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Christian Mohr: Das Mobilisierungs­modell der Konfliktgesellschaft

Rezensiert von Arnold Schmieder, 08.11.2016

Cover Christian Mohr: Das Mobilisierungs­modell der Konfliktgesellschaft ISBN 978-3-89438-613-9

Christian Mohr: Das Mobilisierungsmodell der Konfliktgesellschaft. Ein Entwurf und die Anwendung auf den Widerstand gegen Stuttgart 21 und die Anti-Atom-Bewegung. PapyRossa Verlag (Köln) 2016. 230 Seiten. ISBN 978-3-89438-613-9. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.

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Thema

Eine grundlegende Frage soll geklärt werden, um das „innovative Potential“ solcher „Ereignisse und Momente“ darzustellen und in seiner Reichweite einzuschätzen, die Mohr als ‚kritische‘ bezeichnet. Darunter zählt er Stuttgart 21 und die Anti-Atom-Kraft-Bewegung, an denen er sich mit dem von ihm entwickelten theoretischen Instrumentarium abarbeitet. Dies dient der Klärung eben jener Frage, nämlich „warum manche soziale Bewegungen erfolgreich Mobilisierungen (bezogen auf den Prozess an sich, also wer und was mobilisiert wird, und ebenso bedeutsam, die Zielerreichung) initiieren können und andere nur begrenzt oder gar nicht“. (S. 7) Dabei ist auch die Frage nach sozialem Wandel aufgeworfen, was in den „Leitgedanke(n)“ über die „Verfasstheit einer Gesellschaft als Ganzes und in Bezug auf ihre Konflikthaftigkeit“ einfließt (S. 210) und im Begriff der „Konfliktgesellschaft“ präsumiert ist, womit Mohr nicht unbedingt ein neues Label einführen, sondern den „Anspruch auf eine Verallgemeinerungswürdigkeit andeuten“ will. (S. 31) Der Verfasser kommt neben etlichen Detailergebnissen zu (u.a.) dem Schluss, „dass Felder insbesondere dann krisenhaft werden, wenn sie von anderen (z.B. dem Feld der Ökonomie) extern hierarchisiert werden, der feldspezifische Nomos an Strukturierungsmacht verliert und neu gelagerte Positionskämpfe entstehen.“ (S. 215) Unter Nomos versteht er das „feldinterne Grundgesetzt“, das mal mit einem „größeren, mal mit einem kleineren Aufwand“ vor der Schwierigkeit steht, „sich außerhalb des eigenen Feldes Anerkennung zu verschaffen und gegen die Ansprüche anderer Felder im eigenen Feld zu verteidigen. Ein anschauliches Bild liefert hier das ökonomische Feld, welches (nicht nur im Kapitalismus, da aber vor allem) seine Interessen in anderen verankern konnte.“ (S. 50) Was jeweils in Parenthese genannt wird, taucht implizit bei der „Dynamisierung von Mobilisierungsprozessen in einer innovativen Verbindung von Ereignis und Struktur“ wieder auf, was aber vorab einen „neuen und unverstellten analytischen Blick auf Entwicklungen zu(lässt), die auf Strukturbedingungen in den beteiligten Feldern wie der Gesamtgesellschaft gründen, die auf einer mit symbolischen Kapital wirkmächtig abgesicherten Verschleierung beruhen“ (wobei das ‚symbolische Kapital‘ bei Bourdieu als „sanfte, für ihre Opfer unmerkliche, unsichtbare Gewalt“ definiert ist, sich ggf. ökonomisches, kulturelles, soziales Kapital nutzbar macht, um – mehr – soziales Prestige zu generieren oder Anerkennung zu bekommen). (S. 215) Dass solche „Verschleierung“ machtbasiert ist, kann man den Analysen des Verfassers entnehmen.

Aufbau und Inhalt

Nebst einer die Studie in klaren Umrissen skizzierenden Einleitung ist die Arbeit in weitere acht Hauptkapitel unterteilt, welche zum einen auf die Aufarbeitung der Geschehnisse um Stuttgart 21 und im Vergleich auf die Anti-Atom-Bewegung auf der Theorieebene hinleiten, zum anderen danach mit Fokus auf beiden Widerstandsbewegungen, Soziale Bewegungen, Elemente der theoretischen Analyse für eine Deutung und kritische Interpretation wieder aufnehmen.

