Bernd Ahrbeck: Kinder brauchen Erziehung
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Tischner, 02.11.2004
Bernd Ahrbeck: Kinder brauchen Erziehung. Die vergessene pädagogische Verantwortung. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2004. 171 Seiten. ISBN 978-3-17-017973-8. 19,80 EUR. CH: 34,80 sFr.
Einführung in das Thema
Während noch vor wenigen Jahren von "progressiven" Pädagogen die Abschaffung der Erziehung gefordert und ihr Ende ausgerufen wurde, beginnt sich das Blatt angesichts einer zunehmenden Rücksichtslosigkeit und Brutalität unter Kindern und Jugendlichen gegenwärtig allmählich zu wenden. Seitdem in den letzten Jahren gehäuft Schreckensmeldungen in den Medien über besonders rohe Gewaltdelikte (Raub, Erpressung, nicht selten schwere und gefährliche Körperverletzung) in Deutschlands Schulen und eine besorgniserregende Entwicklung der Kinder- und Jugendkriminalität in unserem Land die Öffentlichkeit erschüttern, ist der pädagogische Bankrott der 68er-Generation - die heutige Generation der Eltern und Großeltern - nicht mehr zu übersehen. In dieser Situation ist ein Buch hochwillkommen, welches daran erinnert, was die junge Generation von ihren Eltern, Lehrern und Erziehern dringender denn je benötigt und ihr das Kinder- und Jugendhilfegesetz in seinem ersten Paragraphen auch ausdrücklich als Recht zuerkennt: Erziehung.
Über den Autor
Bernd Ahrbeck ist Professor für Rehabilitationswissenschaften mit dem Schwerpunkt Verhaltensauffälligenpädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin und zugleich Psychoanalytiker.
Aufbau und Inhalt
- In der Einleitung des Buches geht Ahrbeck der Frage nach, wo die Wurzeln der gegenwärtig allenthalben in unserer Gesellschaft auszumachenden "Erziehungsvergessenheit" liegen. Unter diesem Begriff versteht er im Anschluß an Johannes Schwarte einen Rückzug der Erwachsenengeneration aus ihrer Erziehungsverantwortung, letztlich ihren Verzicht auf Erziehung. Als entscheidenden historischen Einschnitt identifiziert der Autor die Studentenbewegung der späten 1960er Jahre. Erst der antiautoritäre Protest habe es ermöglicht, die Erziehung der vorangegangenen Jahrzehnte, insbesondere des Nationalsozialismus, in Frage zu stellen und sich offensiv mit ihr auseinanderzusetzen. Nicht so zu sein wie die Eltern und deren Erziehungsvorstellungen zu folgen, sei wesentliche Triebfeder der Nach-68er gewesen. Die "Rebellion gegen jede Art von Autorität" habe unglücklicherweise zu einer erheblichen Schwächung des Erziehungsgedankens und schließlich zu dem geführt, was in der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion als "Erziehungsnotstand" respektive "Erziehungskatastrophe" apostrophiert wird.
- Im ersten Kapitel des Buches wirft Ahrbeck einen "Blick in die Vergangenheit". Im Anschluß an Sigrid Chamberlain analysiert er hier anhand zweier weitverbreiteter Erziehungsratgeber der damaligen Zeit - beide wurden von der Ärztin Johanna Haarer verfaßt und wirkten bis weit über 1945 hinaus - die "Erziehung im Nationalsozialismus". Als Mütter, die den von Haarer in ihren Büchern und millionenfach besuchten Erziehungskursen propagierten Erziehungsmaßregeln bereitwillig folgten, hätten sich gerade auch Frauen zu "Vorkämpferinnen und Erfüllungsgehilfen des Nationalsozialismus" gemacht. Das Mutter-Kind-Verhältnis sei danach durch kühle Distanz, Bindungsarmut und eine extreme Regelhaftigkeit gekennzeichnet gewesen. "Dialog und Gegenseitigkeit soll[t]en verhindert werden." Dressur, Gehorsam und Unterordnung unter ein rigides Ordnungsschema seien zentrale Leitlinien von Haarers Erziehungsvorstellungen gewesen; auf die kindlichen Bedürfnisse sei über die biologischen Grundbedürfnisse hinaus nicht eingegangen worden. Aber auch das von Chamberlain als Gegenentwurf dazu vertretene Erziehungskonzept eines "zwanglose[n] Aufwachsen(s) in einer spannungsfreien Mutter-Kinder-Beziehung", welches sich an die Säuglingsforschung und die Bindungstheorie anlehne, stößt vor dem Hintergrund von Ahrbecks eigener Position, der Psychoanalyse, auf dessen kritische Bedenken. So sei Freud von einer "grundlegenden Unversöhnlichkeit, zwischen den Triebbedürfnissen des Kindes einerseits und gesellschaftlich erzwungenen Anpassungsnotwendigkeiten auf der anderen Seite" ausgegangen. Chamberlain blende unrealistischerweise jedoch die daraus resultierende Dramatik und Konflikthaftigkeit der Mutter-Kind-Beziehung aus. Die "primäre Aggressivität" des Kindes werde von ihr verkannt, die "Kraft des Bösen" unterschätzt.
