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Marga Günther, Anke Kerschgens (Hrsg.): Forschungs­situationen (re-)konstruieren

Rezensiert von Prof. Dr. Erika Steinert, 21.03.2017

Cover Marga Günther, Anke Kerschgens (Hrsg.): Forschungs­situationen (re-)konstruieren ISBN 978-3-86388-079-8

Marga Günther, Anke Kerschgens (Hrsg.): Forschungssituationen (re-)konstruieren. Reflexivität in Forschungen zu intergenerativen Prozessen. Budrich Academic Press GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2016. 266 Seiten. ISBN 978-3-86388-079-8. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 35,50 sFr.

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Thema

Gemeinsame Klammer der Buchbeiträge ist die Forschungssituation und kritische Reflexion des Forschungsprozesses. Forschungssituationen zum Gegenstand von Reflexivität zu machen, bedeutet, über die verschiedenen Ebenen und Phasen des Forschungsprozesses, über seine Entstehung, das Forschungskonzept in theoretischer, methodologischer und methodischer Hinsicht, die soziale, disziplinäre, gesellschaftliche Verortung der Forschenden selbst, aber auch die interaktive Begegnung der Beteiligten nachzudenken. Wie diese Situationen Forschungstexte und -ergebnisse konstituieren, ist eine der zentralen Fragen, die in den einzelnen Beiträgen verfolgt wird.

Herausgeberinnen

Dr. phil. Marga Günther ist Professorin für Theorien und Methoden Sozialer Arbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt.

Dr. phil. Anke Kerschgens ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der J. W. Goethe-Universität, als Soziologin und Gruppenanalytikerin arbeitet sie zu Familie, Sozialisation, Geschlechterverhältnissen und psychoanalytisch-soziologischen Methoden.

Entstehungshintergrund

Die Herausgeberinnen verbindet langjährig das „Interesse an Forschungssituationen“ (S. 7). Die Buchbeiträge gehen überwiegend auf eine von den Herausgeberinnen veranstalteten Tagung im Jahr 2012 zum Thema „Generativität im Blick der Forschung“ zurück. Die Vortragenden waren gebeten, ihr Verständnis von Forschungssituationen exemplarisch am Beispiel ihrer Forschungen vorzustellen.

Aufbau

Die in insgesamt acht Beiträgen vorgestellten Forschungsprojekte beziehen sich thematisch auf Intergenerativität. Die Herausgeberinnen entwickeln einleitend den Gegenstand „Reflexivität in Forschungen“ (S. 7-21) aus einer soziologischen und psychoanalytischen Perspektive. Festgehalten werden drei Ebenen, die für qualitative, insbesondere rekonstruktive Forschung für bedeutsam gehalten werden:

  1. Reflexion des Forschungsprozesses,
  2. Reflexion von Forschungssituationen und
  3. Reflexion der Rolle der eigenen Person, also Selbstreflexivität (S. 12). Festgestellt wird, dass so verstandene, systematisch durchgeführte Reflexivität, ethnologische und feministische Forschung ausgenommen, sich immer noch selten in Forschungsdesigns und Forschungsberichten findet.

Abschließend resümieren die Herausgeberinnen im Kapitel „Forschungssituationen in Theorie und Praxis“ (S. 192 – 262) die einzelnen Beiträge, setzen sich mit Reflexivität im Kontext kritischer sowie psychoanalytischer Forschung auseinander und stellen schließlich eine „Systematisierung forschungsbezogener Reflexivität“ (S. 19) vor, nicht ohne auch Hinweise für deren forschungspraktische Umsetzung zu geben.

Den Beiträger*innen gemein ist der Bezug auf rekonstruktive Methoden. Vertreten sind Biografieforschung, Tiefenhermeneutik, Objektive Hermeneutik, Ethnoanalyse, psychoanalytisch rekonstruktive Sozialforschung. Die Autor*innen analysieren die jeweils damit verbundenen Forschungssituationen.

