Wilhelm Schröder: Jugendknast (Interviews mit Strafgefangenen)
Rezensiert von Dr. Susann Prätor, Katharina Stoll, 15.03.2017
Wilhelm Schröder: Jugendknast. 13 Interviews mit Strafgefangenen. Gescheiterte Lebensentwürfe junger Erwachsener. Eiin Lesebuch - nicht nur für Schulen. Vier JahreszeitenHaus Verlag im Münsterland (Münster) 2016. 184 Seiten. ISBN 978-3-86999-323-2. D: 15,50 EUR, A: 16,00 EUR, CH: 16,70 sFr.
Autor
Wilhelm Schröder, geb. 1943, studierte Pädagogik und Sonderpädagogik und war über zwanzig Jahre im Ruhrgebiet als Schulleiter tätig. Seit 2008 ist er im Ruhestand und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht (u.a. zu Depressionen und Parkinson und zum Alltag in Sonderschulen).
Entstehungshintergrund und Thema
Der Autor dieses Buches, viele Jahre Lehrer bzw. Schulleiter an Sonder- und Förderschulen, gibt anhand von Schilderungen der Lebensverläufe zweier ehemaliger Schüler sowie insgesamt 14 (und nicht wie im Titel angekündigt 13) Interviews mit inhaftierten Jugendlichen/Heranwachsenden Einblicke in deren Weg in die Kriminalität. Durch Interviews mit jugendlichen Strafgefangenen werden deren Lebensverläufe bis zur Inhaftierung nachgezeichnet und geschildert, wie diese die Inhaftierung erleben, welche persönlichen Ziele sie für die Zeit nach der Haft verfolgen und welchen Rat die jugendlichen Inhaftierten an junge Leser weitergeben möchten.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich in mehrere kleine Abschnitte. Den zentralen Teil des Buches bilden die Gespräche mit jugendlichen Strafgefangenen in der JVA Wuppertal-Ronsdorf.
Im Geleitwort des Buches erörtert Rupert Koch, Anstaltsleiter der JVA Wuppertal-Ronsdorf, sehr ausführlich die Bedingungen des Jugendstrafvollzuges in Ronsdorf. Zunächst wird dargestellt, wie viele Haftplätze es überhaupt gibt, wie sich diese auf die verschiedenen Merkmale (Untersuchungs-/Strafhaft, Einzel-/Doppelhafträume) aufteilen und wie man sich die Anstalt baulich vorstellen muss. Nach einer kurzen Darstellung zentraler Regelungen des Jugendstrafvollzugsgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen werden unter Bezug auf entsprechende gesetzliche Grundlagen die verschiedene Differenzierungs- und Fördermöglichkeiten genauer beschrieben (Wohngruppenvollzug, sozialtherapeutische Abteilung, schulische/berufliche Qualifizierungsangebote). Abschließend werden Zahlen zur Zusammensetzung des Personals berichtet.
In der diesem Abschnitt folgenden Einführung beschreibt der Autor seine Wahrnehmung von der Situation und den Problemlagen inhaftierter Jugendlicher. Bezugnehmend auf die Arbeiten von Negt (2012) und Buschkowsky (2012) wird die Bedeutung von Bildungsteilhabe für die Entwicklung von Jugendlichen und die berufliche Integration thematisiert. Zudem wird kurz auf Kosten und Wirkung des Jugendstrafvollzuges eingegangen. Am Ende dieses Abschnittes erläutert der Autor, wann die Gespräche mit den jungen inhaftierten Männern geführt wurden (Januar bis April 2013) und dass es sich um Gesprächsprotokolle und nicht um Tonband-Abschriften handelt.
