, sondern in die kulturellen Skripte eingeschrieben ist, die sie der Genetik zuschreiben.

Die Autorin verfolgt diese immer wieder aufs Neue aufgelegten Versionen des Bildes von den passiven Frauen und aktiven Männern, indem sie z.B. zeigt, welche unterschiedliche Rolle Vergewaltigung und die Beschädigung sexueller Integrität und Selbstbestimmung für Mann und Frau spielen, wenn sie vom Standpunkt der Ehre und Würde der Person aus betrachtet werden. So wird die Ehre von Männern immer an ihre öffentliche Reputation und die von Frauen ganz direkt an ihren Körper gebunden. Das hat für Frauen die Konsequenz, dass Vergewaltigung der Frau als fundamentale Beschädigung gewertet wird, die ganz unvermeidlich zum sozialen Tod führen muss, während die entehrten Ehrenmänner sich immerhin zwar ehrlos aber nicht leblos in die Anonymität des Privatlebens zurückziehen konnten.

Ein weiteres Klischee, das die Autorin behandelt, ist das Dampfkesselmodell der männlichen Sexualität, wie es Konrad Lorenz als hydraulisches Instinkt-Modell ethologisch seit den 30er Jahren etablierte. Bleibt der Sexualtrieb längere Zeit unerfüllt, staut sich sexuelle Triebenergie auf und drängt nach Abfuhr, sobald geringfügige Schlüsselreize in die Wahrnehmung kommen. Diese längst widerlegte Denkfigur leuchtete in Bezug auf die männliche Sexualität schon dem bürgerlichen Zeitalter des 18ten und 19ten Jahrhunderts ein, mit dem es sich die männliche Vergewaltigung als Überschussreaktion einer schlecht kanalisierten Männersexualität erklärte.

Erst im letzten Drittel des 20ten Jahrhunderts kamen an diesem und anderen Klischees massive Zweifel auf. Seit den 70er Jahren setzte die Amerikanische Anti-Rape-Bewegung die Rape-Mythen auf den Index und räumte mit den Vorstellungen auf, dass Vergewaltigungen von der männlichen Seite her biologisch fundierte und daher subjektlose Optimierungsmechanismen darstellten und von weiblicher Seite hauptsächlich hysterische Fantastereien oder gezielte Strategien weiblicher Racheengel seien.

Doch Vergewaltigung ist kein Sex, Männer sind auch Handlungssubjekte und können sich beherrschen, Frauen sind keine Flittchen und Frauen wünschen sich nicht, vom starken Mann in dunklen Straßen vergewaltigt zu werden, wo ihr Unbewusstes sie angeblich daran hindert, die Straßenseite zu wechseln, um zum Opfer werden zu können. „Nein heißt Nein“ und nicht „Ja“. In der Lesart der Frauenbewegung manifestiert sich in den Vergewaltigungsdikursen der Zeit vor den 1970er Jahren ein Geschlechterkampf, in dem die Täter wuterfüllt das Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihren Körper bestreiten und es mittels phallischer Gewalt zu brechen versuchen. Alles in allem bewegte sich dieser Diskurs, so Sanyal, noch ganz im Täter-Opfer-Paradigma, der letztlich trotz aller emanzipatorischen Bewegtheit bestehende Geschlechterstereotype eher reproduzierte als depotenzierte. Tatsächlich aber mussten und müssen die Rechte der Frauen gegen Vergewaltigung unmissverständlich gestärkt werden, um auf diese Weise jeglicher Vergewaltigung noch die dünnste Decke für Rechtfertigungskapriolen welcher juristischen Art auch immer zu entziehen.

Ein letztes und aktuell stark wirksames Kapitel der Vergewaltigungsdiskurse ist rassistisch geprägt. Nachdem die Aufklärung des weißen Mannes auch den weißen Mann als Vergewaltiger in den blinden Winkel der Diskurse über Vergewaltigung geschoben hat, kehrt er als schwarzer Vergewaltigermann im Othering wieder. Es sind jetzt nicht einfach mehr „die“ Männer, sondern die Anderen, d.h. die arabisch und nordafrikanisch aussehenden Männer orientalischer und islamischer Provenienz, denen in der öffentlichen Verständigung über Vergewaltigung schnell die Rolle der Vergewaltiger zugeschrieben wird.

In der Gegenwart oszilliert der Vergewaltigungsdiskurs schließlich auf einem Kontinuum zwischen kollektivistischer und individualistischer Interpretation. Entweder sind die Vergewaltiger die Anderen als Angehörige anderer Ethnizität, Kulturen und Religionen und damit Teil eines frauenverachtenden Kollektivs, das den Frauen das Selbstbestimmungsrecht über die eigene Sexualität kraft Tradition und Sittengesetz vorenthalte; oder die Vergewaltiger sind die psychopathologisch überzeichneten Triebtäter, die als missratene Individuen letztlich nicht mehr verantwortlich zu machen sind, da sie die Verfügungskontrolle über das eigene Begehren verloren haben. Beide Male bleiben der je spezielle Kontext außer Betracht und die in ihm wirksamen Selbstverständlichkeiten, die die eigenen Interessen an einem makellosen Kollektivcharisma kaschieren, das sich immer auf Kosten und im Kontrast zum Kollektivstigma der Anderen produziert, wie etwa auch die Ereignisse der Kölner Silvesternacht zeigen.

Fazit

Die Autorin schickt ihrer als Flugschrift deklarierten Studie über den Diskurs der Vergewaltigung eine „Triggerwarnung“ voraus: „Achtung, dies ist ein Buch über Vergewaltigung. Es gibt darin zwar keine drastischen Beschreibungen von brutalen Details, allerdings werden Vergewaltigung und sexualisierte Gewalt und die dahinterstehenden Konzepte eingehend diskutiert.“ (7) Dieses Vorhaben ist der Autorin in ihrer informationsreichen Studie über die Diskurse und Narrative der Vergewaltigung vollauf geglückt. Sie hat das schwierige Kunststück vollbracht, über ein so schwerwiegendes wie reflexartig vermiedenes „Weggucker“-Thema so zu schreiben, dass die Leser zunehmend mehr Interesse an der Thematik entwickeln und immer genauer „hingucken“ wollen. Das liegt vor allem daran, dass Frau Sanyal in eine Art Dialog mit den Lesern tritt, der die eigene Subjektivität mit thematisiert und sich direkt an ihre Leser adressiert. So bleibt das Buch lebendig und führt am eigenen Beispiel vor, dass und wie das Thema „Vergewaltigung“ schreibend von einer kompetenten Frau wieder angeeignet und aus seinen diskursiven Verstrickungen produktiv für das diskursgenealogische Verstehen frei gelegt werden kann. Auf diese Weise gelingt es der Autorin auch, zumindest für diejenigen, die ihr Buch lesen werden, sich von der Macht der Vergewaltigungsdiskurse zu befreien, die darüber bestimmen, wie „Vergewaltigung“ „in der Welt ist“.

Ein lesenswertes, offenes und mutiges Buch, das von der Hamburger Nautilus Edition verdienstvollerweise verlegt worden ist, die es in ihr Programm aufgenommen hat, das eine lange Reihe subversiver Texte im besten Sinne dieses Attributes vorhält.

Rezension von
Prof. Dr. Richard Utz
Hochschule Mannheim, Fakultät für Sozialwesen
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Es gibt 34 Rezensionen von Richard Utz.

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ISSN 2190-9245