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Stefan Schuster: Entfremdet, verdinglicht und be-hindert

Rezensiert von Dipl. Soz.-Päd. (FH) Mathias Stübinger, 17.02.2017

Cover Stefan Schuster: Entfremdet, verdinglicht und be-hindert ISBN 978-3-86541-842-5

Stefan Schuster: Entfremdet, verdinglicht und be-hindert. Versuch einer Dechiffrierung segregierender Mechanismen aus sozialhistorischer Perspektive. Lehmanns Media GmbH (Berlin) 2016. 146 Seiten. ISBN 978-3-86541-842-5. D: 17,00 EUR, A: 17,50 EUR.

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Thema

„Inklusion ist die Antwort – was war nochmal die Frage?“ (www.philfak3.uni-halle.de/ifo/, Datum des Zugriffs: 10.02.2017)

Das natürliche Recht auf uneingeschränkte Teilhabe und vollumfängliche Partizipation von Menschen mit Behinderung an allen Prozessen und Strukturen des alltäglichen Lebens stellt – seit nunmehr vielen Jahren – eine unbestrittene Vision für den gesellschaftlichen Wandel dar; die Leitidee der Inklusion von Menschen mit Behinderung in höchst komplexe / komplizierte Lebensbereiche und Lebenswelten – wie z.B. Schule und Bildung, Arbeit und Beruf, Wohnen und Freizeitgestaltung – wirkt innovativ und inspirierend auf die Gestaltung individueller Hilfeprozesse (z.B. im Rahmen der Eingliederungshilfe) und/oder die strukturellen, barrierefreien Veränderungen von Sozialräumen und Unterstützungssystemen (z.B. im Rahmen eines zielgerichteten Quartiersmanagements).

Ungeachtet manch kleinerer Erfolge und größerer Meilensteine, die es auf dem Weg hin zu einer inklusiven Gesellschaft zu verzeichnen gilt, muss unverändert attestiert werden, dass Menschen mit Behinderung bei alltäglichen Aktivitäten der Lebensführung, bei Behördengängen, im öffentlichen Nahverkehr, in Schulen und Universitäten und/oder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zahlreichen Formen der Stigmatisierung, Diskriminierung; Ungleichbehandlung, Zurücksetzung, Ausgrenzung unterliegen (vgl. S. 29).

Stefan Schuster diskutiert im Rahmen seiner – im Verlag Lehmanns Media publizierten -Masterthesis eben diese – möglicherweise systemimmanent gegebenen – Ambivalenzen zwischen Inklusion und Exklusion der betroffenen Menschen mit Behinderung; die zentrale Forschungsfrage seiner Untersuchung ist, welche gesamtgesellschaftlichen Prozesse aus sozialhistorischer Perspektive zum gegenwärtigen Ausschluss von Menschen mit Behinderung führen (S. 20).

Autor

Der vorliegende Text: „Entfremdet, verdinglicht und be-hindert“erscheint in der Schriftenreihe ICHS Diplom (International Cultural-historical Human Sciences); die Herausgeber Hartmut Gies und Georg Rückriem bieten Autorinnen und Autoren hier die Möglichkeit, ihre ersten wissenschaftlichen Arbeiten einer größeren Gruppe von Leserinnen und Lesern zur Verfügung zu stellen und so den Austausch und wissenschaftlichen Diskurs zu kulturhistorischen Themen zu befördern.

Der Verfasser Stefan Schuster nutzt diese Schriftenreihe zur Veröffentlichung seiner wohl bereits 2011 entstandenen und 2015 aktualisierten Masterthesis; leider gibt es im vorliegenden Buch keine Informationen zu Autor, Entstehungshintergrund; Fachbereich in dem die Untersuchung eingereicht wurde usw.; ein paar wenige Worte zum Autor und seinem Wirken wären hier durchaus hilfreich und informativ für die Einordnung der Veröffentlichung gewesen.

Aufbau und Inhalt

Dr. Willehad Lanwer – Professor für Behindertenpädagogik an der Evangelischen Hochschule Darmstadt und (möglicherweise) der Betreuer der Masterthesis – erinnert im kurzen Vorwort daran, dass bereits in den 1920er und 1939er Jahren der russische Psychologe Lew Vygotskij Behinderung weniger als individuelles Phänomen oder als persönlichen Defekt verstanden wissen wollte; vielmehr sei – so Vygotskij´s Annahmen – Behinderung als prozesshafte Entwicklung im Kontext gesellschaftlicher, sozialer Fragestellungen und Probleme zu verstehen.