Gleich eingangs bemerkt Mohr, dass Soziale Bewegungen „ein breit gefächertes Forschungsfeld dar(stellen), welches durch die spezifisch fluide Art des Untersuchungsgegenstandes ständigen Veränderungen und damit analytischen Herausforderungen unterworfen ist.“ (S. 7) Deshalb greift der Autor namhafte Theorieansätze in der Spannbreite von Smelser bis Weber und neben anderen schließlich Bourdieu auf, den er in der Hauptsache als Referenz für seine mobilisierungstheoretische Argumentation heranzieht, bezogen auf eben die „Konfliktgesellschaft“. Dabei referiert er u.a. das „Konzept der Pfadabhängigkeit“, wonach „in der Vergangenheit getroffene Entscheidungen und etablierte Routinen sich in die Gegenwart fortschreiben. Dadurch können Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt und Entwicklungen richtungsweisend vorstrukturiert werden“, wozu nach Pierson „die Pfadabhängigkeit in außerökonomischen Kontexten aufgrund fehlenden Drucks durch den Markt besonders hoch ist.“ (S. 24) Insgesamt aber kommt der Verfasser zunächst zu dem Schluss, dass der „Weg“, welchen „die Mobilisierung letztendlich nimmt und welche Stärke sie erreicht, (…) maßgeblich von der Arbeit der Aktivist_innen abhängig“ ist und es diese „akteur_innenspezifische Leistung“ sei, die sich mit dem „vorgestellten Theorieangebot nicht adäquat erfassen“ ließe. (S. 27) Deshalb, für Mohr auch methodisch von Relevanz, richtet er sein Augenmerk zentral auch auf „die habituell geprägte und durch kognitive Zielorientierungen unterstütze Wahrnehmung und Bewertung der Aktivist_innen und die draus resultierenden Handlungen.“ (S. 32)

Danach fokussiert er auf das Mobilisierungsmodell der Konfliktgesellschaft. Hier kritisiert er Bourdieu, bei ihm fehle eine Verweis auf die Macht der Medien, wobei auch er selbst den „klassischen Medien (…) keine große Verstärkerfunktion“ zumisst, dafür aber die „Bedeutung interaktiver neuer Medien“ hervorhebt. (S. 59 f.)

Darauf folgen akribisch recherchierte und jeweils umfänglich mit Dokumenten versehene Kapitel über Stuttgart 21 und die Anti-Atom-Bewegung, wobei er beispielhaft in Bezug auf Stuttgart 21 die später aufgenommene Beobachtung einspeist, dass das „politische Feld als ein Feld von Kämpfen“ sich in „seiner strukturellen Verfasstheit insofern“ veränderte, „als dass eine aus einem anderen Feld, dem ökonomischen, bekannte Praxisform adaptiert und somit in das Spiel integriert wurde, ohne dass sich die Spielregeln änderten. Insofern blieb im politischen Feld der ‚klassischen‘ Schlichtung nur ihre äußere Hülle, die, ihrer Funktion als Verfahren zur Kompromissbildung beraubt, als Praxisform hier zwar fast wertlos erscheinen ließ, als eine Art Trojanisches Pferd aber bei den Autoritäten (Bahn, Land, Stadt und Verbund Region Stuttgart) konzentriertes symbolisches Kapital, wenn auch nicht verlustfrei, in den Prozess der Auseinandersetzung einfließen ließ.“ Deutlicher heißt dies in der folgenden Interpretation, dass die „Schlichtung (…) kein Verfahren direkter Demokratie“ war, „aber zumindest ein plebiszitäres Element der Zivilgesellschaft, das die mangelnde Beteiligung der Bürger_innen (…) offen legte und allein schon qua seiner Durchführung kritisierte.“ (S. 99) Diese zugleich wesentliche Erfahrung wie daraus gewonnenen Erkenntnis mit dem Kulminationspunkt der Gewalterfahrung am „Schwarzen Donnerstag“, mit welcher sich die „Anti-Atom-Bewegung schon früh (…) auseinandersetzen musste“ (S. 203), findet nicht unmaßgeblich Eingang in seinen vergleichenden Ausführungen zu Phasen der Mobilisierung, mit denen der Verfasser zu seiner analytisch unterfütterten Einschätzung führt und für sein theoretisches Mobilisierungsmodell fruchtbar macht.

