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Klaus Boers, Katrin Krawinkel: Intensivtäterschaft und Delinquenzabbruch

Rezensiert von Dr. Dirk Baier, 07.04.2017

Cover Klaus Boers, Katrin Krawinkel: Intensivtäterschaft und Delinquenzabbruch ISBN 978-3-8309-3478-3

Klaus Boers, Katrin Krawinkel: Intensivtäterschaft und Delinquenzabbruch. Fortuntersuchung mit Probanden des zügigen Strafverfahrens für Mehrfach- und Intensivtäter in Münster. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2016. 126 Seiten. ISBN 978-3-8309-3478-3. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR.
Kriminologie und Kriminalsoziologie, Band 17.

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Thema

Jugendkriminalität im Allgemeinen, Jugendgewalt im Besonderen sind in Deutschland in den letzten Jahren deutlich rückläufig. Hierzu haben sicherlich verschiedene Präventions- und Interventionsmaßnahmen einen Beitrag geleistet. Eine immer wieder geforderte Maßnahme im Umgang mit jugendlichen Täterinnen und Tätern ist, dass die Zeit zwischen der Tataufdeckung und der Verurteilung verkürzt werden muss, eine Strafe also auf dem Fuße folgen sollte. Nur so kann eine Sanktion von den Täterinnen und Tätern mit ihrem unrechtmäßigen Tun in Verbindung gebracht werden; und nur so kann auf Basis der Sanktion normenkonformes Verhalten gelernt werden – so zumindest die Idee.

Das Buch von Boers und Krawinkel prüft diese Idee anhand eines in Münster durchgeführten Modellprojekts: Zwischen 2000 und 2009 wurden hier insgesamt 92 Personen nach dem sog. zügigen Jugendstrafverfahren abgeurteilt. Deren weitere Entwicklung wird im vorliegenden Buch mit der Entwicklung von Personen verglichen, die nicht an einem solchen Verfahren teilgenommen haben. Dabei wird sich allerdings auf Personen beschränkt, die in der Zeit von 2000 bis 2004 abgeurteilt wurden. Zu diesen wurde zu einem früheren Zeitpunkt bereits eine erste Evaluation verfasst, mit dem Ergebnis, dass keine Unterschiede bezüglich des Rückfalls festgestellt werden konnten. Die nun vorliegende zweite Evaluation betrachtet die Entwicklung dieser Personen seit dem Jahr 2010.

Neben der Frage, ob ein beschleunigtes Jugendstrafverfahren im Vergleich mit einem herkömmlichen Verfahren den Rückfall beeinflusst, verfolgt die Studie eine zweite Frage: Insofern sie einen langen Zeitraum der Entwicklung bis ins Erwachsenenalter abbilden kann (2010 waren die Personen im Durchschnitt 23 Jahre alt), d.h. einen Zeitraum, der durch Prozesse der Distanzierung von bzw. des Herauswachsens aus der Kriminalität gekennzeichnet ist (auch als „Desistance“ bezeichnet), wird untersucht, welche Einflussfaktoren diese Prozesse befördern oder behindern. Beide Forschungsfragen werden anhand einer spezifischen Population untersucht: den sog. Mehrfach- und Intensivtätern (untersucht werden nur männliche Personen). Auch wenn es derzeit noch keine einheitliche Definition dieser Kategorie an Tätern gibt, so ist einerseits unzweifelhaft, dass sie für einen Großteil der Kriminalität verantwortlich sind. Andererseits ist der Desistance-Prozess bei ihnen offensichtlich langwieriger, komplexer und weniger spontan, ansonsten wäre es nicht zu einer entsprechenden Karriere gekommen. Für die Untersuchung beider Forschungsfragen ist diese Personengruppe daher besonders gut geeignet.

Einschränkend bzgl. der Generalisierbarkeit der Ergebnisse der Studie ist allerdings bereits an dieser Stelle hervorzuheben, dass Boers und Krawinkel nur 32 Mehrfach- bzw. Intensivtäter hinsichtlich des Rückfalls betrachten können – elf davon wurden nach dem zügigen Jugendstrafverfahren abgeurteilt. Nur mit vier Personen konnte ein problemzentriertes Interview geführt werden. Es handelt sich mithin um eine kleine Studie, was sich auch im Umfang der Publikation mit nur etwas über 100 Seiten niederschlägt.