Im Abschnitt Leitfaden für die Gespräche wird kurz dargestellt, welche zentralen Aspekte im Interview angesprochen werden sollten (Biografische Angaben, Schule, Arbeit, erste Probleme/Einstieg in die Kriminalität, Delikte, die zur Jugendstrafe führten, Aufgabe der JVA/der Inhaftierung, Verarbeitung der Taten/Reue, persönliche Ziele „draußen“ sowie Rat an junge Leser). Zudem wird dargestellt, dass es sich um „impuls-gesteuerte“ Gespräche handelt, die nicht weiter interpretiert oder systematisiert wurden (S. 45). An diesen Abschnitt schließt sich ein kurzer Abschnitt zur Sprache des Buches an; die Sprechweise der Gesprächspartner wurde weitestgehend beibehalten, und nur in Einzelfällen wurde vom Autor „nachgebessert“ (bspw. bei wiederholter Verwendung von Kraftausdrücken).
Im darauf folgenden Abschnitt Langzeitbeobachtungen zweier ehemaliger Schüler beschreibt der Autor (z.T. basierend auf Erzählungen des Schülers, z.T. auf Erlebnisse des Autors mit dem Schüler) zunächst die Biografie seines ehemaligen Schülers Jens, den er seit der 7. Klasse aus der Sonderschule kennt und den er Jahre später als Bettler auf der Straße wieder erkennt. Ähnlich erfolgt die Beschreibung der Lebensgeschichte seines ehemaligen Schülers Marcel, der ihn Jahre später besucht und – wie auch Jens – von seiner Inhaftierung berichtet.
Den Schwerpunkt des Buches bilden die 14 Interviews, die im Kapitel Gespräche in der JVA Ronsdorf dargestellt werden. Auf jeweils 4-6 Seiten werden – wie vom Autor angekündigt – protokollartig (und nicht wortwörtlich) die Antworten der jungen Gefangenen zu den erfragten Themenbereichen wiedergegeben, wobei die Gefangenen jeweils unterschiedliche Schwerpunktsetzungen vorgenommen haben. Nach einer kurzen biografischen Darstellung und Beschreibung der familiären Situation sowie der Kindergarten- und Schulzeit wird aus Sicht der Gefangenen der Weg in die Kriminalität beschrieben. Es erfolgt eine Bewertung der eigenen Tat, der Verurteilung durch das Gericht und des Strafmaßes und eine Beschreibung der aktuellen Situation in Haft sowie der Zukunftsperspektiven. Abschließend geben die jungen Strafgefangenen dem Leser jeweils mehr oder weniger explizit einen Rat im Hinblick auf die Vermeidung kriminellen Verhaltens.
Im Abschnitt Tipp Podknast verweist der Autor auf die unter www.podknast.de abrufbaren Videos zum Innenleben der JVA Wuppertal-Ronsdorf, die aus Sicht des Autors die Gefängnisrealität aber nur eingeschränkt wiedergeben können. Zudem zieht er sein persönliches Fazit aus den Gesprächen mit den Strafgefangenen (ab S. 147).
Anschließend werden im Abschnitt Mögliche Themen für Schülerinnen und Schüler Fragen bzw. Aufgaben angeführt, die z.B. im Unterricht nach Lektüre des Buches diskutiert bzw. bearbeitet werden können.
Der recht umfangreiche Anhang beinhaltet das Konzept Sozialpsychiatrischer Dient in der JVA, Basisregeln, Kommunikations- und Verhaltensregeln sowie ein Knast-Lexikon.
Diskussion
Sowohl durch die anfänglichen Ausführungen des Anstaltsleiters der JVA Wuppertal-Ronsdorf als auch durch die Interviews der jugendlichen Strafgefangenen erhält der Leser aus jeweils verschiedenen Perspektiven einen ersten Einblick in die Welt des Jugendstrafvollzuges. Trotz der interessanten Beschreibung der Lebensläufe der beiden ehemaligen Schüler (Jens und Marcel) des Autors, stellt dieser Abschnitt in gewisser Weise lediglich eine Hinführung zum Thema dar, da auf deren konkrete Erfahrungen und Erlebnisse im Jugendstrafvollzug nahezu gar nicht eingegangen wird. Im Vordergrund steht die Darstellung – vom Autor als Langzeitbeobachtung bezeichnet – der Schulzeit und der jeweiligen Problemlagen und Verhaltensauffälligkeiten von Jens und Marcel aus Perspektive des Autors.
