Jean A. Ayres: Bausteine der kindlichen Entwicklung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 16.01.2017

Jean A. Ayres: Bausteine der kindlichen Entwicklung. Sensorische Integration verstehen und anwenden - Das Original in moderner Neuauflage. Springer (Berlin) 2016. 6., korr. Auflage. 304 Seiten. ISBN 978-3-662-52890-7. D: 29,99 EUR, A: 30,83 EUR, CH: 31,00 sFr.
Thema
Der Ansatz von Frau Dr. Anna Jean Ayres versucht unterschiedliche Störungen aus einer fehlerhaften Verarbeitung sensorischer Informationen im Gehirn zu erklären. Die Therapie setzt am Erlernen grundlegender Verarbeitungsmechanismen an. Ihre Theorie der Sensorischen Integration (SI) hat in den letzten 30 Jahren die Welt erobert und das Verständnis der kindlichen Entwicklung entscheidend verändert. Ayres verstand es, die Erkenntnisse ihrer langjährigen wissenschaftlichen Arbeit für alle, die mit Kindern zu tun haben, verständlich darzustellen. Das Buch zeigt, wie die Verarbeitung von Sinnesinformationen die kindliche Entwicklung grundlegend beeinflusst und wie sich Störungen dieses Prozesses auf das Lernen, die Gefühlswelt, das Verhalten und die sozialen Beziehungen auswirken. Es gibt zahlreiche Anregungen für die therapeutische und pädagogische Unterstützung und Begleitung. Zielgruppen sind vor allem Eltern und Fachmenschen aller Berufsgruppen.
Autorin
Anna Jean Ayres, geboren 1920 (gestorben 1989) war Entwicklungspsychologin in den USA. Vor dem Studium in Psychologie arbeitete sie als ausgebildete Ergotherapeutin. Nach dem Studium habilitierte sie am Institut für Hirnforschung. Als Therapeutin hat sie sich mit neurologischen Auffälligkeiten auseinandergesetzt und auf Grundlage ihrer Erkenntnisse die Sensorischen Integration entwickelt.
Entstehungshintergrund
Das hier vorgelegte Buch ist mittlerweile in der 6. Auflage erschienen, die komplett überarbeitet wurde.
Aufbau und Inhalt
Das Buch hat einen Umfang von 300 Seiten, die sich in drei Teile und elf Kapitel untergliedern. Es ist im Softcoverformat erschienen. 106 Abbildungen, viele zeigen Kinder in Aktion, zahlreiche Fallgeschichten, Beispiele und Metaphern sowie Checklisten und Hinweise vervollständigen die Ausführungen. Merkmal des Buches ist seine Verständlichkeit und seine ausgezeichnete Gliederung. Am oberen Seitenrand sind die Seitenzahlen und die Kapitelnummern abgedruckt, am linken oberen Rand die Kapitelüberschrift, am rechten oberen Rand die Überschrift des jeweiligen Abschnittes. Im Fließtext sind einzelne Abschnitte durch Trennlinien voneinander abgehoben, Merksätze sind blau markiert und Textboxen enthalten wichtige Definitionen und Hinweise wie z.B. Exkurse oder Tipps für Eltern, die dazu einladen, sich in die Situation des Kindes hineinzuversetzen. Der Fließtext ist eingerückt und ermöglicht damit Platz für besondere Hinweise, Anmerkungen oder Zitate sowie eigene Notizen.
Es gibt drei Teile, jeder Teil beginnt mit einer Übersicht über die folgenden Kapitel, die wiederum in einzelnen Übersichten aufgeführt sind. Vier Anhänge sowie ein Stichwort- und Literaturverzeichnis machen dieses Standardwerk komplett.
- Sensorische Integration und das Gehirn (Kap. 1 - 3)
- Störungen der Sensorischen Integration (Kap. 4 - 9)
- Was kann getan werden? (Kap. 10 - 11)
Die elf Kapitel haben folgende Überschriften:
- Was ist sensorische Integration?
- Die Entwicklung der sensorischen Integration
- Das Nervensystem von innen
- Was sind sensorische Integrationsstörungen?