- Unter der Überschrift "Entwicklung ohne Konflikt: Der kompetente Säugling" setzt Ahrbeck sich im zweiten Kapitel kritisch mit den Ergebnissen der neuen Säuglings- und Kleinkindforschung auseinander. "Zugespitzt formuliert", so der Autor, "beinhaltet dieses Verständnis der frühen Entwicklung das Bild eines Säuglings, der aktiv und eigenständig ist, begabt und vernünftig, wenig irritierbar und in der Lage, für sich zu sorgen." Damit werde das bisherige Bild eines zutiefst abhängigen und hilflosen Wesens, welches passiv seinen Trieben ausgeliefert sei, von Grund auf erschüttert und geradezu auf den Kopf gestellt. Als eine sich naturwissenschaftlich exakte Wissenschaft verstehende Disziplin beanspruche die neue Säuglingsforschung für sich eine Leitposition, ausdrücklich auch in Gegenposition zur Psychoanalyse, die ihre Erkenntnisse nicht wie sie selbst durch methodisch strenge empirische Beobachtung gewinne, sondern überwiegend durch subjektiv-rekonstruktive Verfahren. Ziel der neuen Säuglingsforschung sei es daher auch, die frühe und früheste Kindheit vollständig neu zu schreiben und dadurch das bisherige psychoanalytische Entwicklungsmodell grundlegend zu revidieren. Als Psychoanalytiker hält Ahrbeck dagegen: Die von Vertretern der neuen Säuglingsforschung insbesondere gegen Margret Mahlers Theorie des symbiotischen Ursprungs der menschlichen Psyche vorgebrachten Beispiele greifen allesamt ins Leere. Bei genauerer Betrachtung erweisen sie gerade das als richtig, was als falsch nachgewiesen werden sollte. Gründe für die Irrtümer der neuen Säuglingsforschung seien zum einen in ihrer methodischen Selbstbeschränkung, zum anderen ihrer unzulässigen Parallelisierung von Säuglings- und Erwachsenenerleben zu suchen.
- Als besonders fatal erweist sich Ahrbeck zufolge die bereits beklagte "Erziehungsvermeidung am Beispiel der Kinder- und Jugendkriminalität". Der Verfasser ruft im dritten Kapitel eindringlich die eigentlich selbstverständlich erscheinende Tatsache in Erinnerung, daß "massiv gefährdete und delinquente Kinder und Jugendliche in besonderem Maße der Erziehung bedürfen." Werde dem nicht hinreichend Rechnung getragen, so habe dies für die betroffenen Minderjährigen, die in der Regel aus sozial benachteiligten, wenig förderlichen häuslichen Milieus stammen, besonders tragische Folgen: "Über die öffentliche Erziehung werden sie zum zweitenmal um eine wichtige Lebenschance gebracht." Am Beispiel Hamburgs weist Ahrbeck auf den massiven Anstieg der schweren Gewaltkriminalität bei Minderjährigen im Zeitraum von 1989 bis 1999 hin, bei den Jugendlichen der Hansestadt um 199 %, bei den Kindern um erschreckende 489 %. Der Hamburger Jugendhilfe, die auf dem in der Sozialen Arbeit der letzten Jahrzehnte verbreiteten Leitkonzept der Lebensweltorientierung aufbaut, wirft der Verfasser eklatantes Versagen vor. Besonders scharf kritisiert er das Prinzip der Freiwilligkeit. Die unausbleibliche Folge der Tatsache, daß die Jugendlichen die Regeln der Interaktion mit den Mitarbeitern der