Aufbau und Inhalt

Im ersten Teil des Buches wird das zügige Jugendstrafverfahren in Münster vorgestellt, das Mitte 2009 durch ein Intensivtäterkonzept abgelöst wurde, welches nunmehr in mehreren Großstädten in Nordrhein-Westfalen zum Einsatz kommt. Zentrale Information in diesem Teil des Buches ist, dass das Ziel einer signifikanten Verkürzung des Strafverfahrens durch das Modellprojekt nicht erreichen werden konnte. Die genauen Gründe hierfür erfährt man leider nicht. Zusätzlich vorgestellt werden die Ergebnisse der ersten Evaluation des Modells, die sich auf die Zeit bis Ende 2005 bezog. Effekte auf das Delinquenzniveau konnten dabei, wie bereits angesprochen, nicht festgestellt werden. Gleichwohl ergaben auch die zum damaligen Zeitpunkt ebenfalls durchgeführten problemzentrierten Interviews mit acht Personen (vier mit Erfahrungen eines verkürzten Jugendstrafverfahrens), dass „sowohl das gesamte Verfahren als auch das Gericht als fairer wahrgenommen“ wurden (S. 17).

Der zweite Teil des Buches stellt den theoretischen Rahmen der Nachfolgestudie vor. Es werden dabei Begrifflichkeiten (Intensivtäter, Desistance) diskutiert und der Forschungsstand zu den Einflussfaktoren des Delinquenzabbruchs besprochen. Bezüglich des Desistance-Begriffs oder besser -Konzepts wird von den Autoren davon ausgegangen, dass es sich um einen allmählichen Prozess handelt, bei dem verschiedene Indikatoren zu berücksichtigen sind: Desistance bedeutet nicht, dass von heute auf morgen kriminelles Verhalten vollkommen abgelegt wird; stattdessen liefern ein Rückgang der Anzahl an Taten, eine Verringerung des Deliktspektrums und eine Reduktion der Tatschwere bereits Hinweise auf entsprechende Prozesse. Mit Blick auf die Einflussfaktoren stellen die Autoren zwei gegensätzliche Ansätze vor: Der Ansatz der „strukturellen Wendepunkte“ geht davon aus, dass dem Desistance-Prozess eine Änderung sozialer Beziehungen und sozialer Einbindungen vorausgeht, so z.B. der Aufbau einer intimen Beziehung oder die Aufnahme einer geregelten Arbeit. Der Ansatz des „Wandels des Selbstkonzepts“ nimmt dagegen stärker das Individuum in den Blick und geht davon aus, dass sich Einstellungen, Werthaltungen und Normorientierungen eines Täters, zusammengefasst also seine Identität, ändern müssen, damit es zum Verzicht auf kriminelles Verhalten kommt; es geht um eine „cognitive transformation“ hin zu einer „nichtdelinquenten Selbstidentität“ (S. 32). Entsprechend der Ausführungen der Autoren scheint die derzeitige Forschung dabei eher dafür zu sprechen, dass eine Identitätsänderung den strukturellen Wendepunkten vorgelagert ist: „Einem Delinquenzabbruch förderliche Gegebenheiten würden nur dann gesucht […] nachdem der Täter begonnen habe, ein konventionelles Selbstbild zu entwickeln“ (S. 35). Eine Unterfrage in diesem Zusammenhang ist, inwieweit die Interventionen von Kontrollorganen (d.h. bspw. eine Verurteilung) den Desistance-Prozess beeinflussen. Im Gegensatz zur gelungen Vorstellung der beiden Ansätze der Wendepunkte und des Selbstkonzeptwandels widmen die Autoren den Folgen von Interventionen nur sehr wenig Aufmerksamkeit. Dies ist schade, weil zu diesem Thema im weiteren Verlauf des Buches interessante Ergebnisse erarbeitet werden und weil es dazu bereits einige wichtige Forschungsergebnisse (auch aus Deutschland) gibt.

In einem dritten Teil des Buches werden die Ziele und forschungsleitenden Annahmen der Studie vorgestellt. Insgesamt werden sieben forschungsleitende Annahmen formuliert. Der Stellenwert dieser Annahmen ist aber unklar. Die erste Annahme, nach der die kleine Gruppe der Intensivtäter den größten Teil der Delikte begeht, wird im Buch keiner Prüfung unterzogen, da nur 32 Personen betrachtet und diese auch nicht in den Kontext des gesamten Kriminalitätsaufkommens Münsters gestellt werden. Weitere fünf Annahmen stehen in keinem Bezug zu den theoretischen Ausführungen, die bis dahin im Buch vorgestellt wurden. Nur die vierte Annahme, nach der beim Desistance-Prozess sowohl strukturelle Wendepunkte auch als Identitätsänderungen betrachtet werden müssen, leitet sich aus dem im zweiten Teil des Buches Gesagten ab.