- Störungen des Gleichgewichtssystems
- Entwicklungsdyspraxie
- Taktile Abwehr
- Störungen der visuellen und auditiven Wahrnehmung
- Kinder mit Autismus
- Befundung und Behandlung
- Was Eltern tun können
Der erste Teil Sensorische Integration und das Gehirn gliedert sich in drei Kapitel und behandelt die Frage, was Sensorische Integration ist. Fachbegriff werden verständlich erklärt, sodass die Zusammenhänge auch für die Zielgruppe der Eltern, die Laien sind, nachvollziehbar sind. Das erste Kapitel definiert anhand von acht Aspekten, was unter Sensorischer Integration zu verstehen ist z.B. bezeichnet Ayres sie als Nahrung für das Gehirn. Erklärt wird, wie der Weg vom Sinnesreiz zum Sinn verläuft, es geht um die sensorische Integration im Lebenslauf, um anpassende Reaktionen, um die sensorische Verarbeitung oder darum „Spaß“ im Sinne der Integration der Sinne zu haben. Voraussetzung dafür ist, dass das Kind Herausforderungen erfolgreich bewältigen kann. An Ende des Kapitels wird erläutert, was schlechte sensorische Integration ist.
Für die Diagnostik und Befundaufnahme ist eine sensible Beobachtung sehr wichtig, dazu gehört, Frühsymptome zu erkennen und z.B. Schwierigkeiten in der Schule rechtzeitig wahrzunehmen. Ayres hat das Buch auch deshalb geschrieben, um Eltern (Laien) zu beteiligen und ihnen die Möglichkeit zu geben, eine sensorische Perspektive einzunehmen, dabei alle Sinneseindrücke kennen zu lernen, die das Gehirn verarbeiten muss. Vor der Nutzung der Informationen müssen Sinneseindrücke verarbeitet werden. Erst dann kann der Körper und geistige Prozesse gesteuert werden.
Das zweite Kapitel Die Entwicklung der sensorischen Integration erläutert die Grundprinzipien der kindlichen Entwicklung wie die Organisation durch anpassende Reaktionen, der innere Antrieb, den Bausteinen der Entwicklung und den Entwicklungsstufen vom ersten Lebensmonat bis zum 7. Lebensjahr.
Von Bestandteilen des Nervensystems handelt das dritte Kapitel. Die Autorin erklärt, wie das Gehirn Informationen verarbeitet, wie Nervenbahnen und Synapsen arbeiten. Neben der Bahnung und Hemmung und die Entwicklung von Nervenverbindungen steht auch die Sinnesverarbeitung im Fokus z.B. der vestibuläre Sinn, also der Gleichgewichtssinn oder viszerale Sinn, gemeint ist die Sensibilität der inneren Organe. Beschrieben wird wie das Gehirn lernt, Sinnesinformationen zu integrieren und wie ältere Kinder und Erwachsene lernen. Das Lernen kann man lernen, innerhalb und außerhalb des therapeutischen Kontextes.
Der zweite Teil Störungen der sensorischen Integration gliedert sich in fünf Kapitel. Darin sind sensorische Integrationsstörungen, deren Symptome, Ursachen und Ebenen maßgeblich. Um Zeichen und Symptome von sensorischen Integrationsstörungen zu erkennen muss verstanden werden, wie der integrative Prozess gelingt. Es gibt vier Integrationsstadien.
Im fünften Kapitel werden Störungen des Gleichgewichtssystems besprochen. Ausgangspunkt ist die störungsfreie Organisation des Gleichgewichtssystems, die Modulation, der Einfluss auf die Augen- und Nackenmuskulatur, die Einflüsse auf die Muskeln und den Körper, die Halte- und Gleichgewichtsreaktionen sowie die Zusammenarbeit des vestibulären Systems mit der sog „Formatio reticularis“, die Interaktionen mit anderen Sinnessystemen, die Raumwahrnehmung, die Einflüsse auf die emotionale Entwicklung und das Verhalten sowie die Einflüsse auf die Verdauungsorgane. Hier werden auch die Einflüsse auf Schulleistungen beleuchtet. Auch geht es um den Zusammenhang von einem unterempfindlichen Gleichgewichtssystem und den Folgen einer vestibulär bedingten bilateralen Integrationsstörung sowie vestibulär bedingten Sprachstörungen. Es wird reflektiert, welche Folgen es hat, wenn Gleichgewichtsreize überreagieren, wenn die Schwerkraft unsicher ist oder wenn eine Bewegungsunverträglichkeit auftritt.
