Ueli Hostettler, Irene Marti et al.: Lebensende im Justizvollzug
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Klug, 19.01.2017

Ueli Hostettler, Irene Marti, Marina Richter: Lebensende im Justizvollzug. Gefangene, Anstalten, Behörden. Stämpfli Verlag (Bern) 2016. 141 Seiten. ISBN 978-3-7272-3211-4. 38,00 EUR. CH: 38,00 sFr.
Thema
Menschen im Freiheitsentzug können nicht frei bestimmen, wie und wo sie sterben. Die Thematik des würdevollen Sterbens im Justizvollzug erfordert daher spezielle Aufmerksamkeit. Auf der Grundlage eines Forschungsprojekts stellt das Buch die Perspektiven der verschiedenen Beteiligten dar: Erfahrungen, Fragen, Bedürfnisse, Befürchtungen und Visionen von Gefangenen, Mitarbeitenden und Behörden werden anhand von Material aus Interviews und Beobachtungen anschaulich dargestellt. Die verschiedenen Etappen bis zum Lebensende und zum Tod werden aufgezeigt und aus Sicht der Forschenden kommentiert. (Klappentext)
AutorInnen
- Ueli Hostettler lehrt als Senior Researcher und Professor an der Universität Bern, Institut für Weiterbildung und Medienbildung.
- Irene Marti arbeitet als Ethnologin am Institut der Université de Neuch?tel und als Forschungsassistentin am Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern.
- Marina Richter ist Geografin und Soziologin; sie ist als Oberassistentin und Privatdozentin beschäftigt im Studienbereich Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit der Universität Freiburg i. Ü.
Aufbau und Inhalt
Von September 2012 bis April 2016 hat eine interdisziplinär zusammengesetzte Gruppe in dem vom Schweizer Nationalfond geförderten Forschungsprojekt „Lebensende im Gefängnis – Rechtlicher Kontext, Institutionen und Akteure“ eine Vielzahl der mit diesem Thema zusammenhängenden Fragen erforscht.
Das einleitende Kapitel stellt die Gefängnisse vor, in denen geforscht wurde (JVA Lenzburg und Pöschwies sowie Bewachungsstation Inselspital Bern). Ebenso wird die Forschungsmethode kurz angerissen (Aktenanalyse von 15 Todesfällen der letzten 30 Jahre, Teilnahme am Gefängnisalltag der Abteilung „60plus“, Befragung von Vollzugsmitarbeitenden, Gefangenen und Vollzugsbehörden). Es folgt die Darlegung des Forschungsstandes, wobei die besondere Problematik von alten und sterbenden Gefängnisinsassen herausgearbeitet wird. Als interpretativer Rahmen wird das Konzept der „Institutionellen Logik“ eingeführt, die einer Organisation als Sinngefüge dient. Die institutionelle Logik eines Gefängnisses ist neben der Sicherheit auch die Fürsorge und die Resozialisierung. Für die genannte Zielgruppe der alten Gefängnisinsassen verschieben sich die Gewichtungen: Ihr Gefährlichkeitsrisiko sinkt und damit die Notwendigkeit stärkerer Überwachung; dafür werden die Notwendigkeiten in Bezug auf Fürsorge größer. Das Kapitel zeigt an Beispielen „typische Verläufe“ auf.
Das zweite Kapitel ist überschrieben mit „Perspektive Lebensende im Gefängnis“. Es widmet sich der Frage: Wie gehen Gefangene, die höchstwahrscheinlich im Gefängnis sterben werden, mit dieser Perspektive um? Mit Interviewausschnitten werden die Probleme charakterisiert, die sich aus dem dauernden Ausschluss aus der Gesellschaft ergeben. Dabei kommen die verschiedenen Überlebensstrategien, aber auch die Problematik einer dauerhaften Verwahrung zur Sprache.
Ein besonders wichtiger Aspekt steckt in der Frage der Gesundheits- und Notfallversorgung in der Haft, speziell in der Nacht und an den Wochenenden. Hier zeigen sich aus Sicht der Gefangenen große Lücken. Eine interessante und zum Nachdenken anregende Randbemerkung: Bis heute ist juristisch umstritten, ob Gefangene das gleiche Recht wie alle übrigen Schweizer auf einen „assistierten Suizid“ haben.