Stefan Schuster greift in seiner Arbeit in gewisser Weise die These Vygotskij´s auf, dass eine Fokussierung bzw. die ausschließliche Reduktion der Menschen mit Behinderung auf ihre organischen, physischen und/oder seelischen, psychischen Beeinträchtigungen folglich auch heute zu kurz greift; vielmehr bedarf es der fundierten Darstellung und Diskussion der gesamtgesellschaftlichen Prozesse, die ursächlich zum sozialen Ausschluss / zur Exklusion von Menschen mit Behinderung beitragen.

Im Rahmen der Einleitung schildert Stefan Schuster persönliche Motive zur Auseinandersetzung mit der Thematik; er skizziert den Aufbau der Untersuchung / der Publikation sowie die schon zitierte Forschungsfrage und verdeutlicht schließlich die der Untersuchung zugrundeliegende Arbeitshypothese, „dass Entfremdungs- und Verdinglichungsprozesse, die sowohl den gesellschaftlichen Basis- als auch den Überbaubereich umgreifen, den gegenwärtigen Ausschluss von Menschen mit Behinderung hervorgebracht haben.“ (S. 20).

Eine kurze Momentaufnahme bestehender Sondereinrichtungen der Behindertenhilfe – bezogen primär auf die Bundesrepublik Deutschland – leitet die eigentliche Untersuchung / Analyse ein; anhand statistischer Daten zu Fallzahlen und Finanzierungsstrukturen (z.B. im Zusammenhang mit Wohn- und Arbeitsformen von Menschen mit Behinderung) verdeutlicht der Verfasser, wie Sozialer Ausschluss im Zeitalter der Heiligen Inklusion – ungeachtet aller vordergründiger Inklusionsdebatten – entsteht und (fort-)besteht und die Menschen mit Behinderung in exklusiven Verhältnissen verharren lässt.

Im Anschluss an diese grundlegenden Gedanken zum Untersuchungsfeld und zur Relevanz der Fragestellung folgen Methodologische Anmerkungen; Stefan Schuster nutzt für seine Untersuchung des sozialen Ausschlusses von Menschen mit Behinderungen primär die sogenannte Methode des „Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten“ sowie im Weiteren das „Basis-Überbau-Theorem“; neben der Beschreibung der methodischen Zugänge unternimmt der Verfasser einen philosophisch interessanten Exkurs zu den Begriffen: Wesen, Erscheinung und Sein; in diesem zweiten Kapitel rücken – erstmals – Gedanken und Thesen von Karl Marx in den Mittelpunkt der Ausführungen; so z.B. der Aspekt, dass es einen Zusammenhang zwischen der ökonomischen Basis einer Gesellschaft und den jeweils geltenden juristischen, politischen Erscheinungen und/oder gesellschaftlichen Bewusstseinsformen gibt (S.40).

Im umfangreich gestalteten dritten Kapitel unternimmt Stefan Schuster die Sozialhistorische Rekonstruktion des gegenwärtigen Ausschlusses; der vielschichtige, gut nachvollziehbare Versuch, eine Sozialgeschichte der Betreuung und Begleitung von Menschen mit Behinderung zu beschreiben, beginnt u.a. beim Menschenbild von Aristoteles und Platon, der hier gelebte Zugang und der Umgang mit Behinderungen, Schädigungen und Defiziten wird ebenso aufgegriffen, wie im Weiteren das – so überschriebene – Wahnsinnige der Vernunft im Zeitalter der Aufklärung; kurz geschildert sind Veränderungen, die der Zerfall mittelalterlicher Strukturen und/oder die industrielle Revolution in der Bewertung behinderten Seins mit sich gebracht haben; ein zunehmender Einfluss der Wissenschaft / der Medizin erzeugt – so die Analyse des Verfassers – schließlich den Nährboden für die Entwicklung ideologischer Theorien, welche schlussendlich bis zur Vernichtung von als „lebensunwert“ oder als „minderwertig“ ermittelten Lebens in der Zeit des Dritten Reiches führen konnte; mit bemerkenswertem, beispiellosem Zynismus rückt die „wirtschaftliche Verwertbarkeit“ der betroffenen Menschen und/oder die wirtschaftlichen „Folgekosten“ für die Betreuung von Menschen mit Behinderung in den Mittelunkt; Aspekte der Ökonomisierung und des Kapitalismus führen auch noch in der Nachkriegszeit dazu, dass Menschen mit Behinderung eher zu den Verlierern von Wirtschaftswachstum und zunehmendem Wohlstand in der Gesellschaft zu rechnen sind; in diesem Kontext ist schließlich die zunehmende Expansion der Sondersysteme (Wohnheime oder Werkstätten für Menschen mit Behinderung) zu erklären; nach dem teils radikalen Ausschluss der Menschen mit Behinderung aus der Gesellschaft in der Zeit des Nationalsozialismus stehen nun Integrationsbemühungen im Vordergrund, ohne hier aber – so die Bewertung des Verfassers – unmittelbar von einem Paradigmenwechsel, einer Gleichberechtigung oder gar Inklusion auszugehen.