Von der Entwicklungsdyspraxie handelt das sechste Kapitel. Darunter zählen die Bewegungsarten und Bewegungsstörungen im Allgemeinen, die exakten Bewegungssteuerung sowie die Haltereaktionen im Speziellen. Ausgeführt werden die Zusammenhänge von Körperschema und Bewegungsplanung, wie der Berührungssinn zu Körperschema und Bewegungsplanung beiträgt, wie der Kraft- und Stellungssinn (Propriozeption) zu Körperschema und Bewegungsplanung beiträgt und welchen Beitrag der Gleichgewichtssinn zu Körperschema und Bewegungsplanung leistet. Viele Menschen müssen nicht darüber nachdenken, was sie tun. Bewegungen kommen automatisch, einfach weil die Aufgabe da ist. Dieser Prozess wird auch als „flow“ bezeichnet. Das ist nicht bei jedem Menschen selbstverständlich. Im dritten Abschnitt dieses Kapitels werden Kennzeichen der Entwicklungsdyspraxie in Hinblick auf Schulleistungen beschrieben. Dabei geht es vor allem auch darum, wie sich ein Kind mit Dyspraxie fühlt. Dyspraktische Kinder sind nicht im Fluss, weil ihre Körpersprache lückenhaft ist. Das bedingt, dass sie „Gelegenheiten für Spaß“ (S. 139) nicht erkennen.
Das siebte Kapitel mit der Überschrift Taktile Abwehr beschreibt die Symptome im Allgemeinen und im Speziellen, wie das Kind, das diese Bedingungen erfährt, Berührungen erlebt. Der Begriff beschreibt die Tendenz, auf Berührungsreize negativ und emotional zu reagieren. Ausgeführt wird, was im Nervensystem vor sich geht und was falsch gelaufen ist. Dyspraktische Kinder haben viele Schwierigkeiten in verschiedenen Bereichen. Sie sollten in einer wohlwollenden Umgebung unterstützt werden. Dieses Kapitel endet mit einer Checkliste, was diesen Kindern hilft.
Störungen der visuellen und auditiven Wahrnehmung sind Inhalte des achten Kapitels. Dabei geht es um Störungen der visuellen Wahrnehmung und der Raum- und Formwahrnehmung. Auch willkürliche Bewegungen spielen eine Rolle. Darüber hinaus sind Störungen der zentralen Hörverarbeitung und der Sprache Gegenstand der Betrachtung, zu denen die Ebenen der Hörverarbeitung gehören.
Das neunte Kapitel ist Kindern mit Autismus vorbehalten. Autismus geht nach Ayres mit einer sensorische Verarbeitungsstörung einher. Zentrale Frage dabei ist, wie Sinnesinformationen registriert, moduliert und integriert werden. Kinder haben den Wunsch, etwas zu tun, was als sog. „Ich-will-es-tun“-Funktion beschrieben wird. Bei autistischen Kindern funktioniert dieses System schlecht, sodass es für sie schwer ist, zweckmäßig und zielgerichtet zu handeln, stattdessen halten sie daran fest, Dinge zu wiederholen oder aneinander zu reihen. Ein weiteres Problem dieser Kinder ist, dass sie nicht wissen, wie sie eine Interaktion beginnen oder weiterführen können. Sie haben noch nicht die Bedeutung und Möglichkeiten der Dinge registriert (S.180), sodass diese nicht in zielgerichtetes Handeln münden. Die Therapie hat zum Ziel, die sensorische Verarbeitung so weit zu verbessern, dass das Gehirn die Sinneseindrücke verarbeiten kann. Dieses Kapitel endet mit der Beschreibung der Entwicklung der Bewegungsplanung.