Doch nicht nur für die Gefangenen, auch für die Bediensteten ist die Situation von alternden und sterbenden Inhaftierten eine Herausforderung. Sie geraten in Rollenkonflikte, die gewohnten Konzepte von Nähe und Distanz werden in Frage gestellt, die nie hinterfragten Prinzipien von Professionalität verlieren angesichts menschlich-existenzieller Not (z. B. nach Berührt-Werden) ihren Sinn. Es zeigt sich, dass weder personell noch ideell bislang die nötigen Konsequenzen gezogen wurden und es der Eigeninitiative der Bediensteten überlassen bleibt, wie sie mit diesen Situationen umgehen. Die Autoren bringen dies auf den Punkt, wenn sie schreiben: „Sterben ist nicht Teil der Institution Gefängnis“, es stört die Abläufe (S. 58).
Diese menschlichen und institutionellen Dramen spielen sich vor dem Hintergrund einer öffentlichen Meinung ab, die durch den Ruf nach immer mehr Härte und Nullrisiko für immer stärker eingeschränkte Spielräume der Vollzugsbehörden sorgt.
Das dritte Kapitel („Verlust der Selbstständigkeit“) wiederholt im Wesentlichen die Erkenntnisse des zweiten Kapitels. Es verstärkt sich der Eindruck, dass institutionelle und personelle Ressourcen fehlen, um den Herausforderungen der genannten Zielgruppe adäquat zu begegnen.
Im vierten Kapitel geht es um das Thema „Sterben“. Auch hier wird zunächst die Perspektive der Gefangenen beschrieben. Interessanter Befund: Nicht der Ort ist aus Sicht der Sicherungsverwahrten entscheidend, sondern die Umstände. Sie fürchten am meisten, einsam und alleine in der Zelle sterben zu müssen. Da es den Gefangenen offenbar verboten ist, einander zu helfen und die Notsysteme – wie beschrieben – defizitär sind, erscheint dies keine unbegründete Angst zu sein. Aus Anstaltsperspektive, dies zeigen die Autoren sehr nachdrücklich, ist der „normale“ Tod nicht vorgesehen. Prozeduren für Unfälle, Suizide, ja Morde sind im „Betriebshandbuch“ beschrieben, der Alterstod nicht. In hierarchischen Gefügen, deren Logik gemäß alles geregelt ist, werden die ungeregelten Vorfälle immer mit Versagensängsten und Verhaltensunsicherheiten der Beschäftigten assoziiert. Insofern gehen auch die Meinungen, wie man damit umgehen müsste (z.B. Sterbebegleitung) bei den Bediensteten auseinander. Wiederum zeigt sich, dass die organisatorischen Voraussetzungen in vielerlei Hinsicht für einen würdevollen Tod von Langzeitverwahrten fehlen. Diese Anforderung stellt sich umso mehr, als es aus rechtlichen und faktischen Gründen offenbar nur sehr schwer möglich ist, einen anderen geeigneten Sterbeort zu finden.
Der Kreis schließt sich mit dem letzten Kapitel „Nach dem Tod“. Auch hier werden in der schon gewohnten Aufteilung (Gefangenen-, Anstalts-, Behörden-, Forschungsperspektive) die jeweiligen Sichten auf die Situation, die nach dem Tod eines Gefangenen entsteht, beleuchtet. Das Fazit unterscheidet sich nicht sehr von dem früherer Kapitel: Der Tod eines Häftlings stellt alle vor große Herausforderungen, denen kaum einer gewachsen ist. Insbesondere für die Behörde bedeutet er einen „Störfall“.
Diskussion
Das Buch behandelt ein aus Schweizer Perspektive beschriebenes, aber auch für deutsche Verhältnisse übertragbares überaus aktuelles und bislang in der Wissenschaft viel zu wenig beachtetes Thema, nämlich den Prozess des Sterbens im Gefängnis. Es verweist auf ein – wie sich zeigt – nach wie vor ungelöstes Problem: das Abstandsgebot, das das Bundesverfassungsgericht (BVerfG vom 4.Mai 2011, 2 BVR 2365/09) den Justizbehörden auferlegt hat: Die Bedingungen der Sicherungsverwahrung müssen sich von denen der Strafhaft unterscheiden. Zwar gibt es diese Vorgabe in der Schweiz nicht, aber auch in Deutschland, wo es sie gibt, dürfte die Fragestellung dieser Untersuchung beim Justizvollzug eher hilfloses Achselzucken hervorrufen. Beleg für die fehlende Auseinandersetzung ist die Tatsache, dass kaum empirische Erkenntnisse für dieses existenzielle Problem vorliegen. Schon deshalb ist das Buch unbedingt lesenswert.