Dabei hält der Autor fest, dass „eine Erweiterung des Theorie- und Handlungsrepertoires der Bewegung zuvorderst durch einen fortlaufenden Mobilisierungsprozess möglich“ ist, „der die historischen Erfahrungen individuell und kollektiv reflektiert und die Konstruktion der Wirklichkeit als Setzungs- und Normierungsakt entlarvt.“ Allerdings sei dabei auch die Gefahr gegeben, dass dem „Widerstand (…) die Spitze genommen“ wird, „indem sich die Aktivist_innen in eine politische Arena“ begeben, was der Verfasser in Bezug auf Stuttgart 21 sieht und was wohl allenthalben gilt, „in der sie nicht bestehen konnten.“ (S. 204 f.) Synchronisation verschiedener „Ideologien innerhalb der Bewegung“, von Bourdieu als Gefahr für erfolgreiche Zielerreichung thematisiert, sei weniger das Problem, sie könne „durchaus konflikthaft verlaufen, ohne die Bewegung zu schwächen oder gar zerfallen zu lassen.“ (S. 207) Wesentlich festzuhalten ist laut Mohr, dass die „Wirkmächtigkeit eines kritischen Moments (…) sich nicht (allein) mit dessen Ereignisstärke“ erklärt, „sondern wiederum mit dem Raum der Möglichkeiten, der in einem historisch günstigen Moment geschaffen und gestaltet werden kann.“ (S. 209) Nicht unterschlagen werden dürfe dabei, dass der Staat unabhängig von „den Handlungen einer Bewegung (…) mit den Mitteln“ reagiere, „die ihm in der konkreten historischen Situation nützlich erscheinen.“ Und da wir schon länger wüssten, „dass der Staat das Monopol physischer Gewaltanwendung rechtlich abgesichert für sich beansprucht, geschieht dies ohne moralischen Rechtfertigungsdruck.“ (S. 207 f.)

Diskussion

Nicht ganz ohne „moralischen Rechtfertigungsdruck“, möchte man meinen, der ‚provoziert‘ werden kann. Erinnert man sich an Johan Galtungs Gewaltbegriff, wird das auch mit Blick in Mohrs Analyse schnell deutlich: Galtung unterscheidet zwischen „personaler“, also direkter Gewalt, worunter auch sexuelle Belästigungen, Drohungen, Folter und physische Verletzungen fallen, also jegliche unmittelbare Attacke gegen die körperliche und eben auch psychische Unversehrtheit eines Menschen; es folgt die zentrale „strukturelle Gewalt“, eine indirekte, die in der Sozialstruktur verankert ist; schließlich die „kulturelle Gewalt“, eine ideelle, wie sie bspw. in den Medien, der Medizin, der Erziehung und prominent im Recht verankert ist. Wenn Mohr konstatiert, dass sich bei der Anti-Atom-Bewegung im Gegensatz zu Stuttgart 21 die „Distanz zu etablierten Aushandlungsprozessen“ auch auf Grund von „Gewalterfahrungen“ und einer „stetig wiederkehrenden Repression“ und dann vermittels einer „deutlichen Präsenz linker und linksradikaler Positionen“ dahin entwickelte, „den regionalen Protest sowohl geographisch als auch politisch auszuweiten und in einen herrschaftskritischen Gesamtzusammenhang zu stellen“ (S. 205 f.), kommt man schnell auf die Gewaltförmigkeit des „Symbolischen Kapitals“ nach Bourdieu (und ist auch distinktionstheoretisch an das ‚spirituelle Kapital‘ bei Veblen und oder den Begriff des ‚Lebensstils‘ bei Simmel und deren argumentative Nähe erinnert).

