Stephanie Hagemann-Wilholt: Das „gute“ Unternehmen
Rezensiert von Prof. Dr. Harald Christa, 11.10.2016

Stephanie Hagemann-Wilholt: Das „gute“ Unternehmen. Zur Geschichte der Unternehmenskommunikation.
transcript
(Bielefeld) 2016.
526 Seiten.
ISBN 978-3-8376-3495-2.
D: 54,99 EUR,
A: 56,60 EUR,
CH: 67,10 sFr.
Histoire, Band 90.
Thema
Unternehmenskommunikation ist seit langem ein fest etablierter Teil des Marketings. Die Mehrzahl der Veröffentlichungen zu diesem Thema befasst sich mit dem aktuellen Stand der Kunst, den neuesten Ansätzen und den ungelösten Aufgaben. Historische Entwicklungen werden, wenn überhaupt, in der Regel nur beiläufig abgehandelt.
Entstehungshintergrund
Stefanie Hagemann-Wilholt möchte in Ihrer Publikation die Entstehungsgeschichte der heutigen Unternehmenskommunikation aufarbeiten. Es geht ihr dabei insbesondere um die unternehmerische Berichterstattung zur gesellschaftlichen Verantwortung bzw. die Entwicklung von Sozialbilanzen in den 1970er Jahren. Die Veröffentlichung ist eine überarbeitete Fassung der Dissertation der Autorin an der Universität Bielefeld.
Autorin
Stefanie Hagemann-Wilholt ist wissenschaftliche Referentin beim Rat für Informationsinfrastrukturen in Göttingen.
Aufbau und Inhalte
Die Publikation enthält eine Einleitung, neun Kapiel sowie einen Anhang.
Einleitend umreißt die Autorin zunächst die Entwicklung der Wissensgesellschaft von der Industrialisierung bis zur Accounting-Forschung und der Sozialbilanzierung in den 60er, 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Im Rahmen grundlegender Forschungsfragen und des theoretischen Ansatzes wird das Anliegen der Arbeit herausgestellt, nämlich zu analysieren, „wie die Sozialbilanz unter dem Einfluss wissenschaftlicher Konzepte und Beratung, gewerkschaftlicher und öffentlicher Kritik, unternehmerischer Bedürfnisse, politischen Kalküls und staatlicher Regulierungsansprüche an Gestalt gewann“.
Im Kapitel 1 werden unter der Überschrift „Paternalismus, Psychotechnik und Propaganda: Sozialberichterstattung vor 1970“ Entwicklungslinien der Sozialberichterstattung von Unternehmen vom Kaiserreich bis Ende der 60er Jahre nachgezeichnet. Nicht unbedingt kann man dabei von einer Übernahme US-amerikanischer Ansätze bei der Entwicklung von Sozialbilanzen in den siebziger Jahren in Deutschland sprechen. Vielmehr handelt es sich um eine inkrementelle Ausformung, die durchaus auf Vorläufer basiert.
Im Mittelpunkt von Kapitel 2 „Reform und Krise: Die politische und wirtschaftliche Situation in den 1970er Jahren“ steht die spezifische Situation in der Bundesrepublik dieser Zeit. Die Autorin geht auf die Bedingungen und Konstellationen ein, die im Kontext einer von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden sowie Sozialverbänden beeinflussten Politik vorgeherrscht haben. Ein besonderer Fokus liegt auch auf den Beweggründen, die bei der Einführung von Sozialbilanzen maßgeblich gewesen sind.
Kapitel 3 „Quantifizierte Lebensqualität: Konzepte der Sozialberichterstattung in den 1970er Jahren“ beschäftigt sich mit dem Social Accounting in den Vereinigten Staaten während der Zeit der sechziger und siebziger Jahren sowie mit den wissenschaftlich induzierten Konzepten zur Sozialbilanzierung. Auch sollte der Frage nachgegangen werden, ob es sich bei der Sozialbilanz überhaupt um eine Innovation handelt, oder ob lediglich eine Form der Bedeutungsverschiebung vorliegt.
Im anschließenden Kapitel 4 „Im Spannungsfeld politischer Interessen“ werden genauer die Strategien von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden im Hinblick auf die Konzeptionierung von Sozialbilanz dargestellt sowie der Diskurs um entsprechende gesetzliche Vorgaben analysiert.
