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Gregor Lang-Wojtasik, Katja Kansteiner et al. (Hrsg.): Gemeinschaftsschule als pädagogische und gesellschaftliche Herausforderung

Rezensiert von Prof. Dr. Erich Hollenstein, 07.11.2016

Cover Gregor Lang-Wojtasik, Katja Kansteiner et al. (Hrsg.): Gemeinschaftsschule als pädagogische und gesellschaftliche Herausforderung ISBN 978-3-8309-3252-9

Gregor Lang-Wojtasik, Katja Kansteiner, Jörg Stratmann (Hrsg.): Gemeinschaftsschule als pädagogische und gesellschaftliche Herausforderung. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2016. 178 Seiten. ISBN 978-3-8309-3252-9. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.

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Thema und Entstehungshintergrund

Der Band konzentriert sich auf die Schulentwicklung bzw. Schulreform zu einer Gemeinschaftsschule (GMS) in Baden-Württemberg. Dort gibt es inzwischen 271 solcher Schulen, die Schülerinnen und Schüler unter Wegfall anderer Schulformen in einem eingliedrigen System gemeinsam unterrichten. Das Gymnasium ist allerdings davon nicht betroffen. In der GMS gibt es keine Klassenwiederholungen. Im Mittelpunkt der pädagogischen Ausrichtung steht die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler sowie die Gestaltung einer stützenden Lernumgebung. Die nunmehr gegebene Heterogenität der Schülerschaft stellt hohe Ansprüche an die Konzeption und die Organisation der Schule. Weitere Zielsetzungen wie Inklusion und Durchsetzung von mehr Bildungsgerechtigkeit verweisen auch auf die Notwendigkeit einer Professionsentwicklung des pädagogischen Personals. Der Band will die komplexen Ansprüche thematisieren und die beteiligten Lehrerinnen und Lehrer motivieren. Auf diesem Hintergrund gehört der größte Teil der Autorinnen und Autoren der Pädagogischen Hochschule Weingarten an, die mit dieser Veröffentlichung die GMS und ihre Entwicklung erziehungswissenschaftlich reflektieren und damit fördern will.

Aufbau

Nach einer mit dem Buchtitel überschriebenen Einleitung von Gregor Lang-Wojtasik, Katja Kansteiner und Jörg Stratmann folgen zwölf weitere Beiträge zu Themen wie Bildungspolitik, Chancengleichheit, Inklusion, Vielfalt, Lernkultur und pädagogische Professionalität. Im Folgenden werden sieben Beiträge besprochen, die auf die genannten Themenfelder eingehen.

Inhalt

Der erste Beitrag „Gleiche Bildung für alle ermöglichen – Chancengleichheit zwischen Vision und Illusion“ von Gregor Lang Wojtasik und Timo Jacobs erörtert zunächst die Real- und Ideengeschichte der Schule. Wie kann „Bildung für alle“ von der Vision zu einer gelebten Praxis werden? Das ist die grundlegende Frage. Die gegenwärtig zu beobachtende Ökonomisierung der Bildung und die damit einhergehende Orientierung an Kompetenzen wird von den Autoren dahingehend dargestellt, dass die Einseitígkeit des Kompetenzbegriffes überwunden werden kann wenn darunter Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz verstanden wird. An einer solchen Kompetenzvermittlung, sind dann alle Schülerinnen und Schüler gleichwertig zu beteiligen. In Deutschland verhindern dies aber die bekannten Selektionsmechanismen, die u.a. in der Mehrgliedrigkeit des Schulsystems verankert sind. Dazu skizzieren die Autoren diejenigen Schulentwicklungen in Deutschland, die die Mehrgliedrigkeit des Systems hin zu einer Eingliedrigkeit verändern wollen (z. B. Integrierte Gesamtschulen). Kritisch angemerkt wird, dass in Baden-Württemberg das Gymnasium unangetastet bleibt. Für die GMS, die als Ganztagsschule konzipiert ist, liegen in dieser Organisationsform Perspektiven, die als Räume flexibler Bildung bezeichnet werden. Der Beitrag schließt mit einer Erörterung der pädagogischen Ziele der Vielfalt und der Chancengleichheit: Es geht um die Gestaltung einer Schule „indem jede Person unabhängig von Herkunft und präsenten sozioökonomischen Bedingungen ihr Potenzial entfalten kann [.]“ (S. 28).