Drei Autor*innen präsentieren Forschungsprojekte zu Familie (Gerner, Inowlocki, King und Liebsch) mit unterschiedlichen Schwerpunkten:

  • Um familiale Kommunikation in jüdischen Displaced-Persons-Familien und bei binationalen Paaren geht es im Beitrag „Flüchtige Momente: Generativität und Emergenz in der Forschungssituation“ von Lena Inowlocki (S.47-64)
  • Familiale Trennungs- und Ablösungsprozesse im Kontext von Migration und Bildungsverläufen wird von Susanne Gerner in ihrem Bericht „Reflektierte Involviertheit als Herausforderung für ein differenzzsensibles Fallverstehen – Perspektiven für die Soziale Arbeit“ behandelt (S. 82-101).
  • Vera Kings Thema ist „Generativität und Weitergabe in Generationenbeziehungen erforschen“ (S. 102-121)
  • In „Generative Genetik. Über die Erforschung von Sinn und Bedeutung genetischer Information für die Betroffenen“ geht es Katharina Liebsch um die kommunikative Bearbeitung der Diagnose einer genetischen Krankheit (S. 65-81)

In weiteren Arbeiten geht es um

  • Weibliche Selbstbilder („Zeiträume – intergenerative Leib/Körperszenen tiefenhermeneutisch gelesen“, Regina Klein, S.22-46)
  • Die Gestaltung von Bildungsprozessen durch Lehrer*innen („Das Neue zulassen. Die Rekonstruktion des Handlungsproblems des Lehrens an den Grenzen des Datenmaterials“, Claudia Scheid, S. 122-145)
  • Adoleszenz in einem Krisengebiet („We´re Palestinians – we never back down. Nationale Narrative und die Inszenierung männlicher Lebensentwürfe in der Forschungssituation“, Christoph H. Schwarz, S. 146-168)
  • Transnationalität im Zusammenhang mit Biografieforschung und für Forschende selbst („Biografische Reflexivität als Schlüsselkonzept in der transnationalen Biografieforschung“, Siouti/Ruokonen-Engler, S. 169-191)

Ausgewählte Inhalte

Forschungssituationen zu reflektieren und exemplarisch anhand eigener Forschungsprojekte nachvollziehbar zu machen, ist der den Beiträger*innen vorgegebene Rahmen. Zu behandeln sind inhaltlich Fragen der Generativität, sie werden methodisch unterschiedlich bearbeitet.

Im Folgenden wird exemplarisch auf drei Fallbeispiele und wie der Anspruch auf Reflexivität eingelöst wird, eingegangen.

In ihrem Beitrag „Generative Genetik. Über die Erforschung von Sinn und Bedeutung genetischer Information für die Betroffenen“ kontrastiert Katharina Liebsch die Forschungssituationen zweier Interviews, in denen eine selbst erkrankte Frau und die Mutter eines erkrankten Kindes zu Wort kommen. Sie sind beide von einer genetischen Mutation in ihren Körperzellen betroffen und weisen dabei maximale Unterschiede in ihrer Selbstdeutung und der Gesprächsdynamik zwischen Interviewerin und Befragter auf. Diese sind ebenso wie die Wahrnehmungen und Empfindungen der Interviewerin Gegenstand der Reflektion. Zuvor wird einleitend der Forschungsgegenstand Genetik als mit der Diagnose und Behandlung von Erbkrankheiten, also eines physischen Geschehens einerseits konstruiert, andererseits als ein mit sozialer Bedeutung aufgeladenes Phänomen. Darüber hinaus wird deutlich, wie das Wissen um Genetik und Erbkrankheiten individuell hergestellt und intergenerativ weitergegeben wird. Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung zu genetischer Diskriminierung in Abgrenzung zu anderen Diskriminierungen fehlt in Deutschland. An dieser Forschungslücke setzt die Beiträgerin an.