Jenes ‚symbolische Kapital‘ verschafft sich vor allem in der „kulturellen Gewalt“ nach Galtung Ausdruck und Geltung, auch weil sie die „strukturelle“ (wieder) ausbalanciert oder eben notfalls durch „personale“, also direkte Gewalt durchgesetzt wird – ob durch ‚Räumung‘ oder Schlagstock und immer durch das staatliche Gewaltmonopol gerechtfertigt. Spätestens, aber nicht unbedingt erst durch solche drastische Erfahrung der Repression, können, nicht müssen, solche Erfahrungen aus Widerständen in der „Konfliktgesellschaft“ in einen übergeordneten „herrschaftskritischen Gesamtzusammenhang“ (s.o.) gestellt werden, aus dem erhellt, worum es schlussendlich auch in „Aushandlungsprozessen“ (s.o.) geht, nämlich um die Durchsetzung ökonomischer Interessen, wie es der Verfasser nicht nur in seinen Parenthesen anklingen lässt (und manchmal scheint´s verklausuliert). Ob solche Erfahrungen auf diese nur über Analyse zu gewinnende Erkenntnis hinleiten, wird nicht erst seit heute diskutiert und ist ungewiss – und letzten Endes wohl auch eine Frage der Aufklärung in dem Sinne, dass in jene „Kritik im Handgemenge“ (Marx) erklärende Analyse der Ursachen einzuspeisen ist, welche solcher ‚Kritik‘ nicht ohne Weiteres entwächst. Jedoch betont Mohr einen gleichwohl höchst relevanten Punkt, „was in einer definierten historischen Phase erreicht wurde“ und „in Relation zu dem Ergebnis einer anderen historischen Phase marginal“ erscheint, kann „durch die kontextuelle Einordnung aber wieder an Bedeutung gewinnen (und umgekehrt), so dass sich wirkliche Erkenntnis nicht an einem Punkt, sondern aus der Prozesshaftigkeit (verstanden nicht als Zeitabschnitt, sondern als Form der Entwicklung) gewinnen lässt.“ (S. 211) – Damit sind wohl Lernprozesse gemeint, ‚historisch‘ wiederkehrende, nicht bruchlos anschließende.

Das korrespondiert auch seiner theoretischen Überlegung zur Relevanz seines ‚Mobilisierungsmodells‘ (das er bescheiden einen „Entwurf“ nennt), wenn der Verfasser anmerkt, dass da, wenn er von „Klassen“ spricht, „damit konstruierte Klassen im Sinne der Theoriebildung gemeint“ sind, „die durch Mobilisierung zu realen Klassen werden können.“ (S. 35, Anm. 111) Damit liegt er in der Nähe der sozialhistorischen Analysen Thompsons über ‚Klassen in Werden‘: „weil Männer und Frauen in bestimmten Produktionsverhältnissen ihre antagonistischen Interessen erkennen und dazu kommen, klassenmäßig zu kämpfen, zu denken und zu werten; so ist der Prozeß der Formierung von Klassen ein Prozeß der Selbsterzeugung, wenn auch unter Bedingungen, die ‚vorgegeben‘ sind“, heißt es dort. Dass Menschen gemeinsame Interessen in Auseinandersetzungen um reale Unterdrückung erkennen und sich verbinden, ist auch bei Standing Thema, wo er solche Sicht auf das gegenwärtige Prekariat in seiner „Charta“ richtet und perspektiviert, dass der gut ausgebildete, vielleicht gebildete Teil des Prekariats (i.d.R. Studenten, deren berufliche Erwartungshaltungen nicht eingelöst werden) den vielleicht sogar ‚rechtslastigen‘ Teil und jenen, der an noch an der Möglichkeit des Durchkommens bis Aufstiegs festhält, politisch aktiviert. Dabei ist aber, was Mohrs ‚Mobilisierung‘ betrifft, an die „Pfadabhängigkeit“ und daran zu erinnern, warum und wie „Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt“ und vor allem „richtungsweisend vorstrukturiert werden“ können. (S. 24) Dass „die Tradition aller toten Geschlechter (…) wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden“ lastet (Marx), ist als geläufiges generelles Problem nicht nur auf Institutionen innerhalb des sozialen Wandels zu beziehen. Es ist auch auf Fragen der „Macht, Normen, Traditionen, relative Nützlichkeit und Funktionalität selbstverstärkender Faktoren“ (ebd.) zu beziehen, und zwar in ihrer Prägekraft (die nicht deterministisch zu verstehen ist) im Hinblick auf das gang und gäbe Denken, auf Bewusstseinsstrukturen, wie sie im Alltagshandeln durch basale Kernstrukturen der ökonomischen Verhältnisse reproduziert und konkretisiert werden. Labilisiert werden sie innerhalb jener „Konfliktgesellschaft“ in zunächst Engführungen in Mobilisierungen gegen vitale Interessen da, wo der Lernprozess ‚Herrschaftskritik‘ initiiert und darin die Schleier über dem ‚Gesamtzusammenhang‘ lüftet, einem nicht metaphysisch letztbegründeten, sondern historisch epochal erwachsenen. Da sind zugrunde liegende Ursachen freizulegen, die zu überwinden wären. In „politisch kanalisierten Formen des Konflikthandelns“ wird solcher Erkenntnisprozess insbesondere im (unterdrückenden) Gewalthandeln nachdrücklich domestiziert und kann zu einer fatalistischen Haltung führen oder aber als ein überindividuelles, „weitergetragenes kollektives Gedächtnis“ aus der Erinnerung jener, „die dabei waren“, „zum Mythos versteinern“ (S. 205) und zugleich das ehedem tragende „Wir-Gefühl“, wie es in einer „Situation an einer Barrikade (…) in Echtzeit“ entstehen kann (S. 45), zur ggf. romantisierenden Reminiszenz ohne weitere Folgen werden lassen. (Näher thematisiert das Mohr im Hinblick auf die StudentInnenproteste in Nanterre ab 1967 infolge der Ausrichtung bildungspolitischer Reformen mit Ziel an eine „Anpassung an die Erfordernisse von Wirtschaft und Industrie“ seitens des Erziehungsministers Fouchet [S. 40] – als Cohn-Bendit, damals noch Mitglied einer anarchistischen Gruppierung, erste Popularität gewann, die in heutigen TV-Duellen ohne spürbare Emphase des eben abgesunkenen „Wir-Gefühls“ zu vermarkten ist.)

