Hans Werbik, Gerhard Benetka: Kritik der Neuropsychologie
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 10.02.2017
Hans Werbik, Gerhard Benetka: Kritik der Neuropsychologie. Eine Streitschrift. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2016. 124 Seiten. ISBN 978-3-8379-2563-0. D: 19,90 EUR, A: 25,60 EUR.
Thema
Die Psychologie als eine Wissenschaftsdisziplin hat es gegenwärtig wahrlich nicht leicht sich als eigenständiges Fach zu behaupten. Doch diese Existenzsorgen bestanden schon von Anfang an, ist doch die Psychologie bedingt durch ihren Gegenstandsbereich genuin ein Zwitterwesen ohne fest abgrenzbare Konturen, halb Geisteswissenschaft halb Naturwissenschaft. Gefangen zwischen Subjektivität (u. a. Introspektion) und Objektivität (Beobachtung, Messung u. a.) vermag sie sich schwerlich der Dominanz von Medizin und Biologie mit den damit verbundenen Vereinnahmungstendenzen zu entziehen. In der vorliegenden Streitschrift setzen sich zwei Psychologen mit diesen Umwälzungen äußerst kritisch auseinander.
Autoren
Hans Werbik (Prof. Dr. phil.) ist emeritierter Professor für Psychologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Universitätslektor an der Sigmund-Freud Privatuniversität in Wien. Gerhard Benetka (Prof. Dr. phil.) arbeitet als Professor für Psychologie an der Sigmund-Freud Privatuniversität in Wien.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in zehn Kapitel aufgeteilt.
In Kapitel 1 (Zum Erkenntnisinteresse der Neurowissenschaften: Seite 13-15) spannen die Autoren ein äußerst merkwürdiges und schon polemisches Argumentationsgefüge mit den Polen Naturwissenschaften als vorrangiges Herrschafts- und Profitorientierungswissen auf der einen Seite und einer „Psychologie auf Basis einer Kultur des mitmenschlichen Umgangs“ (Seite 14) auf der anderen Seite.
Kapitel 2 (Der Traum vom objektiven Blick ins Erleben: Seite 17-20) thematisiert das Problem der Objektivierung seelischer Prozesse u. a. anhand der Kontroversen aus der Geschichte der Psychologie vorwiegend des 19. Jahrhunderts.
In Kapitel 3 (Leib-Seele-Problem: Seite 21-29) beschäftigen sich die Autoren schwerpunktmäßig mit philosophischen und erkenntnistheoretischen Fragen der so genannten Geist-Körper-Dualität mittels übersichtsartiger Beschreibung verschiedener Sichtweisen und Schulen (u. a. dualistischer Parallelismus, Epiphänomenalismus und Materialismus).
Kapitel 4 (Reduktionismus: Seite 31-42) befasst sich mit verschiedenen Formen des genuin naturwissenschaftlichen Erkenntnismodells des Reduktionismus, der letztlich als Ideal die Entwicklung einer „Weltformel“ oder einer „Theorie von Allem“ besitzt. Ein Anspruch, an dem u. a. schon Einstein und Heisenberg mit ihren Bemühungen der Vereinigung der vier Kernkräfte des physischen Seins gescheitert sind.
In Kapitel 5 (Zur Kritik der Forschungsmethoden in den Neurowissenschaften: Seite 43-58) zeigen die Autoren recht konkret auf, was von den neurowissenschaftlichen Erfassungsinstrumenten EEG, funktionale Magnetresonanztomographie (MRT) und der Läsionsforschung bezüglich der Ermittlung neuen Wissens gehalten werden kann. Hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit eklatant auseinander, wenn zum Beispiel bunte Bilder (MRT) keine Erkenntnisse über die innere Logik des Gehirns generieren.
Kapitel 6 (Willensfreiheit: Seite 59-80) befasst sich mit der Kontroverse über die so genannte Willensfreiheit, die vor über zehn Jahren in Deutschland gleich einem Grabenkrieg zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern sehr publikumswirksam in fast allen Medien einschließlich der Feuilletons der Tageszeitungen geführt wurde. Die Autoren schlagen in diesem geistigen Ringen um Erkenntnis als „konsensfähige Position“ vor, Willensfreiheit als ein „soziales Konstrukt“ aufzufassen.
