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Tonio Walter: Strafe und Vergeltung - Rehabilitation und Grenzen eines Prinzips

Rezensiert von Sabine Hollewedde, 18.10.2016

Cover Tonio Walter: Strafe und Vergeltung - Rehabilitation und Grenzen eines Prinzips ISBN 978-3-8487-3287-6

Tonio Walter: Strafe und Vergeltung - Rehabilitation und Grenzen eines Prinzips. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2016. 22 Seiten. ISBN 978-3-8487-3287-6. D: 12,00 EUR, A: 6,20 EUR.

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Thema

Der Zweck des modernen Strafrechts wird in der Regel in der Resozialisierung der Straffälligen gesehen und zugleich in Prävention und der Stabilisierung von gesellschaftlichen Normen. Walter stellt diese Zwecke von Strafe in Frage und skizziert in diesem Manuskript eines im November 2015 vor der Juristischen Studiengesellschaft Regensburg gehaltenen Vortrags sein Konzept einer empirisch-soziologischen Theorie der Vergeltung als Grundlage von Strafe.

Aufbau und Inhalt

Vergeltung ist laut Walter ein elementares Bedürfnis von Menschen und dieses macht er daher zur Grundlage seiner Straftheorie. Nach diesem Bedürfnis müsse sich das Recht (der Gesetzgeber) richten, um die Stabilität der Gesellschaft zu befördern. Im Gegensatz zu Rache habe der Vergeltungsbegriff durchaus positive Bedeutungen, allgemein bedeute er, „jemandem das zuteil werden lassen, was er zu beanspruchen hat – im Guten wie im Schlechten.“ (S. 10) Diese Bestimmung von Vergeltung als Gerechtigkeit habe auch Immanuel Kant gemeint: „einem jeden möge das widerfahren, was […] – ‚seine Taten wert sind‘.“ (S. 7)

Als belegendes Beispiel für den „elementaren Hunger nach Gerechtigkeit“, also: „Vergeltung“ (S. 7) führt Walter exemplarisch den 2015 verhandelten Fall des „Buchhalters von Auschwitz“ Oskar Gröning an. Die vergebende Geste einer Nebenklägerin stand dem Beharren der weiteren Nebenkläger auf Bestrafung gegenüber. Dies lasse sich nur durch diesen Hunger erklären – Recht dieser Menschen sei damit Vergeltung auszuüben und diese solle daher zur Grundlage des Strafrechts gemacht werden.

Wesen und Zweck von Strafe ließen sich nicht voneinander trennen und seien in erster Linie die Vergeltung. Dies wird von Walter empirisch-soziologisch begründet, wobei eine rechtsphilosophische Begründung bewusst offen gelassen wird. (S. 10) Durch eine solche, auf eine empirische Basis gestützte Argumentation wird verdeutlicht, dass es bei Bestrafung zum einen darum geht, Menschen, die laut Walter grundsätzlich ein Vergeltungsbedürfnis haben, zu ihrem Recht kommen zu lassen (S. 21), zum anderen werden durch solche, sich an Vergeltungsbedürfnissen orientierende Strafen gesellschaftliche Normen gestärkt und damit Gesellschaft stabilisiert. „Ausgangspunkt der empirisch-soziologischen Vergeltungstheorie ist der Befund, dass jeder Mensch ein Vergeltungsbedürfnis hat, wenn er von Unrecht erfährt. Hat aber jeder Mensch ein solches Gefühl, so hat es auch die Gesellschaft; denn sie setzt sich aus den einzelnen Menschen zusammen.“ (S. 10) Indem eine so verfahrende Straftheorie von Gefühlen und Einschätzungen der „Bürger“ ausgehe, stärke sie zugleich die Gesellschaft als eine Gemeinschaft von Menschen, welche sich durch Normen verbunden fühlt. Gesellschaft habe das Recht, „die Bedingungen zu erhalten, die ihr Bestand verlangt“ und damit auch „das Recht, ihre Vergeltungsbedürfnisse zu befriedigen“ (S. 10). „Will man also einer empirisch-soziologischen Vergeltungslehre etwas abgewinnen, dann muss man es für plausibel halten, dass wir – alles in allem – in einer erhaltenswerten Gesellschaft leben, die das Recht hat, ihren Bestand zu sichern. Ich tue das.“ (S. 11)

