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Thomas Mücke, Dörthe Nath: Zum Hass verführt

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 26.10.2016

Cover Thomas Mücke, Dörthe Nath: Zum Hass verführt ISBN 978-3-8479-0607-0

Thomas Mücke, Dörthe Nath: Zum Hass verführt. Wie der Salafismus unsere Kinder bedroht und was wir dagegen tun können. Eichborn Bastei Lübbe AG (Köln) 2016. 252 Seiten. ISBN 978-3-8479-0607-0. D: 19,99 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 28,50 sFr.

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Die Suche nach sich selbst

Ich- und Selbstfindung sind Herausforderungen, die ein Leben lang dauern. Identität als eine Voraussetzung dafür, als Individuum und Gemeinschaftswesen human leben zu können, braucht Unterstützung, Vertrauen und Zuversicht. Gelingt die Vergewisserung nach der Frage: „Wer bin ich?“, sind oftmals die Lebensbahnen geebnet, wenn auch nicht vorbestimmt. Entstehen dabei aber Brüche oder gar Leeren, ist Habacht geboten. Eltern, Verwandte, Freunde, Nachbarn, Lehrkräfte und Berufszugehörige sind gefordert, Aufmerksamkeit, Zuwendung und Hilfe anzubieten. Denn in die individuellen, psychischen und emotionalen Lücken stoßen nicht selten Kräfte und Mächte, die nicht zur Ichfindung beitragen, sondern eine andere Ideologie einpflanzen wollen. Jugendliche, die in bei diesem Ich-Findungsprozess scheitern oder in Stoßstraßen landen, sind oftmals die Beute von fundamentalistischen und radikalen Ideologen.

Entstehungshintergrund und Autor

Eine (religiöse) Ideologie stellt der Salafismus dar. Mit der Ausrufung des Dschihad als Lebens- und Rechtsform stellen sich Islamisten als Gegner einer weltanschaulich-freiheitlichen Haltung auf, propagieren eine antiwestliche und antimodernistische Bewegung und setzen sich zum Ziel, Menschen mit Macht und Gewalt zum „wahren“ Glauben zu prügeln und zu bomben (Klaus Hummel / Michail Logvinov, Hrsg., Gefährliche Nähe. Salafismus und Dschihadismus in Deutschland, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17750.php). Erstaunlicherweise wird diese menschenverachtende, fundamentalistische Auffassung von nicht wenigen Jugendlichen befürwortet. Psychologen, Soziologen und Pädagogen suchen nach den Gründen dieser Verführbarkeit. Es sind, so die Ergebnisse, fast immer Jugendliche, die sich in ihrer Umgebung isoliert, ausgegrenzt, abgelehnt und diskriminiert empfinden, ein geringes Selbstwertgefühl haben und für ihr Leben in der Gesellschaft keine Perspektiven erkennen können. „Die(se) Identitätskrisen junger Menschen werden von der extremistischen Szene rücksichtslos für die eigenen politischen Zwecke missbraucht“.

Der Berliner Diplom-Pädagoge und Diplom-Politologe Thomas Mücke ist Mitbegründer einer Einrichtung, die sich um gefährdete Jugendliche bemüht, die von rechtsextremistischen und fundamentalistischen Organisationen umworben und rekrutiert werden: Violence Prevention Network (VPN). Als Trainer, Ausbilder, Berater und Coach setzt sich Mücke dafür ein, Radikalisierungsentwicklungen bei Jugendlichen möglichst frühzeitig zu erkennen, um sie abwenden zu können, Betroffene und deren Angehörige bei der Umkehr hin zu einem selbstbestimmten Leben zu unterstützen und in der Öffentlichkeit dafür zu werben, die Ursachen einer solchen Entwicklung nicht durch eigene, undifferenzierte und vorurteilsbehaftete Einstellungen zu verkleistern.