Pointierender als in der Formulierung von jenem „auf den Gehirnen der Lebenden“ auflastenden „Alp“ (s.o.) sind die ‚bedingenden‘ ökonomischen Verhältnisse mit dem Wort von Adorno gegen Ende von „Gesellschaft“ in ihrer Tragweite zum Ausdruck gebracht: „Der Prozeß zehrt davon, daß die Menschen dem, was ihnen angetan wird, auch ihr Leben verdanken.“ Darin ist die Schwelle markiert, auf die eine von Analyse getragene Erkenntnis trifft und die zu emanzipatorischer politischer Praxis anleiten kann oder könnte; eine Schwelle, deren Überschreitung nicht nur von den Verhältnissen ‚an sich‘ und gleichzeitigen, wenngleich widersprüchlichen Bewusstseinsinhalten blockiert wird, sondern wo auch die zugleich abgenötigte Frage nach der Zweck-Mittel-Relation dringender hervortritt, als die bitteren Folgen aus historisch nicht fernen politischen Umwälzungen im Hinblick auf die Wahl der Mittel auch unter weitgehender Vermutung der Perspektive einer Geschichtsschreibung aus Sicht der ‚Sieger‘ noch präsent sind. Ein fürwahr ‚weites Feld‘, das lange und Kenntnisse verlangende Diskussionen abnötigt, die oft von Meinungen abgewürgt werden. Da liegt dann der nicht nur bang hoffende, primär im Sinne einer Versöhnung mit den Verhältnissen und somit ‚systemlogische‘ Rückzug nicht fern, das Beklagte bis Bedrohliche, dem, was erkennbar „angetan“ (s.o.) wird, im Hier und Heute, dem man das „Leben“ zu „verdanken“ hat (s.o.), zum Besseren oder nur Erträglichen zu wenden. Das ist eingebettet in die allerdings enger werdende Spirale aus Desintegration und Integration, wofür die Zunahme der Bürgerbegehren bis -proteste mit z.T. Optik auf eine radikale Demokratie sprechen. Dazu wiederum Adorno: „Integration ist Desintegration, und in ihr findet der mythische Bann mit der herrschaftlichen Rationalität sich zusammen.“ Desintegration ist keine „Zufälligkeit“ in antagonistischer Gesellschaft, nicht das, „was durch ihre Maschen schlüpft“. Wo zumal mit „Zunahme des Antagonismus“ generell die „Subjekte auf hart gesetzte Antagonismen der Interessen stoßen“, etwa in Gegenständen von gesellschaftlichen Konflikten, ist „falsche Identität“ so brüchig wie Integration als ihre Betreiberin: „Weil Integration Ideologie ist, bleibt sie selbst als Ideologie brüchig.“ Und an anderer Stelle formulieren Adorno und Jaerisch, was die „Kehrseite sozialer Integration“ betrifft: „Je rücksichtsloser sie das Verschiedene unter sich begräbt, desto mehr zersetzt unterirdisch sich das soziale Gefüge.“