Im Zentrum des dritten Teils Was getan werden kann stehen zwei Kapitel: 10. Befundung und Behandlung und 11. Was Eltern tun können. Bei der Befundung und Behandlung geht es um die Kompetenz durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt wie z.B. eine fachkundige Auswahl von Sinneserfahrungen, um die Therapie nach dem sensorisch-integrativen Ansatz (SI), der therapeutischen Atmosphäre und deren wichtigsten Prinzipien. An dieser Stelle wird der SI-Ansatz anderen Therapieansätzen gegenüber gestellt und ein Resümee gezogen, warum die Sensorische Integrationstherapie hilft. Das Buch schließt mit dem 11. Kapitel, was Eltern tun können: der erste Schritt ist, das Problem zu erkennen. Eltern sollten das Kind dabei unterstützen, dass es sich in seiner Haut wohlfühlt. Auch auf körperliche Probleme sollte geachtet werden. Emotionale Krisen sind vorhersehbar. Bestrafungen sollten keinen Platz in den Maßnahmen der Erziehung haben! Auch das Thema Erwartungen hat seinen Platz. Eltern können unterstützen, indem sie das Gute hervorheben, die Umgebung verändern, Struktur geben, ein Augenmerk auf Geräusche und Gerüche legen und Warnzeichen erkennen. Eltern können das Kind im Spiel unterstützen. Das Kapitel schließt mit dem Hinweis, sich nicht zu scheuen, sich professionelle Hilfe zu holen.
Im Anhang A kommen Experten zu Wort, die ausgehend von Ayres Originalarbeit Kommentare aus historischer und heutiger Sicht verfasst haben. Im Anhang B findet man Literaturübersichten, im Anhang C gibt es Hinweise zu therapeutischen Materialien wie das Rollbrett oder die Rollschaukel und deren Verwendung und der Anhang D listet Fragen von Eltern und die Antworten auf. Ein Glossar mit wichtigen Begrifflichkeiten und ein Stichwortverzeichnis komplettieren das Buch. Sie dienen der Orientierung und der schnellen Suche.
Diskussion
Ayres bezeichnet die sensorische Integration als „das sinnvolle Ordnen von Sinneserregungen im Gehirn“, damit der Mensch sich und seine Umwelt genau wahrnimmt. Das ist Grundlage für Lernprozesse, in denen sensorische Informationen aufgenommen werden. Sensorische Integration findet überall und jederzeit statt. Sie ist Grundlage von Handeln, Sprechen und Lernen. Aufgenommene Informationen müssen „integriert“ werden, darunter versteht Ayres, dass sie im Nervensystem und Gehirn weitergeleitet, vernetzt, gedeutet und gespeichert werden, so dass sie in sinnvolle, der jeweiligen Situation angemessene Handlungen umgesetzt werden können. Dabei wird vorwiegend die taktile, propriozeptive und vestibuläre Sinneswahrnehmung angesprochen. Die Vernetzung der Sinneseindrücke, die über Haut, Muskeln, Gleichgewichtsorgan, Nase, Zunge, Hände, Ohren und Augen aufgenommen werden stellt die Basis für den Erwerb von koordinierter Bewegung, Kraftdosierung, Handlungsfähigkeit, Sprache, zwischenmenschliche Interaktion, Sozialverhalten, Fantasie und der Fähigkeit zu abstraktem Denken dar. Um gezielte Unterstützung zu geben, bedarf es einer differenzierten Befunderhebung durch Befragung, Beobachtung oder Tests. Dieser Befund zeigt Stärken und Schwächen der sensorischen Verarbeitung auf. Basis der Therapie bildet die Körper- und Bewegungswahrnehmung. Entsprechend der Erkenntnisse aus der Befundung werden individuell passende sensorische handlungsorientierte Angebote gemacht. Die Therapie sollte lustvoll sein. Durch eigene Aktivität gelangt der Patient zu immer neuen Erfahrungen, die weitere Entwicklungsschritte eröffnen und dazu beitragen, das Selbstwertgefühl, die Bewegungsfreude, die Handlungskompetenz sowie die Konzentration und Ausdauer zu stärken.