Die Tätigkeit des Arbeitskreises Sozialbilanz-Praxis steht im Zentrum von Kapitel 5 „Pioniere der deutschen Sozialbilanzierung“. Ein besonderes Anliegen der Autorin ist es hier, die Beweggründe von Unternehmen zur Publikation bzw. Erstellung von Sozialbilanzen zu ermitteln sowie deren Realisierung zu umreißen. Als Quellen wurden unter anderem die Materialien der Unternehmen BASF, Deutsche Shell und Bertelsmann ausgewertet.
Anhand der Aktivitäten westdeutscher Unternehmen zeichnet die Autorin dann in Kapitel 6 „Quantitative Entwicklung: Gesellschaftsbezogene Berichterstattung in Geschäftsberichten“ die Entwicklung der Sozialberichterstattung im zweiten Abschnitt des 20. Jahrhunderts nach. Sie betrachtet dabei insbesondere Großunternehmen.
Einen Blick über die Landesgrenzen hinaus erlaubt Kapitel 7. Unter der Überschrift „Eine Idee geht um die Welt: Sozialbilanzierung als globales Phänomen“ wird genauer die Entwicklung des Diskurses um Sozialbilanzirung in Ländern wie Frankreich und in der Schweiz skizziert. Unterschiede werden ebenso deutlich wie Ähnlichkeiten der länderspezifischen Genese unternehmerischer Sozialberichterstattung.
Kapitel 8 „Ökobilanzen und Corporate-Social-Responsibility-Reporting“ untersucht die Entwicklung der Sozialbilanzierung hin zur Ökobilanz, zur Berichterstattung zur Nachhaltigkeit sowie zum aktuellen CSR-Ansatz. Damit wird eine Lücke in der wissenschaftlichen Analyse insoweit geschlossen, als Verbindungslinien zum Sozialbericht der 1970er Jahre fundiert auf- bzw. nachgezeichnet werden.
In Kapitel 9 „Fazit“ werden zum einen die Befunde der Untersuchung zusammengefasst, zum andern wird die These begründet vertreten, dass es sich bei gegenwärtigen Ansätzen rund um Ökobilanzierung und Berichten zur Corporate-Social-Responsibility um Konzepte handelt, welche auf den Entwicklungen der Sozialbilanz-Praxis beruhen. Die Autorin legt unter anderem Wert auf veränderte Perspektiven, die sich aus über die Jahre und Jahrzehnte veränderlichen Sensibilitäten der diversen Gruppen von Rezipienten ergeben haben, sowie auf veränderten kommunikationspolitischen Anliegen und Anforderungen: „Aus dem Wandel des Verständnisses von Adressaten ergeben sich auch die unterschiedlichen Motive der Sozialberichterstattung, die ein Abbild des jeweiligen Zeitgeistes sind“.
Diskussion
Der Fokus auf die Zeit der 1970er Jahre als Zeit intensivierter Unternehmenskommunikation wurde von der Autorin geschickt gewählt, da in dieser Phase die gesellschaftlichen Ansprüche an soziale Verantwortung auch im Bereich der Ökonomie stark angewachsen sind. Die Autorin rekonstruiert diesbezügliche Entwicklungen, wobei sie in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen den Arbeitskreis Sozialbilanz-Praxis und dessen Arbeit im Kontext zentraler Akteure (Wissenschaftler, Vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbundes und wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Institute sowie der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber) untersucht. Die Analysen erfolgen mit gebotener Umsicht und sind im Hinblick auf Quellenlage und Interpretation akribisch belegt.
Die Arbeit vermittelt interessante Einsichten in eine wichtige Phase der Entwicklung von Sozialbilanzen mit allen wesentlichen Implikationen, die sich aus dem Geflecht von komplementären und antagonistischen Institutionen des Wirtschafts- und Sozialstaats ergeben. Dazu gehört auch der Befund, dass sich in den Unternehmen in dieser Zeit ein neuer Fokus auf „Stakeholder“ und deren Bedeutung für wirtschaftlichen Erfolg entwickelt hat. In die Marketinglehre ist dieser erweitere Blick auf Umwelten schließlich wenige Jahre später, jedoch dann sehr dezidiert, eingegangen. Gleichzeitig spiegelt sich im Wandel der Themen und Schwerpunkte unternehmerische Berichterstattung auch eine veränderte Anspruchshaltung der Öffentlichkeit.
Fazit
Ein geschichtswissenschaftlich wichtiger Beitrag zur Diskussion um den ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Zäsurcharakter der 1970er Jahre.
Rezension von
Prof. Dr. Harald Christa
Professor für Sozialmanagement an der Evangelischen Hochschule Dresden mit Schwerpunkt Sozio-Marketing, Strategisches Management, Qualitätsmanagement/ fachliches Controlling.
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