Zudem ist es gut strukturiert, es finden sich innerhalb der vorgestellten Kapitel immer dieselben Perspektiven (Gefangene – Anstalt – Behörden – Forschung) auf das vorgestellte Thema (siehe die Kapitelüberschriften), das sich (ebenfalls sehr logisch) am zeitlichen Ablauf eines Lebens- und Sterbensprozesses orientiert. Andererseits wirkt diese Strukturierung bisweilen etwas zwanghaft, insbesondere, wenn die geschilderten Standpunkte der Betroffenen zwischen den Kapiteln sehr ähnlich sind und kaum zu neuen Erkenntnissen führen. Vielleicht wäre eine Strukturierung analog der eingangs eingeführten Denkfigur der „Institutionellen Logik“ der Akteure sinnvoller gewesen, wenngleich man dann auf die von den Autoren gewünschte kapitelweise Kontrastierung der Beteiligten-Perspektiven hätte verzichten müssen.
In jedem Fall ist ein Gewinn in der Erkenntnis zu sehen, wie das Thema „Sterben“ als quasi Fremdkörper in einen Vollzugsalltag einbricht. Wenn die institutionelle Logik der Vollzugsanstalt gerade die exakte Regelung aller Vorgänge beinhaltet und diese Logik zur zweiten Natur der Anstalt wird, muss sie schlechthin Unregelbares wie den Tod als „Störfall“ und größtmögliche Irritation empfinden. Der Vorschlag der Autorengruppe, dass der Justizvollzug von der Logik „Sicherheit“ zur Logik „Fürsorge“ kommen müsste, ist nachvollziehbar, aber vermutlich ebenso schwer zu verwirklichen, wie die oben genannte Entwicklung einer eigenen Haftform der Sicherungsverwahrung. Wer ausschließlich in Kategorien von „Sicherheit“ denkt, wird immer nur Lebens- und Alltagsformen der Sicherheitslogik hervorbringen. Dies wird von den Autoren in größtmöglicher Deutlichkeit herausgearbeitet.
Es ist ein Verdienst des Buches, dieses Dilemma deutlich zu machen. Allerdings darf nicht darüber hinweggesehen werden, dass bisweilen für die behaupteten Tatsachen die entsprechenden Nachweise fehlen. So wird z. B. behauptet, im Todesfall eines Häftlings seien die Behörden „erste Zielscheibe für Kritik“ (S. 120), was nach der Wahrnehmung des Rezensenten so nicht der Fall ist. Hier und an anderer Stelle hätte man gerne die Beobachtungen der Autoren verifiziert.
Aber noch einmal: Selbst wenn das Buch bisweilen zu essayistisch geschrieben ist und normativ aufgeladen argumentiert, so ist doch die Tatsache nicht von der Hand zu weisen, dass es sich einer von der Öffentlichkeit vergessenen Personengruppe und eines (leider) völlig tabuisierten Themas annimmt. Dies macht es auch für den wissenschaftlichen Gebrauch durchaus wertvoll.
Fazit
Insbesondere Insider des Justizvollzugs (Bedienstete, Ministeriale, Betroffene) dürften dieses Buch mit Gewinn lesen, denn es bietet einen Anstoß, über das wichtige Thema „Lebensende im Justizvollzug“ möglichst gemeinsam nachzudenken. Aber auch als Appell an Forscher und deren Finanziers, entsprechende Forschung zu fördern und methodisch umzusetzen, kann das Buch dienen. Da es sich leicht liest, ist es auch für Studierende und Lehrende empfehlenswert, die an diesem Beispiel die „institutionelle Logik“ einer Justizvollzugsanstalt kennenlernen bzw. lehren können und die das Thema „Lebensende“ nicht scheuen.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Klug
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Fakultät Soziale Arbeit
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