Jugendhilfe bestimmen und nicht umgekehrt, sei eine Depotenzierung letzterer. "In zugespitzten Krisen- und Gefährdungssituationen" führe das Freiwilligkeitsprinzip dazu, daß "Jugendliche (...) vorhandene Hilfeangebote nicht annehmen, (...) sich mit hartnäckiger Verweigerung jeglicher Art von Beziehungsaufnahme entziehen (...)" Unter solchen Bedingungen hätten Entwicklungsziele wie die Wiederaufnahme des Schulbesuchs oder die Vermeidung von Drogenkonsum keine Realisierungschance mehr. Aus Angst davor, "'eigene Wertmaßstäbe' an das Leben eines anderen Menschen anzulegen", aus vorgeblichem "Respekt vor dem Klienten" werde der weitere soziale Abstieg des Jugendlichen, um den sich dann meist Justiz und Psychiatrie kümmern müssen, billigend in Kauf genommen. Ähnlich kritisch bewertet Ahrbeck das Prinzip der Parteilichkeit mit seiner Tendenz, jugendliche Gewalttäter einseitig als "Opfer ungünstiger Entwicklungsvorgaben der Erwachsenenwelt" zu stilisieren, sowie den Grundsatz der Alltagsorientierung, welcher dann an Grenzen stoße, "wenn sich Kinder und Jugendliche in Lebensfeldern aufhalten, die massiv schädigende und vor Ort nicht veränderbare Bedingungen aufweisen." Das Abweichende wie die Prostitution sehr junger Mädchen dann zu "normalisieren", befreie die Fachkräfte zwar von inneren und äußeren Konflikten, die sie als überfordernd und unlösbar erleben, bedeute für die Betroffenen jedoch keine wirkliche Hilfe. In kritischer Abgrenzung vom Prinzip der Lebensweltorientierung sieht es der Verfasser in extrem zugespitzten Situationen als potentiell notwendig an, "Maßnahmen auch ohne Einverständnis des Kindes oder Jugendlichen" einzuleiten. Daß Erziehung im übrigen "ihrem Wesen nach auch Momente des Zwanges" beinhalte, werde besonders von den Gegnern einer geschlossenen Heimunterbringung, welche diese Maßnahmeform für ein "reines Repressionsinstrument" halten und deshalb unter allen Umständen - selbst bei "Prostitution in einem sehr jungen Lebensalter und HIV-Gefährdung, Drogenmißbrauch und Beschaffungskriminalität, Crashfahren mit Todesfällen und (...) massiver gewordenen Straftaten so genannter Intensivtäter" - ablehnen, geflissentlich übersehen. Ahrbeck macht gegen eine derartige Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal junger Menschen geltend, daß sich die bestehenden geschlossenen Einrichtungen (es handelt sich dabei stets nur um einzelne geschlossene Gruppen oder Abteilungen!) gegenüber den früheren - durchaus zu Recht als inhuman kritisierten - Einrichtungen erheblich gewandelt hätten und heute den Charakter von "pädagogisch-therapeutischen Intensivstationen, die Freiheitseinschränkungen individuell regeln", angenommen hätten. Als geradezu vorbildlich erwähnt der Autor in diesem Zusammenhang die Pädagogisch-Therapeutische Intensivabteilung der Rummelsberger Anstalten bei Nürnberg, deren Betreuungsschlüssel sich der Relation 1 : 1 annähere und die seit langem eine auf den jeweiligen Einzelfall abgestimmte Geschlossenheit mit zunehmenden Freiheitsgraden praktiziere.