Diese Situation einer enger werdenden Spirale aus Desintegration und Integration scheint gegeben, was sich nicht zuletzt auch in neoliberalen Narrativen zur Selbstoptimierung für einen immer schon vorausgesetzten Zweck zeigt, sondern im integrierenden Zugriff auf Widerstandsmobilisierungen in der so genannten Konfliktgesellschaft hervortritt auch da, wo sie auf die Karte eines ‚falschen Bewusstseins‘ bei den Opponierenden setzen kann. Dem nähert sich Mohr im Anschluss an Etzioni an, wo er bemerkt, die „Relevanz einer Konkurrenzsituation von Kontrahent_innen“ würde sich „in der Systemrelativität“ widerspiegeln, „die darauf abhebt, dass die Mobilisierung einer sozialen Einheit die Demobilisierung einer anderen bedeutet, (…) und zur Analyse staatlicher Gegenmobilisierung in Form von Repression, Desynchronisierung, Teillegitimation der Protestinhalte oder Integration herangezogen werden kann.“ (S. 9) Erhellend für die Folgen dazu die Einschätzung von Butzlaff aus seiner Analyse neuer Bürgerproteste in Deutschland: Die „geäußerten Hoffnungen auf die Etablierung einer Gegenmacht-Position gegenüber rein ökonomisch argumentierenden Logiken (zeugen) davon, dass sie sich durchaus genau davon lösen möchten. Ob wir es bei den betrachteten Bürgerprotesten mit sozialen Bewegungen zu tun haben, welche eine ‚Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse‘ in den Fokus nehmen (…), muss an vielen Stellen in Frage gestellt werden.“ Was aber zu bleiben scheint, ist ‚Brüchigkeit‘, die Möglichkeit eines ‚Lernprozesses‘, ist fortgesetzte systemische Nötigung zur ‚Integration‘, die auch auf Flankenschutz durch Wissenschaft bauen darf, die in ihren Problemlösungsangeboten vergleichbar den betroffenen Menschen auf das schielt, dem man das ‚Leben verdankt‘.

Eine Marginalie aus einer „Geschichte der theoretischen Volkswirtschaftslehre“ (1954) des Verfassers L. J. Zimmerman mag einer beispielhaften Konkretion dienen. Der Autor ist „erstaunt, welch geringen Einfluß Marx´ Theorien auf die Nationalökonomie ausgeübt haben“ und schreibt das einerseits dessen „politischen Gegnern“ zu, die sein Werk „totgeschwiegen“ hätten; andererseits hätten seine Anhänger es auf „unerträglich dogmatische Weise verteidigt“, wobei er selbst allerdings auch „tiefgreifende Revision“ auf Grund der ‚Weiterentwicklung‘ reklamiert. Wenige Seiten später kommt er auf Keynes zu sprechen und zu dem Schluss, wie Marx sei er ein Kritiker gewesen, weil beide gesehen hätten, „daß das kapitalistische System nicht ohne Krisen zu funktionieren vermag, ja kraft seiner Logik auf einen nahen Zusammenbruch tendiere. Marx beweist, daß das Ende kommen muß. Keynes zeigt, unter welchen Bedingungen es nicht zu kommen braucht.“ Zimmerman schließt ein Zitat von Lawrence Klein an: „Keynes wünscht zu retten und zu bewahren, Marx zu kritisieren und zu vernichten.“ So geht es auch heute noch und eben nicht nur in volkswirtschaftlich weit mehr Facetten einbeziehenden Theorien, die der sich zuspitzenden ökonomischen Entwicklung und den Methoden der Profitmaximierung z.T. mit kritischem Unterton Rechnung tragen, um ‚Rettung‘, auch weil die Folgen von ‚Vernichtung‘ in höchstem Maße imponderabel scheinen und Emanzipation mit der Aura des Utopischen vernebelt ist, was in (nicht nur ‚schlichtenden‘) Integrationsakten als vielleicht doch Option eskamotiert wird.