Anders als zu ihrer Zeit üblich erkannte Ayres die Bedeutung der Eltern in der Therapie und bezog diese mit ein. Eltern sind es, die viel Zeit mit dem Kind verbringen. Die vorherrschende Meinung vertrat die Ansicht, dass Eltern Probleme an die Experten abgeben sollten bzw. es wurde ihnen sogar unterstellt, dass sie als Eltern an den Problemen der Kinder „Schuld“ hätten und damit kein Teil der Therapie sein könnten. Der Anspruch, Eltern in diesen ganzheitlichen Ansatz mit einzubeziehen wird durch den verständlichen Sprachstil, durch die eingestreuten und farblich hervorgehobenen Hinweiskästen „Sensorische Integration verstehen“, die Anregungen zur Selbsterfahrung zum sofortigen Gebrauch geben, die zahlreichen praktischen Fallgeschichten von Kindern und vor allem durch die Aufbereitung komplexer Sachverhalte der Hirnforschung in nachvollziehbare Erklärungen, deutlich. Die unterstützende Therapie setzt an der Lebenswirklichkeit des Kindes an und dabei geht es darum, dass das Kind Spaß hat und sich gerne in der anregenden sensorischen Umgebung aufhält, sich an Herausforderungen, die ihm gestellt werden, ausprobiert und sich als selbst steuernd und erfolgreich erlebt.
Ayres war eine bemerkenswerte Frau und sie war ihrer Zeit voraus. Prof. Dr. Margret L. Baumann von der Medical Harvard School weist darauf hin, dass Hypothesen, die Ayres 1979 formulierte, sich heute als richtig erwiesen haben wie z.B. die motorischen Beeinträchtigungen als Teil der Autismus-Spektrum-Störung (S.249). Ergebnisse aus Tests für sensorisch-integrative Leistungen zeigen Muster einer Dyspraxie, womit eine schwache Bewegungsplanung gemeint ist. Ayres nennt drei Bereiche, in denen Funktionsstörungen (S. 174) zu beobachten sind: Sinnesreize werden vom Gehirn nicht richtig ‚registriert‘, es gibt Probleme mit der Modulation von vestibulären und taktilen Empfindungen und die Aufnahme neuer Dinge ist gestört. Sie stellte fest, dass das Gehirn autistischer Kinder Schwierigkeiten hat zu erkennen, welche Informationen wichtig und welche irrelevant sind. Manche sind überempfindlich in Bezug auf die Konsistenz von fester Nahrung oder auf leichten Berührungen von anderen Personen. In der Therapie reagieren Kinder mit Autismus positiv auf sehr festen taktilen Druck, in dem sie z.B. wie ein Sandwich zwischen zwei Turnmatten liegen (Abb.S.176).
Das Umfeld der Therapie sowie das Umfeld zuhause werden so gestalten, dass es als Ressource genutzt werden kann. Dieser Anspruch kommt der von mir favorisierten fachlichen Haltung sehr entgegen. Ich treffe auf Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben, viele haben einen sog. hohen Unterstützungsbedarf, sie sind umfassend auf Hilfe angewiesen und damit vom Umfeld abhängig. Umso wichtiger ist es für diese Personen, dass sie auf eine individuell angepasste Umgebung treffen, die davon ausgeht, dass jeder Mensch etwas lernen, etwas beitragen und sich beteiligen kann. Auf dieser Basis kann man erfahren – so wie A. Jean Ayres es erlebt hat- dass Klienten Entwicklungen machen, die vorher nicht für möglich gehalten wurden.