Damit Recht in der Gesellschaft gilt, muss es ‚menschlichen Bedürfnissen‘ entsprechen und kann nicht äußerlich aufgezwungen werden. „Das Recht muss aber in der menschlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit gelten können, und das könnte es nicht, wenn es das allgegenwärtige Bedürfnis der Menschen nach Gerechtigkeit und damit Vergeltung ignorierte.“ (S. 14) Deshalb zieht Walter Folgerungen für die Gesetzgebung aus seinem theoretischen Ansatz: 1. Der Gesetzgeber sollte sich „stärker an den Vergeltungsbedürfnissen der Bürger orientieren“, wobei hier nicht an den „Mob auf der Straße“, sondern an den „informierte[n] Bürger“ zu denken sei (S. 18). 2. Der Gesetzgeber sollte „den Strafrahmen enger fassen“. 3. Walter schlägt vor, eine neue Hauptstrafe einzuführen, nämlich „die gemeinnützige Arbeit als gleichberechtigt neben Freiheits- und der Geldstrafe als Hauptsanktion“. (S. 20) 4. Die „Entschädigung für zu Unrecht verbüßte Strafhaft“ sollte deutlich erhöht werden, da sie derzeit nicht dem Gerechtigkeitsempfinden der meisten Menschen entspreche. Insgesamt plädiert Walter für eine stärkere Schwereforschung, welche sich auch mit der Frage zu befassen habe, „welche Handlungen die Bürger überhaupt als strafwürdig erachten.“ (S. 20) Indem Strafe nicht zuvörderst der Resozialisierung oder der Prävention diene, müsse das Strafrecht gewissermaßen bescheidener aufgefasst werden. Die letzte Folgerung „ist schlicht, sich von den Kriminalstrafen nicht allzu viel zu erwarten.“ (S. 21)

Diskussion

Tonio Walter klammert in dieser kurzen Schrift explizit rechtsphilosophische Begründungen von Vergeltung als Strafzweck aus. Ein solcher „Ansatz widerspricht dem empirisch-soziologischen auch nicht, sondern ergänzt ihn.“ (S. 10) Gleichwohl scheinen in seiner Rede rechtsphilosophische Voraussetzungen auf, welche aber mit der Begründung, dass eben nur die soziologische Herangehensweise betrachtet werden solle, nicht weiter ausgeführt werden. Dabei werden Grenzen einer rein empirisch verfahrenden Herleitung eines Strafrechtsprinzip deutlich, etwa wenn es um das Verhältnis von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘ und dessen Relevanz für eine Straftheorie geht (vgl. S. 12 f.). Walter operiert hier mit philosophischen Begriffen (Zweck, Wesen), welche auf ethische und epistemologische Grundannahmen verweisen, die jedoch an dieser Stelle nicht ausgeführt werden – aber, so wird gleichsam deutlich, auch in einer Straftheorie nicht ausgeklammert werden können. „Aufgabe des vorliegenden Heftes ist es, meine empirisch-soziologische Straftheorie knapp und leicht lesbar zur Diskussion zu stellen.“ (S. 5) So begründet der Autor im Vorwort, dass im Rahmen dieser Schrift nicht alle Thesen belegt werden konnten, und verweist auf andere seiner Schriften, die dieses einholten. Dennoch sei an dieser Stelle erlaubt, auf ein paar Fragen hinzuweisen, die sich angesichts dieser empirisch ausgerichteten Straftheorie stellen.