Fazit

Der Flügelschlag eines „Juchtenkäfers“ (S. 89), ein unscheinbarer Eremit, flugfaul und als Männchen recht kurzlebig, nicht weil nach Marille duftend prioritär geschützt, Stein des Anstoßes wie Kampfargument bei Stuttgart 21, vermag vielleicht chaostheoretisch einen Wirbelsturm entfesseln, hebelt aber die Durchsetzung herrschender und letzten Endes ökonomisch fundierter Interessen nicht aus. So hatte die Deutsche Bahn zunächst alle Artenschutzauflagen erfüllt, allerdings wurde das Fällverbot von Bäumen bald aufgehoben, wo dieser Käfer seine feuchtwarme Klause hat. Sein dramatischer Bestandsrückgang all überall und sein nahendes Verschwinden von der Bildfläche ist eindeutig anthropogen verursacht wie bei so vielen, die wir euphemistisch als ‚Mitgeschöpfe‘ bezeichnen. Wen wundert´s, dass Natur und Umwelt häufig Bezugspunkte von Widerstand sind und dies nicht nur als gut einzupassendes Hilfsargument noch mit rechtlichem Rückhalt. Zugleich war und ist damit die Debatte um ‚Ökonomie und/oder Ökologie‘ hochgeschwemmt.

Überhaupt mehren sich kritische Aufarbeitungen von Protesten und Widerständen (und in diese Reihe ist die Arbeit von Mohr auch dank ihrer zentralen Teile eher dokumentarischen Charakters zu stellen, die sich in seine theoretischen Reflexionen einpassen), in denen die Frage aufgeworfen wird, ob sich nicht infolge ‚windiger‘ Integration doch ein ‚Sturm‘ ergibt, der über die Grenze des immer wieder vereinnahmten ‚Desintegrierten‘ fegt, wo die „Konfliktgesellschaft“ mit sich selbst als Ursache und dies vermittels ihres Zweckes konfrontiert wäre.

Theoriegeschichtlich mag dabei auffallen (was der Verfasser eingangs streift), wie sich, geschuldet der sozioökonomischen Entwicklung selbst, theoretische Analyse dem Aspekt der an ihre Begrenzungen stoßenden Dynamik von Widerstandsbewegungen zuwendet und sich weitgehend vom Erkenntnisinteresse überkommener Theorien sozialen Wandels löst. Das allerdings ist bereits bei einem Klassiker, Pitrim A. Sorokin (1945), angelegt, der auf wachsende „Kritik an den Voraussetzungen der Theorie des linearen soziokulturellen Wandels und den linearen Gesetzen“ unter Betonung der „zahlreichen nicht-linearen Formen“ aufmerksam machte. Sorokin wies nachdrücklich auf „Großfaktoren“ hin, betonte dabei die Bedeutung des „‚wirtschaftlichen Faktors‘ des Marxismus“, den er in seiner Aufnahme u.a. in Variablen wie Wirtschaftsindex, Lohn- und Einkommensniveau als „ungenau“ bezeichnete. Generell hielt er fest, „jedes soziokulturelle System“ trüge „schon den Keim seiner eigenen Wandlung und Auflösung in sich“ und darum müssten „die alten Theorien immanenten Wandels“ – wo er u.a. Marx nennt – „wieder auf den Plan“ treten. Auch da schließt Mohr implizit an.

Die Lektüre seines Beitrages empfiehlt sich noch weit über diese kursorisch angeregten Diskussionspunkte hinaus all jenen, denen es (noch) um Aufklärung aus anders als herrschender ‚Bildung‘ zu tun ist und die womöglich im Tagesgeschäft des Widerstandes stehen und noch weit vor ‚innerer Emigration‘ auf Reflexion der Reichweite ihres Handelns beharren.

Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 08.11.2016 zu: Christian Mohr: Das Mobilisierungsmodell der Konfliktgesellschaft. Ein Entwurf und die Anwendung auf den Widerstand gegen Stuttgart 21 und die Anti-Atom-Bewegung. PapyRossa Verlag (Köln) 2016. ISBN 978-3-89438-613-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21528.php, Datum des Zugriffs 08.06.2023.


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