Voraussetzung ist Vertrauen und Kenntnisse darüber, wie die Umgebung gestaltet werden muss, damit sie „herausfordert“, damit sie „erfolgreich“ bewältigt werden kann, weil sie an die Möglichkeiten und Interessen der Person angepasst ist und „Spaß“ macht (S.10), die vorbereiteten Aufgaben geben Anreize und stellen damit eine natürliche Belohnung dar, die Entwicklung möglich macht. Mit dieser Haltung geht ein Paradigmenwechsel einher, der nicht auf die Defizite und Unmöglichkeiten fokussiert, sondern auf das, was gestaltbar und möglich ist. Ein personenzentriertes Milieu, das darauf vertraut, dass jeder Mensch Stärken hat, eröffnet Wege und neue Perspektiven. Es ist Aufgabe pädagogischer und therapeutischer Begleitung, die Aufgaben und den Rahmen passend zu strukturieren und vorzubereiten. Neben einer fundierten Ausbildung bedarf es auch der Geduld. Nicht selten wird vorschnell eingegriffen und assistierend übernommen, statt abzuwarten, was selber versucht und probiert wird. Die Schlussfolgerung, die Menschen mit Behinderung daraus ziehen ist, dass sie sich als hilflos und eben nicht als erfolgreich und selber wirksam erleben. Beim nächsten Mal werden sie abwarten und warten, was ihnen vorgegeben wird, sie haben ihre Hilflosigkeit erlernt. Das Konzept der Erlernten Hilflosigkeit wurde von dem Amerikaner Seligman beschrieben. Es beschreibt die Erwartung eines Individuums, bestimmte Situationen oder Sachverhalte nicht kontrollieren und beeinflussen zu können, damit geht eine Einengung des Verhaltensrepertoires einher. Der Wunsch eines jeden Menschen, selbst wirksam zu sein, gerät aus dem Fokus. Bandura forschte dazu schon in den 50er Jahren. Therapeutische und pädagogische Settings sollten so gestaltet sein, dass Personen sich als (selbst-) wirksam erleben, in dem ihre eigenen Lösungsansätze genutzt werden, so wie die Klienten es in den Arrangements erleben, die nach Ayres Vorgaben vorbereitet werden.
Ayres war Pionierin auf dem Gebiet der sog. „Occupational Science“, der Wissenschaft von der Beschäftigung bzw. Betätigung/Handlung, bei der es darum geht, dass das Kind sein ihm eigenes Leben führt und sich somit aktiv an der Konstruktion eines sinnvollen Lebens beteiligt (S.250). Im Mittelpunkt dieser Wissenschaft steht der Zusammenhang der menschlichen Handlung und der menschlichen Entwicklung wie z.B. wie Menschen ihre täglichen Aktivitäten strukturieren. Gegenstand dabei ist auch die Wechselwirkung von Handlung auf Gesundheit und Wohlbefinden. Die Bedeutung dieser Erkenntnisse setzt sich bei uns zunehmend auch in pädagogischen Arbeitsfeldern durch wenn es z.B. darum geht, Menschen mit Behinderung an sinnvollen Arbeitsaufgaben teilhaben zu lassen (statt Hilfsdienste auszuführen), bei denen sie sich so weit wie möglich selbständig beteiligen können wie z.B. durch teilautonom strukturierte Arbeitsabläufe oder durch strukturierte Arbeitssysteme nach dem TEACCH Ansatz.
Fazit
Diese Neuauflage wurde komplett überarbeitet. Sie ist didaktisch wesentlich erweitert und farblich neu gestaltet worden. Zahlreiche Fallgeschichten und Beispiele machen die Ausführungen verständlich, Checklisten geben Orientierung. Eltern, Pädagogen und Therapeuten bekommen zahlreiche Tipps. Ein Plus bilden die Kommentare zur Sensorischen Integration aus heutiger Sicht, die Ayres Erkenntnisse aus den 1970er Jahren mit Wissen von heute vergleichen und dabei zu der Erkenntnis kommen, dass sie ihrer Zeit weit voraus waren. Mit diesem Buch ist ein Standardwerk zur kindlichen Entwicklung neu aufgelegt worden, das einen Stammplatz in Kindergärten, Arztpraxen, Therapieabteilungen und im Bücherregal jeder Familie mit Kindern – mit und ohne Wahrnehmungsstörungen – haben sollte. Dieser Empfehlung des Verlages stimme ich unwidersprochen zu!
Hauptsächlich ist die Sensorische Integration aus der Arbeit mit Kindern bekannt, zunehmend findet der Ansatz aber auch Verbreitung in anderen Bereichen wie z.B. bei psychischen Erkrankungen, die wie in der Schizophrenie von Störungen der Körperwahrnehmung begleitet sind, bei demenziell Erkrankten in der Geriatrie oder bei Menschen mit Wahrnehmungsstörungen. Das Wissen um die Grundannahmen und (Wirk-) Mechanismen der Sensorischen Integration hat grundlegende Bedeutung im Umgang mit allen Menschen, bei denen sensorische Verarbeitungsstörungen vorliegen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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