- Im vierten Kapitel, überschrieben mit "Erziehungsvergessenheit: Radikaler Konstruktivismus und Systemtheorie in der Pädagogik", rechnet Ahrbeck mit dem Rückzug der systemischen und konstruktivistischen Pädagogik aus der Erziehungsverantwortung ab. Im Zuge der Darstellung der "Grundlagen und Perspektiven des Radikalen Konstruktivismus und der Systemtheorie" setzt sich der Verfasser mit der reichlich abstrusen radikal-konstruktivistischen Erkenntnistheorie auseinander, die darin kulminiert, daß das, was das Subjekt für die objektive Wirklichkeit hält, seine eigene Konstruktion, seine eigene "Erfindung" sei. Dementsprechend wird die Idee der Wahrheit diskreditiert und schließlich eliminiert, wodurch sich der radikale Konstruktivismus - so ist kritisch einzuwenden - in einen aktualen Selbstwiderspruch begibt und damit selbst erledigt. Denn sofern er sich auf das Parkett einer seriösen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit anderen Erkenntnistheorien begibt, kommt er nicht umhin, für seine eigenen Aussagen einen Wahrheitsanspruch zu erheben. Von zentraler Bedeutung für die systemisch-konstruktivistische Pädagogik ist der aus dem Griechischen stammende Begriff der Autopoiesis, der so viel besagt wie Selbstorganisation, Selbstgestaltung, Selbsterzeugung. Kennzeichnend für lebende u.d.h. autopoietische Systeme wie beispielsweise das menschliche Gehirn sei es, daß sie "operational geschlossen" sind. Das bedeutet, daß die Reaktionen des Gehirns auf Außenreize ausschließlich von dessen eigenen inneren Strukturen bestimmt werden. Einflüsse von außen vermögen es lediglich zu "verstören", anzuregen; eine Fremdinstruktion dagegen sei prinzipiell ausgeschlossen. Die pädagogischen Konsequenzen aus diesem höchst subjektivistischen, nachgerade monadologischen Konzept sind tiefgreifend: "Da sich Lebewesen ihrer eigenen Struktur entsprechend verhalten, muß jede planmäßige äußere Beeinflussung von vornherein scheitern. (...) Insofern gelten auch Kinder und Jugendliche als unumstößlich autonome Schöpfer ihrer selbst. Sie wählen aus der Angebotsvielfalt der Umwelt etwas aus, wenn es ihnen gefällt, oder lassen es, wenn ihnen nicht danach zumute ist." Damit aber werde Erziehung nach dem herkömmlichen Verständnis abgeschafft; sie werde ersetzt durch "Beratung", "Konsultation". Der Erzieher mutiere zum "schlichten Mitspieler", "Moderator", "Lernbegleiter", "Coach". Warum, so fragt Ahrbeck, übt die systemisch-konstruktivistische Pädagogik auf Lehrerinnen und Lehrer, auf Erzieherinnen und Erzieher eine so große Faszination aus, obwohl sie über Trivialitäten und reichlich verworrene Aussagen hinaus nicht viel zu bieten habe? Die Antwort gibt der Verfasser selber: Erziehungsprozesse würden von Pädagogen in heutiger Zeit als zunehmend schwierig erlebt. Verhaltensauffälligkeiten und Disziplinschwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen nähmen zu, ihre Konzentrationsfähigkeit hingegen ab. Angesichts solcher Probleme ernte ein pädagogisches Denken besonders viel Beifall, welches einen partiellen Rückzug aus der Erziehungsverantwortung bis hin zu ihrer gänzlichen Aufhebung nicht nur erlaube, sondern sogar ausdrücklich fordere. Von Streß- und Schuldgefühlen geplagte Pädagogen nähmen das von der systemisch-konstruktivistischen Pädagogik konstruierte Bild eines fast autarken Kindes, das sich autopoietisch aus dem bedient, was ihm aus der Erwachsenenwelt angeboten wird, mit großer Dankbarkeit auf.