Nach der Beschreibung des Untersuchungsdesigns und des methodischen Vorgehens geht die Autorin auf Irritationen im Zusammenhang mit der Anwendung des von ihr konstruierten Fragebogens ein. Ein doppelter Bias wird festgestellt, der darauf verweist, dass Ziel und Anliegen des Projekts anfänglich unklar waren. Gegenstand der Reflexion ist darüber hinaus das jeweilige Setting der Interviews, der Kommunikationsstil der Interviewerinnen, der verbale und nonverbale -Redestil der Befragten ebenso wie die Generationsbeziehung zwischen Interviewerin und Interviewten und ihre Bedeutung für den Interviewverlauf.

Deutlich wird neben der interessanten Auseinandersetzung mit den beiden sehr unterschiedlichen Fallbeispielen, dass die „Reflexion der Erkenntnisbedingungen der Forschungssituation, deren Konstellationen und praktische Bedingungen sowie die Reflexion der Perspektiven und Beziehungen von Forschenden und Erforschten selbst zum Bestandteil von Interpretation und Verstehen werden, sie auch die Analyse des Materials zu ergänzen und zu bereichern vermögen“ (S. 79). Die Standortgebundenheit von Erkenntnis, damit die Relativität von Erkenntnis steht hier im Zentrum, und, so führt die Autorin aus, sie stellt sich als Anforderung „umso dringlicher in Analysen prekärer gesundheitlicher Lebenslagen“ (ebd.), da die Differenz und die sozialen, kulturellen Unterschiede zwischen Er- und Beforschten zumeist groß ist und sich damit unterschiedliche Sichtweisen auf Welt verbinden. Diese gilt es, intersubjektiv zu reflektieren.

In Claudia Scheids Forschungsprojekt „Das Neue zulassen. Die Rekonstruktion des Handlungsproblems des Lehrens an den Grenzen des Datenmaterials“ geht es um Lehrer*innen im Primarbereich und welche Ziele sie im beruflichen Handeln verfolgen.

Forschungsziel ist es, das sich mit dem Unterrichten verbindende Handlungsproblem zu rekonstruieren. Auch in diesem Projekt wird zunächst die Erfahrung irritierender Ergebnisse, ausgehend von „narrativ angelegten Forschungsgesprächen“ (S. 18) gemacht. Die Daten wurden objektiv-hermeneutisch ausgewertet, im Beitrag selbst wird interessant und lebendig geschildert, welche Verunsicherung und Selbstzweifel sich einstellten, als die ersten Interviews ausgewertet wurden und die Antworten der Lehrer*innen nicht die erwarteten Informationen erbrachten. Wie im weiteren Prozess reflexiv damit umgegangen wurde, welche Theorieansätze zu Rate gezogen oder verworfen, welche methodologischen und methodischen Überlegungen im Zusammenhang mit der Frageformulierung angestellt wurden und wie Interviewäußerungen interpretiert werden können, stellt eine spannende Lektüre dar. Die Analyse von Unterrichtssequenzen ebenso wie die der Reaktion einer fachfremden Befragten auf die Frage nach von ihr verfolgten beruflichen Zielen wird schließlich als Durchbruch im Suchprozess dargestellt, an den sich die weitere Arbeit einer Rekonstruktion der Struktur von Lehrerhandeln und die Theoretisierung der Forschungsergebnisse anschließt.

Irini Siouti und Minna Ruokonen-Engler thematisieren in ihrem Beitrag „Biografische Reflexivität als Schlüsselkonzept in der transnationalen Biografieforschung“ Transnationalität im Zusammenhang mit Biografieforschung und die Bedeutung von Transnationalität für Forschende selbst.