Der nachfolgende Beitrag von Thomas Wiedenhorn trägt den Titel „Von der Volksschule zur Gemeinschaftsschule – Schulpädagogische Entwicklungsverläufe unter diskursanalytischer Perspektive“. Der Autor analysiert in historischer Ausrichtung schulische Entwicklungs- bzw. Reformphasen. Dabei werden die jeweiligen pädagogischen Diskurse auf die Schulrealität und die jeweiligen Bildungsziele bezogen und es zeigt sich, dass eine Bindung an politische Machtinteressen gegeben ist: „Im 18. und 19. Jahrhundert fungiert die Volksschule als spezifische Dirigierstelle der Mächtigen in eine gemeinsame Nationalität hinein“ (S. 40f). Dieses Beispiel orientiert sich am baden-württembergischen Volksschulwesen im genannten Zeitraum. Das zweite gewählte Beispiel orientiert sich an Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates (1965). Hier zeigt sich eine unmittelbare Beziehung der nunmehr umbenannten Volksschule zur Hauptschule zum gesellschaftlichen Modernisierungsprozess in Form von Wettbewerbsfähigkeit und Leistungssteigerung des Einzelnen. Als drittes Beispiel wird ein Bezug zu einem Text von Schelsky hergestellt, der in der neuen Hauptschule einen Verleiherin von Sozialchancen sieht. Die Schule fungiert somit als Instrument möglicher Bildungsgerechtigkeit. Wiedenhorn macht aber darauf aufmerksam, dass das Risiko eines gesellschaftlichen Abstiegs aus diesem Diskurs ausgeblendet ist. Insgesamt handelt es sich auch deshalb um eine mythische Funktionszuschreibung im Rahmen einer Klassengesellschaft. Der Autor befürchtet, dass die GMD auch in einem solchen Sinne funktional vereinnahmt wird und mahnt deshalb eine realistische Einschätzung dieses Schultyps an.

Den Beitrag „Inklusion als Normalfall – japanische Anregungen“ ist von dem Associate Professor Masashi Urabe an der Hiroschima City Universität verfasst. Urabe versteht Inklusion als eine alle Schülerinnen und Schüler umfassende Einschließung, die das Individuum in den Mittelpunkt pädagogischen Denkens und Handelns rückt. Dies sieht er im japanischen Schulsystem, welches entsprechend dargestellt wird, weit gehend als gegeben an. Dieses Schulsystem ist eingliedrig, weil Schülerinnen und Schüler bis zur 12. Klasse durchgehend unterrichtet werden. In Bezug auf Deutschland stellt der Autor bescheidene Reformschritte in unterschiedlichen Bundesländern fest hin zu Gesamt- und zu Gemeinschaftsschulen. Er bemängelt aber, dass nach wie vor drei Qualifikationsniveaus gegeben sind (Abschluss: Hauptschule, Realschule, Gymnasium). Deshalb schlägt der Autor eine Reform eben dieser Qualifikationsniveaus vor, als einen integrativen Beitrag des Schulsystems. So interessant auch dieser Blickwinkel ist, muss doch gesehen werden, dass die Deutschland bewegenden Inklusionsfragen wie z.B. nach der Integration körperlich und geistig beeinträchtigter Schülerinnen und Schüler und den damit zusammenhängenden komplexen Unterrichtsabläufen in diesem Beitrag keine Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Der Artikel von Armin Sehrer „Reproduktion von Gesellschaft oder wie steht es mit Chancengleichheit und Inklusion durch Gemeinschaftsschulen“ erörtert zunächst die menschenrechtlichen, grundgesetzlichen und landesgesetzlichen Grundlagen der GMS. Des Weiteren werden historische und empirische Bezüge herausgearbeitet, die Chancengleichheit und Inklusionsfähigkeit auf die GMS beziehen. Die schulgeschichtliche Rekonstruktion richtet sich auf die Dreigliedrigkeit des Schulsystems und diesbezüglicher Reformchancen in den 60er Jahren des vorherigen Jahrhunderts. Zur empirischen Sichtung der Chancenungleichheit wird auf IGLU- und PISA- Ergebnisse zurück gegriffen. Der Autor zeigt, dass in Baden-Württemberg die mit der Einführung der GMD erfolgende Dezentralisierung von Entscheidungen auf die lokalen und regionalen Ebenen die gegebene Reproduktionsfunktion der Schule nicht verändern werden. Für Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen erscheint eine auf Inklusion ausgerichtete GMS als erfolgversprechend wobei die 366 Schülerinnen und Schüler in diesen Schulen mit Anspruch auf sonderpädagogische Förderung ein erster nicht hinreichender Schritt ist. Der Weg zum „Lernen für alle“ stellt sich als erstrebenswert aber außerordentlich langwierig dar.