- Ein Rückzug aus der Erziehungsverantwortung sei auch die unausweichliche Folge der "Kundenorientierung", die auf eine "Erziehung als Dienstleistung" hinauslaufe; dies ist Gegenstand des fünften Kapitels des Buches. Seit nunmehr bereits gut zwei Jahrzehnten breitet sich in der Jugendhilfe im Zuge ihrer Ökonomisierung ein Markt- und Kundendenken aus, welches seinen rechtlichen Ausdruck in der Ablösung des eingriffs- und ordnungsrechtlich geprägten Jugendwohlfahrtsgesetzes durch das durch seinen Dienstleistungscharakter gekennzeichnete Kinder- und Jugendhilfegesetz im Jahre 1991 fand. Die Adressaten der Hilfe, die betroffenen Kinder und Jugendlichen und ihre Eltern, können jedoch, wie Ahrbeck betont, nur in einem sehr begrenzten Sinne als Kunden bezeichnet werden, weil sie in der Regel nicht nur einem, sondern zwei Vertragspartnern in einem komplizierten, spannungshaltigen Dreiecksverhältnis gegenüberstehen sowie ihre Wahlmöglichkeiten und das Freiwilligkeitsprinzip eingeschränkt sind. Werde der Kundengedanke ernstgenommen, so könne von Erziehung keine Rede mehr sein: "Entweder wird ein Kind (...) erzogen oder es ist der Kunde von Dienstleistungen, die mit Erziehung nichts zu tun haben." Die Beziehungsgestaltung, die sich aus einer Kundenorientierung ergebe, sei "im wahrsten Sinne des Wortes unverbindlich, ebenso beliebig wie ein anonymer Warenaustausch." Damit schütze der Kundengedanke Lehrer und Erzieher in ähnlicher Weise vor innerer Überforderung wie der systemisch-konstruktivistische Ansatz. Der Preis, den die Pädagogen allerdings auch hier dafür zu zahlen haben, sei ihre pädagogische Depotenzierung; "sie verlieren an Einfluß und Bedeutung." Dies gelte infolge der Demokratisierung der Schule in besonders krasser Weise für die Lehrerschaft. Eltern und Schüler seien, vor allem in der wichtigen "Schulkonferenz", mit "stark erweiterten Mitbestimmungsrechten ausgestattet" und dadurch "zu erheblicher Macht gelangt." Die Lehrer befänden sich demgegenüber in der Minderheit und würden im Dienstleistungsbetrieb Schule, wo sie die Rolle der Bediensteten einnehmen, zur Ohnmacht verurteilt. "So geraten sie (...) in ein Abhängigkeitsverhältnis von denjenigen, die sie erziehen sollen." Ihre Autorität, ihr wichtigstes pädagogisches Handwerkszeug, wird auf diese Weise untergraben; sie stehen entblößt vor ihren Schülern. Die ehemals eigenständige Institution Schule, für Kinder früher ein wichtiges Vehikel, eine erste Eigenständigkeit von der elterlichen Umklammerung zu erlangen, werde durch die massiv gestärkte elterliche Position zum verlängerten Arm der Eltern, faktisch der Mütter - ein verhängnisvoller zusätzlicher Schritt übrigens zur weiteren Feminisierung unseres seit mehr als drei Jahrzehnten ohnehin zunehmend mütterlich dominierten Erziehungs- und Bildungswesens. "Das Häusliche", so der Verfasser über die Konsequenzen, "dringt in das Schulische ein. Die daraus resultierende Diffusion ist unheilvoll (...) Den Nachteil davon hat das Kind (...)"
- Im sechsten Kapitel des Buches, überschrieben mit "Globalisierung, Persönlichkeitszerfall und das Ende der Erziehung?", setzt Ahrbeck sich mit der These auseinander, "mit der Auflösung herkömmlicher familiärer Strukturen gehe (...) ein Verlust an gesicherten Zukunftsperspektiven einher, und damit auch ein Verlust an verläßlichen Erziehungszielen, auf die sich Eltern und Lehrer mit gutem Recht beziehen könnten." Modische soziologische Schlagwörter wie "Individualisierung", "Risikogesellschaft", "Multioptionsgesellschaft", "Pluralisierung von Lebensformen" sowie "Diversifizierung von Beziehungsformen" seien auch an der pädagogischen Diskussion nicht spurlos vorübergegangen. So habe der Göttinger Erziehungswissenschaftler Hermann Giesecke vor wenigen Jahren der verdutzten Fachöffentlichkeit, unter anderem begründet mit den Folgen der Globalisierung, lapidar das "Ende der Erziehung" verkündet. Ahrbeck widerspricht der "gängige[n] Fehlannahme (...), daß Kinder früher in stabileren Verhältnissen aufwuchsen als heute." Hohe Scheidungsraten, Häufung nichtehelicher Lebensgemeinschaften und diskontinuierlicher beruflicher Entwicklungen habe es zu früheren Zeiten, zumindest regional, in nicht geringerem Ausmaß gegeben als heute. Aus diesem Grund sei die "gegenwärtige Umbruchsituation in wichtigen Aspekten nicht so außergewöhnlich (...), wie oft behauptet wird", und Gieseckes These daher unbegründet. Die vielstimmig beklagte Erziehungsmisere, so das Fazit des Autors, sei somit "in ihrem Kern keine Folge der Globalisierung."