Die Interviews mit den jungen Strafgefangenen sind kurzweilig, kompakt und in für Jugendliche (als Zielgruppe dieses Buches) leicht verständlicher Sprache dargestellt. Die Interviews mit den inhaftierten jungen Männern veranschaulichen, wie unterschiedlich nicht nur die Schwerpunktsetzungen der Befragten, sondern auch deren Kriminalitätsverläufe, deren Wahrnehmung der Haftsituation („Ich fühle mich hier wohl“, Okan, S. 89; „Knast ist Scheiße“, Kevin, S. 89, „Hier in Ronsdorf sind die Strafen zu lasch, in anderen Knästen wird härter durchgegriffen“, Max, S. 133) und der Tat sowie deren Schlussfolgerungen für ihr zukünftiges Leben sind. Nahezu jedes Interview endet mit einem Rat an junge Leser. Sie reichen von „Jeder ist für sich selbst verantwortlich“ (Dennis, S. 74) über „Sagt Nein zu allem, was euch nicht gut tut. Meidet falsche Freunde! Wahre Freunde sagen euch: Hört auf mit dem Scheiß!“ (Okan, S. 89) bis zu Auflistungen von mehreren „Tipps“ (u.a. „Finger weg von Drogen, geht zur Schule, macht einen Abschluss, Freiheit ist das höchste Gut, hier fühlst du dich eingesperrt wie ein Hund, wer schlau ist, ist cool – versuche das zu sein…“, Pablo, S. 138, „Jungen Leuten kann ich nur empfehlen, sich Ziele im Leben zu setzen, nicht auf der Straße rumzuhängen und die Finger von Drogen zu lassen, die machen dich nämlich kaputt“, Martin, S. 116), die an junge Leser weitergegeben werden sollen. Dies verdeutlicht dem Leser, dass viele der Jugendstrafgefangenen eine recht genaue Vorstellung davon haben, warum sie sich in der Vergangenheit kriminell verhalten haben bzw. welche Faktoren den Einstieg in die Kriminalität bzw. auch den Ausstieg daraus beeinflussen können.
Wenngleich es sich um jeweils sehr verschiedene Geschichten handelt, ist die Lektüre der immer wieder nach dem gleichen Schema wiedergegebenen Gespräche teilweise etwas langatmig. Bisweilen sind biografische Verläufe sowie die strafrechtliche Vorgeschichte (Abfolge von vorangegangenen Verurteilungen) nicht ganz nachvollziehbar, was angesichts der recht kompakten Darstellung der Interviews jedoch nicht überraschend ist.
Eine Beschränkung auf weniger jugendliche Strafgefangene, die ihre Geschichte dafür eingehender beschreiben können, wäre für den Leser möglicherweise hilfreich gewesen und hätte die durch den Titel des Buches geweckte Erwartung des Lesers, Informationen vor allem zur Situation im Jugendknast (z.B. Ängsten, Gewalt, Anpassungsschwierigkeiten) zu erhalten, eher einlösen können. Dies gilt ebenso mit Blick auf eine zusammenfassende Systematisierung und Strukturierung der Antworten der Befragten, auf die der Autor jedoch ausdrücklich verzichtet hat (S. 45). Gleichwohl wird auf S. 147ff. ein persönliches Resümee gezogen, das sich jedoch nicht unmittelbar aus den Interviews ergibt. Die Folgerung „Es gab keinen, der den Knast nicht Scheiße findet. Dennoch zieht es 40-60 % offensichtlich magisch dahin zurück, denn so hoch ist die Zahl der Rückfall-Täter“ (S. 148) beispielsweise erscheint nicht nur vor dem Hintergrund fehlender Quellenangaben fragwürdig.
Gerade die Interviews mit den Gefangenen machten deutlich, dass von einer „magischen“ Anziehungskraft des Jugendstrafvollzuges keine Rede sein kann („Der Knast ist nicht leicht. Vertraut nicht den Sprüchen derer, die vom Knast erzählen als sei es der Himmel – es ist die Hölle“, Alexander, S. 97; „Ich sage euch: Das Gefängnis ist schlimmer als der Tod.“, Kain, S. 108, „Knast macht dich psychisch krank, du bist eingesperrt wie ein Tier. Die Freiheit fehlt am meisten.“, Kain, S. 110).