Vergeltung wird von Walter als Grundlage und Zweck des Strafrechts angesehen. Höhere Prinzipien könnten das Recht nicht leiten und Prävention sei nur begrenzt empirisch zu konstatieren. Mit dem eingangs angeführten Kant wird die Gleichsetzung von Gerechtigkeit und Vergeltung begründet, wobei fraglich ist, ob diese Parallele so zu ziehen ist, wie es Walter tut, wird von Kant das ius talionis doch explizit als Vergeltungsrecht des Staates gegen die Bürger begründet, nicht als privates Recht oder aus den Bedürfnissen der einzelnen Menschen heraus. Kant hat einen nicht-empiristischen Begriff von der bürgerlichen Gesellschaft, hinter welchem die Idee einer vollkommenen bürgerlichen Verfassung steht. Eine solche Idee muss Walter ausklammern und argumentiert so auf einer gänzlich anderen Grundlage als der Philosoph Kant. Für Walter ist diese Frage nach einer vernünftigen Begründung des Strafrechts nicht von Interesse, da eben „nicht vom Sollen aufs Sollen“ zu schließen sei (S. 13), womit potenziellen Einwänden gegen einen naturalistischen Fehlschluss entgegnet wird. Daher muss Walter ausdrücklich die Affirmation der bestehenden Gesellschaft und die (scheinbar natürlichen) Bedürfnisse der Individuen in dieser Gesellschaft zur Grundlage seiner Theorie erklären und weist darauf hin, dass ohne diese Grundlage seine Theorie kein Fundament habe. Damit wird aber bereits eine ganz bestimmte rechtliche und gesellschaftliche Praxis zum Maßstab gemacht. Dies kommt auch zum Ausdruck, wenn ‚der Gesellschaft‘ selbst das Bedürfnis konstatiert wird, Vergeltung zu üben, um ihren Bestand zu sichern (S. 10). Hier wird nicht bloß naturalistisch kurzgeschlossen, sondern es wird von Individuen auf Gesellschaft geschlossen und suggeriert, dass Gesellschaft als ein Subjekt zu fassen sei, welches Interessen der Individuen nicht bloß ausführe, sondern sich diese Interessen zu eigen mache. Der Begriff, welchen Walter hier von ‚Gesellschaft‘ zugrunde legt, wäre zu diskutieren.

Die zunächst als mangelnd erscheinende Unterscheidung von Gesellschaft und Staat fällt weiter auf. Ist es die Gesellschaft, die Strafen vollzieht? Ist es nicht in der bürgerlichen Gesellschaft vielmehr so, dass das Recht und die Gerichte eine gegenüber den Individuen herausgehobene staatliche Funktion innehaben? Die Formulierung, dass Strafe gleichsam nur die Funktion habe, eine Norm zu unterstreichen, erinnert an Durkheims Bestimmung von Strafe. Mit dem Unterschied, dass Durkheim einen Begriff von Gesellschaft hat, der im Gegensatz zu individuellen Moralvorstellungen steht. Nach Durkheim verletzt Kriminalität ein Kollektivgefühl – ein Gefühl, welches nicht auf die Summe der einzelnen Bewusstseine der Individuen zurückzuführen ist. Tonio Walter dagegen möchte sich auf das Vergeltungsbedürfnis der ‚Bevölkerung‘ stützen und daraus Recht ableiten. Um des Willens zur Vergeltung einzelner Menschen geschehe es, „wenn wir auf Verbrechen mit einer Kriminalstrafe reagieren.“ (S. 8)

Die Folgerungen, welche Walter aus seiner Theorie für die Gestaltung des Strafrechts zieht, sind sicher anwendbar und verdienen es, diskutiert zu werden. Vor allem die Forderung, gemeinnützige Arbeit mit ins Strafrecht aufzunehmen, dürfte von einem großen öffentlichen Interesse sein, wobei sich zugleich pragmatische Fragen stellen, wie dies zu realisieren ist. Hierauf jedoch weist Walter bereits hin.

Fazit

Dieses Heft leistet einen wichtigen und streitbaren Beitrag zu straftheoretischen Forschung und sollte auch in kriminal-soziologischen Seminaren zur Diskussion gestellt werden, die bestimmt durch diesen Beitrag provoziert wird und höchst kontrovers verlaufen dürfte.

Rezension von
Sabine Hollewedde
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Es gibt 21 Rezensionen von Sabine Hollewedde.

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Zitiervorschlag
Sabine Hollewedde. Rezension vom 18.10.2016 zu: Tonio Walter: Strafe und Vergeltung - Rehabilitation und Grenzen eines Prinzips. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2016. ISBN 978-3-8487-3287-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21462.php, Datum des Zugriffs 29.09.2023.


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