Kapitel 7 (Psychologische Relevanz? Das Beispiel der Psychoanalyse: Seite 81-87) beinhaltet die Darstellung der recht wenigen geistigen Versuche, die Psychoanalyse mit den Neurowissenschaften in einem theoretischen Gefüge kompatibel vereinigen zu wollen.
In Kapitel 8 (Zur gesellschaftlichen Funktion der Neurowissenschaften: Seite 89-98) wird auf die Dominanz der Neurowissenschaften in der Gesellschaft im Sinne einer Leitwissenschaft hingewiesen. Zugleich wird von den Autoren moniert, dass trotz hochtechnologischer Apparaturen mit computergestützter Hard- und Software die Resultate, meist Kernspinbilder, doch recht mager sind.
In Kapitel 9 (Ausblick: Seite 99-112) zeigen die Autoren ihre Perspektive und zugleich Alternative zu den neurowissenschaftlichen Vorgehensweisen auf: die Kulturpsychologie. Dieser Forschungszweig besitzt eine andere Vorstellung von Empirie. Nicht das Abstrakte im lebensfremden Laborkontext erfasste Wissen steht im Mittelpunkt, sondern das „Vorfindliche“ im alltäglichen Leben bildet den Ausgangspunkt des Forschens.
Kapitel 10 (Ziele unserer Streitschrift: Seite 113-115) fasst die wesentlichen Argumente und Beweggründe der Autoren nochmals zusammen. Es wird befürchtet, dass die Psychologie als Wissenschaftsdisziplin ihre Eigenständigkeit verliert. Sie wird nach Einschätzung der Autoren zunehmend ein Teil biologischer Forschungsrichtungen mit der Folge, vorrangig den „Herrschaftsinteressen“ dienen zu müssen und dadurch zugleich ihre „emanzipatorischen Interessen“ zu verlieren. Des Weiteren wird unterstellt, dass die Neuropsychologie und verwandte Forschungsrichtungen letztlich völlig ungeeignet seien, „lebenspraktisch relevante Probleme“ angemessen erforschen zu können.
Diskussion
Der Untergang der Psychologie als eigenständiger Wissenszweig wird konstatiert. Der Trend geht hin in Richtung objektiver naturwissenschaftlicher Forschung unter zunehmenden Verzicht geisteswissenschaftlicher Vorgehensweisen, die stärker subjektive Erfassungsmodalitäten favorisieren.
Dass die naturwissenschaftliche Durchdringung psychischer und seelischer Prozesse noch am Anfang steht und vielleicht auch nie gelingen wird, weisen die Autoren anhand des berühmten „Manifestes“ der führenden Neurowissenschaftler aus dem Jahr 2004 und der mehr als ernüchternden Bilanz zehn Jahre später nach. Die tiefe Kluft zwischen neuronalen physischen Prozessen und der Sphäre des Subjektiven, des Fühlens und Empfindens ist immer noch unverrückbar trotz Hochtechnologie vorhanden.
Doch zugleich überschreiten die Autoren an mehreren Stellen die Grenzen einer Streitschrift und gelangen in das Revier der Polemik und der Schmähschrift, wenn sie zum Beispiel die Neurowissenschaften als bloße Kontroll- und Herrschaftsinstrumente diskreditieren. Und wenn dann auch noch das „Emanzipative“ der geisteswissenschaftlichen Wissensaneignung („Kulturpsychologie“ u. a.) als alleiniger Zugang zum Seelischen propagiert wird, dann gelangen die Autoren auf die Ebene simpler Schwarzweißmalerei mit einem diesbezüglich unpassenden normativen Beigeschmack.
Fazit
Die vorliegende Streitschrift kann als Ausdruck des Ringens zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts verstanden werden. Obwohl die Autoren aus der Sicht des Rezensenten keine schlüssigen Argumente gegen eine Inkorporation der Psychologie in die Biologie vorbringen können, kann diese Arbeit Lesern mit den Interessenschwerpunkten Wissenschaftsgeschichte und Neurowissenschaften zur Lektüre empfohlen werden.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
Website
Mailformular
Es gibt 227 Rezensionen von Sven Lind.
Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 10.02.2017 zu:
Hans Werbik, Gerhard Benetka: Kritik der Neuropsychologie. Eine Streitschrift. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2016.
ISBN 978-3-8379-2563-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21542.php, Datum des Zugriffs 05.11.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.