Der vierte Teil des Buches widmet sich der empirischen Untersuchung und deren Ergebnissen. Es wurden Aktenanalysen durchgeführt, Auszüge des Bundeszentralregisters ausgewertet und problemzentrierte Interviews geführt. Von den acht Interviewpartnern der ersten Untersuchung konnten dabei vier für ein weiteres Interview gewonnen werden, wobei dieses zweite Interview mindestens fünf Jahre nach dem ersten stattfand. Nicht weiter diskutiert wird diesbezüglich, dass die Bereitschaft zur Teilnahme an solch einem Interview sicherlich unterschiedlich ausgeprägt ist und damit Selektionsprozesse eine Rolle spielen. Die Ergebnisvorstellung gliedert sich in drei Bereiche.

  1. Im ersten Bereich werden die Verläufe der Anzahl polizeilicher Registrierungen betrachtet. Diese zeigen, dass der Höhepunkt der Registrierungen im 14. und 15. Lebensjahr liegt; danach gehen sie deutlich zurück. Auch bei den Intensivtätern ist damit bereits im späten Jugendalter ein Rückgang der kriminellen Aktivitäten festzustellen; es handelt sich also nicht um eine lebenslang auffällige Gruppe. Die Entwicklung der Registrierung wird zusätzlich differenziert für verschiedene Tätergruppierungen (z.B. Diebstahltäter, Gewalttäter) betrachtet, wobei sich diese Gruppierungen einmal auf eine Kategorisierung aus der ersten Evaluation (vier Gruppen), ein zweites Mal auf eine Kategorisierung der zweiten Evaluation beziehen (ebenfalls vier Gruppen). Ist es grundsätzlich zu begrüßen, Entwicklungen differenziert zu betrachten, so sind diesem Vorhaben im vorliegenden Fall aufgrund der beschränkten Personenanzahl Grenzen gesetzt. Die Ergebnisse sprechen zudem nicht für ein solches Vorgehen, da sich die Ergebnisse über alle Gruppen ähneln: So „sind die Verläufe aller vorliegend untersuchten Mehrfach- und Intensivtäter […] letztlich […] vom Delinquenzabbruch geprägt“ (S. 59). Kritisch anzumerken ist zusätzlich, dass Ausführungen dazu fehlen, wie genau die Kategorisierungen vorgenommen wurden, d.h. welche Merkmale Berücksichtigung fanden und welche nicht.
  2. Der zweite Ergebnisbereich bezieht sich auf mögliche Wirkungen des verkürzten Jugendstrafverfahrens. Bei der Vorstellung und Interpretation der diesbezüglichen Ergebnisse erweisen sich die Ausführungen der Autoren als nicht konsistent. Einerseits folgern die Autoren zwar: „Bei einer Gesamtbetrachtung der Untersuchungs- und Vergleichsgruppe sind, wie schon in der Erstuntersuchung, in beiden Gruppen weiterhin ähnliche Registrierungsverläufe zu beobachten“ (S. 60). Dies würde dafür sprechen, dass das verkürzte Strafverfahren wirkungslos ist. Andererseits werden drei Aspekte benannt, die eine Vergleichbarkeit beider Gruppen (mit und ohne zügiges Verfahren) einschränken: erstens wurden stärker belastete Jugendliche anscheinend häufiger dem zügigen Jugendstrafverfahren zugeteilt; zweitens konnte die Gesamtzeit des Verfahrens von der Tataufdeckung bis zur Urteilsvollstreckung nicht reduziert werden (gerade zwischen der Verurteilung und der Vollstreckung vergeht noch einmal viel Zeit); drittens wurden weitere Verfahren der Gruppe mit zügigen Verfahren nicht zügig bearbeitet – dass es zu weiteren Verfahren kommt, ist bei Intensivtätern aber alles andere als untypisch. Diese Einschränkungen in Betracht ziehend folgern die Autoren an spätere Stelle dann im Gegensatz zur ersten Einschätzung, dass ein „weitere Registrierungen mindernder Effekt des zügigen Jugendstrafverfahrens nicht ausgeschlossen werden“ kann (S. 66). Die Interviews (S. 96) wiederum machen deutlich, dass ein zügiges Verfahren keinen bleibenden Eindruck auf die Jugendlichen gemacht hat, insofern sie sich nicht daran erinnern konnten. Dies dürfte dessen Wirksamkeit eher abträglich sein. Letztlich bleibt eine wesentliche Forschungsfrage der Untersuchung damit mehr oder weniger unbeantwortet. Es stellt sich die Frage, ob bei der Planung der zweiten Evaluation alle 92 Personen, die zwischen 2000 und 2009 entsprechend des zügigen Verfahrens abgeurteilt wurden, als Treatment-Gruppe hätten einbezogen und dazu passende Fälle im Sinne eines matched-pair-Verfahrens als Vergleichsgruppe berücksichtigt werden können. Auf Basis einer Aktenanalyse wäre es dann auch möglich gewesen, Drittfaktoren zu identifizieren und letztlich statistische Verfahren zur Prüfung der Forschungsfrage zur Anwendung zu bringen.
  3. Der dritte Ergebnisbereich beschäftigt sich mit den Einflussfaktoren von Desistance-Prozessen. Hier kommen die Autoren zu einem eindeutigen Ergebnis, das im Gegensatz zum referierten Forschungsstand steht: „Der alleinige Entschluss zur Konformität ist als Basis eines dauerhaften Delinquenzabbruchs offensichtlich nicht ausreichend. Er muss strukturell durch den Aufbau oder die Reaktivierung konformer sozialer Bindungen untermauert werden“ (S. 107). Insofern deuten die Interviews „auf eine größere Bedeutung sozialstruktureller Änderungen hin“ (S. 115). Der Aufbau eines konformen Selbstbilds folgt entsprechend der Befunde der Autoren auf strukturelle Wendepunkte und nicht umgekehrt; das im Rahmen dieser Wendepunkte Erreichte möchte man nicht wieder aufs Spiel setzen und passt daher seine Identität an die neuen Umstände an. Ein zentraler Wendpunkt ist entsprechend der Ergebnisse der Aufbau einer festen Beziehung zu einer Freundin. Es wird aber auch die Aufnahme einer Ausbildung oder Arbeit als Wendepunkt benannt. Einschränkend ist festzuhalten, dass sich die Befunde auf vier Interviews beziehen; bei einem Fall ist dabei der Ausstieg aus der Kriminalität wegen unterschiedlicher Gründe (Cannabiskonsum, Glücksspiel) noch nicht abgeschlossen. Zudem kann anhand des präsentierten Materials nicht vollständig nachvollzogen werden, wie die Autoren zu ihrem eindeutigen Ergebnis kommen. Zwar sind z.T. lange Ausschnitte aus den Interviews abgedruckt. Wie die einzelnen Interviewpassagen ausgewertet und zu dem Ergebnis verdichtet wurden, wird jedoch nicht ausführlich beschrieben.