Der Artikel „Gemeinschaftsschule als Adresse einer neuen Lernkultur“ von Markus Janssen geht auf eine Lernkultur ein, die eine Unterrichtskultur oder auch „Klassenraum-Kultur“ überschreitet. Für ihn ist es notwendig, zu einer neuen Lernkultur zu kommen, die die Strukturen der Schule als Organisation weitaus stärker berücksichtigt. Als Beispiel nennt der Autor die multiprofessionelle Zusammenarbeit, die einer strukturellen Basis also einer präventiven und kontinuierlichen Koordination innerschulischer wie außerschulischer Maßnahmen bedarf. Dazu bezieht sich Janssen auch auf die finnische Lernkultur, die notwendige Zeitflexibilität zur Verfügung stellt, z.B. durch längere Verweildauer der Lehrkräfte in der Schule als auch durch eigenständig zu nutzende Verfügungszeit (die finnischen Lehrkräfte unterrichten weniger im Vergleich zu ihren deutschen Kolleginnen und Kollegen). Im Mittelpunkt steht indessen ein Modell der neuen Lernkultur als Praxisarchitektur. Von der Makroebene (z. B. gesellschaftliche Rahmenbedingungen) über die Mesoebene (z.B. schulübergreifende Netzwerke) und Mikroebene (z.B. innerschulische professionelle Arbeitsgemeinschaften) bis zur Nanoebene (z.B. individualisiertes Lernen) führt dieses Modell auch zu einer konstruktiven Vermittlung zwischen Profession und Organisation. Zu dem Themenfeld neue Lernkultur ist auch der Aufsatz von Claudia Weitbrecht „Neue Lernkultur in der Gemeinschaftsschule – zwischen bildungspolitischen Vorstellungen und pädagogischen Optionen“ von Bedeutung. Die Autorin erörtert didaktische und methodische Aspekte des Unterrichts besonders unter dem Blickwinkel der Inklusion.

Veränderte professionelle Herausforderungen in Gemeinschaftsschulen im Horizont von Heterogenität – Lernbegleitung als Leitmotiv“ ist der Titel des Beitrags von Stefanie Schnebel. Die Autorin geht auf Konsequenzen ein, die die Individualisierung des Lernangebotes in der GMS erforderlich macht: „Individualisierter Unterricht im Konzept Gemeinschaftsschule verändert die Art und Weise der Lehrenden-Schülerin-Interaktion, – Kommunikation und – Kooperation“ (S.143). So entwickelt sich die lehrende Unterrichtssituation vermehrt zu einer Beratungssituation, die für Lehrkräfte neu ist. Ebenso entwickeln sich Arbeitsstrukturen, die eine veränderte Kooperationsnotwendigkeit beinhalten z.B. mit Sonderschullehrkräften oder mit Fachkräften der Schulsozialarbeit. Um in diesen komplexer gewordenen Schul- und Unterrichtssituationen angemessen pädagogisch Handeln zu können, schlägt Schnebel das Konzept der Lernberatung als bestmögliche Förderung einzelner Schülerinnen und Schüler vor. Lernprozesse entwickeln sich demnach auf den Ebenen der Lernunterstützung, der Lernbegleitung und des Lerncoachings. Benötigt wird für die Lernberatung seitens der Lehrkräfte diagnostische und didaktische Kompetenz sowie Beratungskompetenz. Auf einige Forschungsbefunde wird aufmerksam gemacht aber zugleich notwendiger Forschungsbedarf formuliert. Die Professionalität der Unterrichtenden muss sich auf solche Konzeptionen z.B. so einstellen, dass Unterrichtsthemen didaktisch auf unterschiedlichen Niveaus bearbeitet werden können. Dazu ist auch innerschulischer Austausch mit entsprechender Reflexion erforderlich.