Gegenstand des – für die theoretische Fundierung der Masterthesis zentralen – vierten Kapitels sind Die Begriffe Entfremdung & Verdinglichung; nach einer geistesgeschichtlichen Einbettung des Entfremdungsbegriffes, bezieht sich der Autor erneut auf Grundlagen von Karl Marx im Kontext von dessen Entfremdungstheorie; Entfremdung wird vor allen Dingen im Kontext ökonomischer Prozesse beschrieben; Entfremdung besteht vornehmlich darin, dass Menschen (bzw. Lohnarbeiter_innen), die ihr Arbeitsvermögen für einen bestimmten Zeitraum verkauft haben, stets ein Stück ihrer Selbstbestimmung verlieren und sich fremden Materialien, fremden Willen oder fremden Kooperationen unterwerfen; analog zur Entfremdung wird im Folgenden auch der Verdinglichungsbegriff im Kontext seiner geistesgeschichtlichen Einbettung erläutert und in Bezug zu weiteren Thesen von Karl Marx – hier dessen Fetischtheorie -gesetzt; Verdinglichung besteht insofern vorrangig in einer Subjekt-Objekt-Verkehrung; d.h. einerseits in einer Personifizierung von Sachen, andererseits in einer Versachlichung der Personen; bezogen auf die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung kann – so Stefan Schuster – festgehalten werden, dass Entfremdung und Verdinglichung miteinander korrelieren; so führt z.B. die Beobachtung einer bestimmten – durch gesellschaftliche Prozesse entfremdeten – Eigenschaften eines Menschen vielfach dazu, dass eben nicht die Entwicklung eben jener Verhaltensweisen als wechselwirkende Prozesse wahrgenommen werden – sondern der Mensch als „So-und-nicht-anders“ stigmatisiert und verdinglicht wird.

Die sozialhistorischen Beschreibungen der Ausgrenzungsprozesse von Menschen mit Behinderung und die Verknüpfung der Phänomene Entfremdung und Verdinglichung werden im fünften Kapitel zusammengeführt und einer weiteren kritischen Analyse unterzogen; Entfremdet, verdinglicht und be-hindert beginnt mit der Beschreibung der vermeintlich ökonomischen Entfremdung von Arbeitskräften im Produktionsprozess; gerade in diesem Kontext wird – laut Stefan Schuster - Ausgrenzung, das Be-hindert-sein bzw. das Be-hindert-werden sichtbar; wenn Menschen mit Behinderung heutzutage immer noch eine Arbeitskraft von „minderer Güte“ attestiert wird, erscheint dies gedanklich nicht allzu weit weg von Ideen des gesellschaftlichen Nutzens und/oder Fragen nach der „Nützlichkeit“ von Menschen mit Behinderung; wenn marktwirtschaftliche Aspekte dominieren, erscheint eine VerANSTALTung (S.106) – und somit eben die Ausgrenzung der Betroffenen in Sondereinrichtungen bzw. die Verdinglichung von Behinderung – erschreckend konsequent.