Problematisiert wird, dass sozialwissenschaftliche Migrationsforschung klassisch die Perspektive eines „methodologischen Nationalismus“ einnimmt. Methodologisch und methodisch ist qualitative Forschung den Herausforderungen zunehmender Mobilität, komplexer Migrationsprozesse, den „vielfachen Zugehörigkeiten“ (S. 169) und der Vernetzung von Menschen in der globalisierten Welt kaum noch angemessen. Dies gilt auch für die sozialwissenschaftliche Biografieforschung. Die mit einem „methodologischen Nationalismus“ verbundenen Begrenzungen des Verstehens werden, so die Autorinnen, im neuen theoretischen Ansatz der Migrationsforschung durch eine transnationale Sichtweise aufgehoben. Das bedeutet, Datenerhebung „im Kontext verschiedener Orte, Sprachen und kultureller Herausforderungen“ (S. 169) durchzuführen. Die Forschungsbeziehung und Rolle der Forscher*innen rückt in der transnationalen Wissensproduktion „in den Mittelpunkt des Interesses“ (ebd.). Im „transnational turn“ wird Reflexivität zum „zentralen Schlüsselkonzept“ (S. 170). Ein transnational erweiterter biografischer Ansatz und die Biografieanalyse stellt für die Autorinnen die Möglichkeit dar, „Vielfalt, Komplexität und den Transformationscharakter“ (S. 172) von Transmigration angemessen zu rekonstruieren. Diese ihre These wird im Kapitel: Der biografische Forschungsansatz in transnationalen Migrationskontexten erläutert.

Die Autorinnen sind vor dem Hintergrund ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit zu transnationaler Migrationsforschung zu dem Schluss gekommen, dass eine biografische Forschungsperspektive und damit einhergehend das von ihnen entwickelte Konzept der „Biografischen Reflexivität“ einen Erkenntnisgewinn verspricht. Um den Herausforderungen der transnationalen Forschungsperspektive gerecht zu werden, nennen sie für die qualitative Forschungspraxis drei methodologische und forschungspraktische Aspekte: 1. Überwindung des Methodologischen Nationalismus, 2. Hinterfragung der Kategorien Nationalität und Ethnizität, 3. Reflexion der Positionalität der Forscher*innen.

Wie „Biografische Reflexivität“ forschungspraktisch von ihnen eingelöst wird, machen die Autorinnen mit einer Fallvignette nachvollziehbar. Abschließend stellen sie eine von ihnen entwickelte „Sensibilisierungsfolie für eine methodisch angeleitete narrative biografische Reflexion“ (S. 183) vor, die gleichermaßen in Forschung und Lehre angewendet werden kann.

Diskussion

Anliegen der Herausgeberinnen ist es, Reflexivität auf drei Ebenen, die im Zusammenhang mit qualitativer, insbesondere rekonstruktiver Forschung für bedeutsam gehalten werden, in den Beiträgen zu thematisieren: 1. Reflexion des Forschungsprozesses, 2. Reflexion von Forschungssituationen und 3. Reflexion der Rolle der eigenen Person, also Selbstreflexivität. Die Herausgeberinnen geben der gestellten Aufgabe auf anspruchsvolle Weise insbesondere in ihrem Schlusskapitel einen wissenschaftlich fundierten Rahmen, indem sie die zentralen Begriffe – Verstehen, Situation, Reflexivität – im Lichte soziologischer Konzepte und Referenztheorien beleuchten und methodologisch differenziert begründen. Gleichzeitig wollen sie einen Weg zeigen, wie Reflexivität systematisch forschungspraktisch eingebunden werden kann und machen zu diesem Zweck methodische Vorschläge.

Die Beiträger*innen füllen ihrerseits die Rahmung durch die Herausgeberinnen forschungspraktisch mit Leben und machen versteh- und nachvollziehbar, wie Reflexivität umgesetzt wird. Sie beziehen sich inhaltlich konsistent und kohärent auf Anspruch und Anliegen der Herausgeberinnen, und umgekehrt fassen die Herausgeberinnen die Beiträge systematisierend bezogen auf die jeweilig bearbeiteten Ebenen von Reflexivität zusammen,

Damit wurde ein längst fälliges Buch vorgelegt, das dazu beitragen kann, empirische Forschung „reflektierter“ durchzuführen!

Fazit

Das Buch kann für Master-Studierende, Promovend*innen und Lehrende der Erziehungswissenschaften und verwandter Disziplinen anregend sein und wird wärmstens empfohlen!

Rezension von
Prof. Dr. Erika Steinert
Prof. i. R., Hochschule Zittau/Görlitz
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Es gibt 12 Rezensionen von Erika Steinert.

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ISSN 2190-9245