In dem Schlussbeitrag „Strategien der Kommunikation über Heterogenität bei Lehrkräften mit Konsequenzen für eine Beschreibung pädagogischer Professionalität in Gemeinschaftsschulen“ von Ralf Schieferdecker wird gezeigt, wie Heterogenität in diesen Schulen zu einer Komplexitätssteigerung führt. Betroffen sind die Lehrkräfte, die unter Erwartungs- und Handlungsdruck geraten. Erforderlich ist deshalb eine Komplexitätsreduktion sowohl bereits in der Planung des Unterrichts als auch im Interaktionsraum Unterricht selbst. Aufgrund eigener Untersuchungen findet der Autor drei Orientierungstypen bei Lehrkräften, die helfen Komplexität zurücksetzen. Der erste Typ relativiert Heterogenität, der zweite Typ wehrt Heterogenität ab und der dritte Typ resigniert. Dieser letztere Typ entlastet sich z.B. dadurch, dass er einerseits an seinen Idealvorstellungen festhält und andererseits die Unmöglichkeit vertritt, seine Idealvorstellungen umzusetzen. Letztlich wird durch die genannten Typen Heterogenität homogenisiert und stellen eine in die Professionalität eingelassene Orientierung dar. Für die GMS ist es auf diesem Hintergrund notwendig, die organisatorischen Bedingungen in der Schule stabil zu halten z.B. durch Vorgaben, Modelle und Fortbildungen: „Die Reduktion von Komplexität […] ist kein Mangel an pädagogischer Professionalität, sondern Voraussetzung dafür, dass Lehrende überhaupt handlungsfähig bleiben“ (S. 174).

Diskussion

Der Sammelband will die mit der GMS zusammenhängende Schulentwicklung in Baden-Württemberg begleiten, fördern und reflektieren. Dies hat sich die Herausgebergruppe und die mitarbeitenden Autorinnen und Autoren als Ziel gesetzt und dieses Ziel ist gewiss erreicht. Die erörterten und differenzierten Themenfelder verweisen auf die aktuellen Herausforderungen, die sich diesem Großprojekt stellen. Damit ergibt sich eine konstruktive wissenschaftliche Bearbeitung dieser bildungspolitischen und schulpädagogisch ambitionierten Entwicklung durch das Lehr- und Forschungskollegium der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Dass einzelne Beiträge den hohen Erwartungshorizont an eine inklusive GMS auch kritisch hinterfragen gehört zu dieser Bearbeitung. Denn gemeinsames Lernen für alle ist ein gesellschaftliches Integrationsmodell mit dem Ziel gleicher Bildungschancen spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts und immer musste sich dieses Modell gegen enorme Widerstände behaupten.

Zu weitergehenden Partizipation an dieser Entwicklung hätten allerdings auch Berichte und Erfahrungen der betroffenen Schulen bzw. der dortigen Praxis gehört wie auch insgesamt die Beteiligung der betroffenen Schulleitungen, Lehrerkollegien, Eltern sowie Schülerinnen und Schülern wenig akzentuiert ist. Dass die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung in diesem Band nicht publiziert werden konnten ist bedauerlich.

Fazit

Der Band begleitet und reflektiert die Entwicklung der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg. Zu den bevorzugt verhandelten Themenfeldern in den 13 Beiträgen gehören Bildungspolitik, Chancengleichheit, Inklusion, Heterogenität, Lernkultur und pädagogische Professionalität. Die publizierten Aufsätze stammen zumeist von Autorinnen und Autoren, die zum Lehr- und Forschungskollegium der Pädagogischen Hochschule Weingarten gehören.

Rezension von
Prof. Dr. Erich Hollenstein
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Zitiervorschlag
Erich Hollenstein. Rezension vom 07.11.2016 zu: Gregor Lang-Wojtasik, Katja Kansteiner, Jörg Stratmann (Hrsg.): Gemeinschaftsschule als pädagogische und gesellschaftliche Herausforderung. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2016. ISBN 978-3-8309-3252-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21404.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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