Alternative Erklärungen für erneute Straffälligkeit nach Entlassung werden an dieser Stelle nicht diskutiert. Die angehängten Dokumente, insbesondere das Konzept zum sozialpsychiatrischen Dienst in der JVA (der JVA Siegburg und nicht der JVA Wuppertal-Ronsdorf), sind für die Zielgruppe der jugendlichen Leser zunächst schwer einzuordnen, da der Fokus des Buches nicht auf der Sozialtherapie lag.
Dennoch sind die Informationen zum konkreten Therapieablauf in einer Sozialtherapeutischen Abteilung sowie das Konzept der Wohngruppe und die Regeln für das Miteinander durchaus interessant und geben Einblicke in die Abläufe der Behandlungsarbeit im Jugendstrafvollzug. Dieser Aspekt wird in den Interviews von den Jugendstrafgefangenen lediglich jeweils nur kurz angesprochen und nicht weiter ausgeführt (bspw. „Hier im Knast habe ich an zwei Gruppen teilgenommen, die jeweils über 12 Wochen liefen. Die eine Gruppe war Drogenprävention, die andere ‚Fit für Babys und Kids‘“, Toni, S. 79; „Ich habe hier an einem sozialen Training teilgenommen und an einem Kurs Drogenprävention.“ Okan, S. 87).
Insgesamt wäre vor dem Hintergrund der vorgeschlagenen Verwendung des Buches im Schulunterricht und im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema die Heranziehung weiterer und einschlägiger Quellen (z.B. bei der Darstellung von Befunden zur Jugendkriminalität oder zur Rückfälligkeit) wünschenswert gewesen, auch wenn dem Buch kein wissenschaftlicher Anspruch zugrunde liegt.
Fazit
Das vorliegende Werk – und hier insbesondere die Interviews mit den Strafgefangenen – ist für Jugendliche bzw. Schüler ein gut zu lesendes und kurzweiliges Buch und ermöglicht vielfältige Einblicke in die Lebenswelt krimineller Jugendlicher. Für den Unterricht können die Interviews sicherlich eine gute Diskussionsgrundlage bilden. Ob der vom Autor geäußerte Wunsch „dass der ein oder andere junge Leser durch die Lektüre des Buches davon abgehalten wird, ein ‚böser‘ Bube zu werden und in die Dissozialität abzugleiten“ (S. 43) tatsächlich erfüllt wird bzw. die Lektüre des Buches als „Lebenshilfe“ (S. 151) – wie vom Autor in einer Frage an die Schülerinnen und Schüler bezeichnet – angesehen wird, darf allerdings bezweifelt werden. Dies würde u.a. voraussetzen, dass die Entscheidung für kriminelles Verhalten bewusst getroffen wird und dass problematische Lebensumstände direkt durch den hiervon betroffenen Jugendlichen beeinflusst werden könnten. Dass dem nicht so ist, wird beim Lesen der Interviews sehr deutlich.
Für den wissenschaftlich interessierten Leser oder jemanden, der sich vor dem Hintergrund des Buchtitels tiefergehende Einblicke vor allem in die Welt eines Jugendgefängnisses wünscht, ist dieses Buch nur bedingt geeignet.
Rezension von
Dr. Susann Prätor
Soziologin M.A.
Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kriminologischen Dienst im Bildungsinstitut des niedersächsischen Justizvollzuges
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Katharina Stoll
Dipl.-Sozialwissenschaftlerin.
Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kriminologischen Dienst für den Berliner Justizvollzug und die Sozialen Dienste der Justiz
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Zitiervorschlag
Susann Prätor, Katharina Stoll. Rezension vom 15.03.2017 zu:
Wilhelm Schröder: Jugendknast. 13 Interviews mit Strafgefangenen. Gescheiterte Lebensentwürfe junger Erwachsener. Eiin Lesebuch - nicht nur für Schulen. Vier JahreszeitenHaus Verlag im Münsterland
(Münster) 2016.
ISBN 978-3-86999-323-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21482.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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