Die Ergebnisse zu den Desistance-Prozessen beinhalten zusätzlich mindestens zwei interessante Informationen. Zum einen wurde sich in den Interviews auch der Wahrnehmung der Jugendrichter gewidmet. Die Interviews belegen hierzu, dass diese positive eingeschätzt werden („fair wahrgenommene Verhandlungsführung“, als „angemessen empfundene Sanktionierung“, S. 95). Zum anderen wurde der Einfluss der Vollzugserfahrungen beleuchtet. Diesbezüglich wird gewöhnlich von einer Stigmatisierung ausgegangen, die die Wiedereingliederung ehemaliger Strafgefangener behindert. Die Auswertungen der Autoren zeigen etwas anderes: „Insgesamt hat der Strafvollzug bei allen Probanden einen zu Beginn des Erwachsenenalters einsetzenden Ausstieg aus der vorherigen wiederholten und schweren Delinquenz nicht behindert“ (S. 108). Stigmatisierungen bspw. bei der Jobsuche berichtet kein Interviewpartner. Stattdessen werden z.T. positive, den Desistance-Prozess unterstützende Erlebnisse berichtet (Beginn einer Ausbildung im Vollzug; abschreckende Wirkung des Vollzugs). Zwei Interviewte berichten allerdings, im Strafvollzug mit dem Drogenkonsum begonnen zu haben; d.h. es konnten auch Prisonisierungseffekte beobachtet werden.