Stefan Schuster beendet seine Untersuchung mit einem zusammenfassenden und ausblickenden Fazit; die einzelnen Kapitel rekapitulierend zeigt sich für den Autor, dass Entfremdungs- und Verdinglichungsprozesse, die sowohl den materiellen Basis- als auch den Überbaubereich einer Gesellschaft umgreifen, den gegenwärtigen Ausschluss von Menschen mit Behinderung hervorgebracht haben (S. 120).

Diskussion

Als Zielperspektive der vorliegenden Analyse segregierender Mechanismen zur Exklusion von Menschen mit Behinderung benennt Stefan Schuster, dass der gegenwärtige, anhaltende Ausschluss der betroffenen Menschen in seiner sozialhistorischen Gewordenheit begriffen werden kann und dass die ausschließenden gesellschaftlichen Verhältnisse so in den Fokus rücken, dass ihre mögliche Veränderung im Hier und Jetzt offensichtlich wird (S.19).

Als gelungen, informativ und gut nachvollziehbar kann in diesem Zusammenhang in jedem Fall die Rückschau des Autors auf die gesellschaftliche Konstruktion des Phänomens der Behinderung bezeichnet werden; logisch und folgerichtig bleibt die Erkenntnis, dass – trotz des vielbeschworenen Paradigmenwechsels – eben der Systemwechsel hin zu einer inklusiven Gesellschaft (teilweise noch) wenig gelingt; doch unklar bleibt die konkrete Transformation der Analysen auf die Zukunft; unbeantwortet ist die Frage, was denn nun zu tun wäre, hier eine signifikante Änderung des Status quo herbeizuführen.

Stefan Schusters Text ist – wie es Willehad Lanwer im Vorwort beschreibt – in der Tat in der Breite und Tiefe der Diskussion weit ausholend; stellenweise dominiert – eine vielfältige, philosophisch dominierte Gedankenführung; nicht alle Gesichtspunkte können dabei verständlicherweise umfassend zu Ende diskutiert werden; gerade der starke – und stellenweise ein wenig einseitig wirkende und/oder nicht kritisch genug diskutierte – Fokus auf Thesen und Schriften von Karl Marx – liefert den einen oder anderen „Stolperstein“ in der Argumentation des Autors.

Hervorzuheben ist die stets erkennbare, klare Grundhaltung des Verfassers; Stefan Schuster spricht sich „In Anbetracht einer gesellschaftlichen Situation, die durch ein expandierendes Sondersystem, durch die Reduktion von Behinderung auf Natur und Schicksal, durch gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, eine Ideologie der Ungleichwertigkeit und rohe Bürgerlichkeit gekennzeichnet ist … (S.121)“, klar dafür aus, dass Inklusion keine Integration der Menschen in eben diese bestehenden Systeme bedeuten kann, sondern dass hier alle Bemühungen in jedem Fall einen grundlegenden Systemwechsel erforderlich machen (ebd.).

Auch, wenn dieses Fazit an manchen Stellen – vielleicht bewusst – polarisiert und polemisiert und auch, wenn die positiven Errungenschaften in der professionellen Begleitung und Betreuung von Menschen mit Behinderung der letzten Jahrzehnte dabei nahezu vollkommen unkommentiert / unerwähnt / unberücksichtigt bleiben: das Statement Stefan Schusters zeigt sein hohes Engagement für eine gelingende Inklusion von Menschen mit Behinderung.

Fazit

Das theoretische Verständnis für die Mechanismen, die Menschen mit Behinderung aus gesellschaftlichen Bezügen ausgrenzt, wird anhand dieses vielschichtigen Buches gefördert; das reflektierte Erkennen exkludierender Phänomene ist für aufmerksame Leserinnen und Leser sicher erleichtert; ob das allein bereits ausreicht, Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe zu fördern und/oder einen Beitrag für die Umsetzung der Forderungen der UN-Behindertenkonvention zu liefern, das ist am Ende der Lektüre offen – aber bei Weitem nicht offensichtlich.

Rezension von
Dipl. Soz.-Päd. (FH) Mathias Stübinger
Diplom-Sozialpädagoge (FH) Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Hochschule Coburg, Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit, u.a. in tätig in den Lehrgebieten: Sozialmanagement / Organisationslehre / Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit / Praxisanleitung und Soziale Arbeit für Menschen mit Behinderung.
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Es gibt 34 Rezensionen von Mathias Stübinger.

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ISSN 2190-9245