- "Von der Selbständigkeit des Kindes und der Notwendigkeit der Erziehung" handelt das siebte und letzte Kapitel, in welchem Ahrbeck angesichts des verbreiteten Leitbildes eines kompetenten, autonomen, - fast scheint es - autarken Kindes eine stärkere Berücksichtigung der kindlichen Bedürftigkeit und Abhängigkeit vom Erwachsenen anmahnt. Erziehung müsse sich, so der Autor, an klaren Zielvorstellungen orientieren. Sie setze, was oft übersehen werde, eine deutliche Differenzierung der Generationen voraus. Das Bestreben, Differenzen zu vermeiden und generationale Grenzen abzubauen, habe in der Vergangenheit zu einer "freundschaftliche[n] Intimisierung der pädagogischen Beziehung" geführt. Eine zentrale pädagogische Rolle bei der Rückbesinnung auf die Verschiedenheit der Generationen spiele der Vater, eine bislang fast unbedeutend scheinende Randfigur. Der Vater stehe "für das Andere, das Fremde, das Verbot, das Gesetz, die Gesellschaft. Es ist das Nein des Vaters, das die Entwicklung des Kindes an entscheidenden Punkten voranbringt. Erst durch die dritte Position, die er einnimmt, kann ein Abstand zum mütterlichen Primärobjekt gewonnen werden." Dagegen führe eine Nivellierung generationaler Grenzen zu einer "psychischen Stagnation", zu einem "Verlust an Weiterentwicklung und Reifung" und zum Entstehen "(...) eine[r] grenzenlose[n], infantilisierte[n] Gesellschaft, mit kindlichen Erwachsenen und scheinbar erwachsenen Kindern."
Zielgruppen
Das Buch eignet sich für alle Pädagogen, ob Lehrer, Erzieher oder Sozialpädagogen, die ihren Erziehungsauftrag ernstnehmen. Es bietet Ermutigung für diejenigen, die Kindern und Jugendlichen wieder das zukommen lassen wollen, was sie für eine förderliche Entwicklung brauchen und worauf sie ein Anrecht haben.
Fazit und Kritik
Das Buch setzt sich sehr kundig, streitbar und engagiert mit den wichtigsten pädagogischen Diskussionssträngen der zurückliegenden Jahrzehnte auseinander. Es ist eine in jeder Hinsicht erfreuliche und sehr zu empfehlende Publikation. Ahrbecks kritische Überlegungen zur Rolle des Mütterlichen und des Väterlichen in der Erziehung darf man durchaus als ein - wenn auch implizites - Plädoyer gegen eine weitere Schwächung des Väterlichen und damit gegen eine weitere "Feminisierung der Pädagogik" in unserer Gesellschaft verstehen. Bereits vor siebzig Jahren plädierte Herman Nohl in seinem pädagogischen Hauptwerk bekanntlich in die gleiche Richtung.Zwei kleine kritische Anmerkungen mögen mir abschließend erlaubt sein: 1. Die Argumentation gerät an einigen Stellen in eine sehr psychologische Ausrichtung und streckenweise zu einer Apologie der Psychoanalyse, dies in erster Linie in Konfrontation mit der neuen Säuglingsforschung und dem systemischen Ansatz. Wie nützlich letzterer gerade auch für die Heilpädagogik sein kann, hat vor allem der Münchner Erziehungswissenschaftler Otto Speck nicht zuletzt mit seinem Ahrbeck sicherlich auch bekannten Standardwerk gezeigt. In der Sozial- und Schulpädagogik existieren ähnliche, wenngleich weitaus weniger elaborierte Publikationen. Die 2. Anmerkung betrifft die Darstellung der Hamburger Jugendhilfe. Es trifft sicher zu, daß sich diese vor dem Regierungswechsel im Jahre 2001 in einem äußerst desolaten Zustand befand. Seitdem die Hansestadt jedoch nicht mehr von einem rot-grünen Senat regiert wird, kann man die dortige Jugendhilfepolitik - man denke an die Einrichtung eines sogenannten Familieninterventionsteams, an die Wiedereinführung der geschlossenen Heimunterbringung und vieles andere mehr - geradezu beispielhaft nennen. Diese beiden Einwände mindern den Wert dieses herausragenden Buches jedoch in keiner Weise.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Tischner
Hochschullehrer (i.R.) an der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm, Fakultät Sozialwissenschaften. Lehr- und Arbeitsgebiete: Pädagogik, Sozialpädagogik, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialpädagogik, Konfrontative Pädagogik, Jungen- und Geschlechterpädagogik.
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Zitiervorschlag
Wolfgang Tischner. Rezension vom 02.11.2004 zu:
Bernd Ahrbeck: Kinder brauchen Erziehung. Die vergessene pädagogische Verantwortung. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2004.
ISBN 978-3-17-017973-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/2144.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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