Der letzte Teil des Buches fasst die erarbeiteten Befunde noch einmal zusammen. Eine wichtige Folgerung wird dabei mit Blick auf zukünftige vergleichbare Modellprojekte formuliert: „Für die Konzeption eines zügigen Strafverfahrens sollte darauf geachtet werden, dass zum einen möglichst alle Verfahren der betroffenen Jugendlichen zügig durchgeführt werden, und dass zum anderen auch das Vollstreckungsverfahren der rechtskräftigen Verurteilung alsbald folgt“ (S. 114)

Fazit

Die Begleitung des Münsteraner Modellprojekts zum zügigen Jugendstrafverfahren und die Erweiterung der Begleitforschung in Richtung Desistance-Forschung durch Klaus Boers und Katrin Krawinkel ist verdienstvoll. Den Mut zu kleineren, theoretisch angeleiteten Begleitforschungen braucht es in der Kriminologie im deutschsprachigen Raum verstärkt. Fraglich ist, ob eine etwas umfassendere Forschung möglich gewesen wäre, die sämtliche Fälle des zügigen Jugendstrafverfahrens und eine angemessene Anzahl passender Vergleichsfälle einbezogen hätte. Zu vermuten ist, dass es kaum Finanzierungsmöglichkeiten hierfür gab – ebenfalls ein Problem der Kriminologie im deutschsprachigen Raum.

Auf Basis der Studie, deren Ergebnisse sicherlich nur begrenzt verallgemeinerbar sind, lassen sich mindestens vier zentrale Folgerungen festhalten:

  1. Auch in Bezug auf Mehrfach- und Intensivtäter ist eine gewisse Gelassenheit angebracht. Recht schnell nach dem 15. Lebensjahr reduziert sich deren Aktivität – und dies sicherlich z.T. auch ohne dass es besonderer Interventionen bedarf.
  2. Der Gedanke, Strafverfahren zu verkürzen und kriminelles Verhalten und dessen Sanktionierung enger zu koppeln, hat einen großen Charme. In der Praxis ist dieser Gedanke aber nur schwer umsetzbar bzw. mit vielen Herausforderungen konfrontiert, die sich z.T. auch nicht überwinden lassen, will man bestimmte rechtsstaatliche Prinzipien nicht außer Kraft setzen. Als kurz können daher bereits Verfahren eingestuft werden, die innerhalb von drei Monaten abgeschlossen werden, wobei die Vollstreckung des Urteils, insofern es sich um Arreste oder Haftstrafen handelt, dann noch nicht erfolgt ist. Wirklich kurz ist dies nicht – und viel kürzer wird es kaum werden. Es wird daher Zeit, sich von der Hoffnung zu verabschieden, sehr kurze Verfahren seien möglich; und selbst bei kurzen Verfahren sind die Wirkungen, wie die vorliegende Studie zeigt, wahrscheinlich eher gering.
  3. Die Studie verweist darauf, in Bezug auf Haftstrafen eine offenere Haltung einzunehmen. Für bestimmte Jugendliche kann die Haftstrafe unter bestimmten Bedingungen entwicklungsförderlich sein. Freilich ist damit noch nicht die Frage beantwortet, um welche Jugendlichen und welche Bedingungen es sich konkret handelt. Weitere Studien zur individuellen Wirkung und Verarbeitung von (Haft)Strafen sind daher wünschenswert.
  4. Desistance-Prozesse werden entsprechend der Befunde durch veränderte soziale Beziehungen in Gang gesetzt, weniger durch eine Identitätsänderung. Dieser Befund sollte zunächst mit weiteren Studien abgesichert werden. Wenn er sich bestätigt, erweist er sich als praktisch: Die Identität eines Menschen zu ändern, ist schwierig; seine sozialen Beziehungen zu ändern, ist etwas weniger schwierig. Hierfür muss den Straftätern Zugang zu Kontexten gewährt werden, in denen sich neue Beziehungen etablieren lassen. Ein Beispiel dürfte die Aufnahme von Arbeit und Ausbildung außerhalb der Strafanstalt sein. Hierfür, aber ebenso für andere Kontexte, wären neue, kreative Modellprojekte zu entwickeln.

Rezension von
Dr. Dirk Baier
Leiter Institut Delinquenz und Kriminalprävention, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Departement Soziale Arbeit
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Es gibt 2 Rezensionen von Dirk Baier.

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ISSN 2190-9245