Da ist Mehmet, der mit seiner aufgeschlossen und liberal eingestellten Familie in einer hessischen Kleinstadt lebte, Lernen und schulische Bildung nicht besonders ernst und wichtig nahm, mit Gleichaltriger eher herumhing und seinen Tag verchillte. Als 17jähriger bekamen er und seine Freunde Kontakt mit muslimisch-religiösen Fanatikern und Ideologen, direkt und im Internet. „Deutschland ist ein Land von Kuffars (Ungläubigen, JS). Ein echter Muslim muss in einem Gottesstaat leben“. Diese Giftpfeile und Anklagen wirkten: Er wollte ein richtiger Muslim sein. Der Weg hin zu Gleichgesinnten in der Moschee und in Wohnzimmern war kurz. Die Indoktrination begann, und mit ihr die Kritik am demokratischen System, der abhanden gekommenen Stärkung des Selbstbewusstsein und die bis dahin nicht bekannte Überzeugung, „etwas wert zu sein und eine Aufgabe zu haben“. Ein Jahr später war er bereit, für den IS in den Krieg zu ziehen. Nach Syrien zu kommen, war nicht schwierig; die Planungen wurden übernommen, Kontakte und Adressen standen zur Verfügung. Über Gaziantep, einer 1,8-Millionen-Einwohner-Stadt in der Türkei, ohne Probleme über die Grenze nach Syrien gelotst, erreichten er und weitere zukünftige Kämpfer des IS Dscharabulus. In einem mit Stacheldraht eingezäunten und von Zäunen, Toren und Mauern abgesperrten Lager wurden die vielen Neuangekommenen, überwiegend junge Menschen aus dem arabischen Sprachraum, aber auch einige Europäer, in militärisch organisierten Versammlungen und Appellen auf die Ziele des IS eingeschworen. Der Anführer gab unmissverständlich bekannt: „Jeder, der das Lager verlässt, wird als Spion behandelt“. Handys, Schmuckstücke, Uhren und alles, was nicht Kleidung war, mussten sie abgeben. Ein Kontakt nach draußen war nicht möglich; es sei denn, es gelang, auf welchen Wegen auch immer, eine Nachricht z. B. an die Familie zu Hause zu senden: „Mir geht es gut!“! Diejenigen, die dabei entdeckt wurden, wurden verhört, gefoltert und schließlich hingerichtet. Die Ausbildung zum Kämpfer und Selbstmordattentäter beginnt. Es gelang Mehmet (der Name wurde vom Autor abgeändert), aus bisher nicht geklärten Gründen (!) aus dem IS-Lager zu fliehen und über die Türkei wieder nach Deutschland zu kommen. Thomas Mücke schildert die Prozeduren, die nun einsetzten, durch die Polizei, den Verfassungsschutz und die Betreuer-Organisation, um herauszufinden, welche Motive und Mittel dazu beitrugen, dass Mehmet zum IS gehen konnte, was er dort erlebte und weshalb er floh. Besonders interessant und bemerkenswert sind dabei die Bemühungen von Violence Prevention Network in Frankfurt/M., den Jungen wieder in ein geregeltes, familiäres Leben und in eine schulische Ausbildung zu bringen. Die Vorbehalte und Ängste dabei, von allen Seiten, werden anschaulich und eindrücklich geschildert. Gegen viele Widerstände ist es gelungen, dass Mehmet einen Schulabschluss machen konnte und eine Lehrstelle in einem Betrieb erhielt. Mücke und seine Betreuer sind sich sicher: „Er stellt keine Gefahr dar und verdient eine zweite Chance“. Sie ist möglich geworden, weil zum einen seine Familie zu ihm gehalten und alles unternommen hat, ihn aus dem IS-Lager herauszuholen und nach seiner Rückkehr geholfen hat, wieder festen, verlässlichen Boden unter seine Füße zu bekommen; zum anderen, weil die Betreuerorganisation es geschafft hat, dass die hessischen Behörden nicht den einfachsten, aber in seinem Fall sicher falschesten Weg gegangen sind, nämlich ihn einfach wegzusperren, sondern sich eingelassen haben auf das langwierigere, aber scheinbar erfolgreiche Procedere. Wenn Thomas Mücke feststellt, dass weder er noch seine Organisation garantieren könne, dass Mehmet nun niemals mehr falsche Wege gehen würde, ist das ja eigentlich eine Tautologie: Niemand kann das für Niemandem garantieren!

Im zweiten Fallbeispiel wird die Geschichte von „Adam“ erzählt, einem 18jährigen, der bis dahin völlig unauffällig und geordnet eine Elektriker-Lehre in Kempten absolviert, sie aber kurz vor der Zwischenprüfung abbricht und verschwindet. Die einzige Nachricht an seine Mutter: „Ich gehe aus einer bösen in eine heile Welt“. Die Schilderungen, wie der schüchtern und in seiner Persönlichkeitsentwicklung unsicher wirkende Jugendliche dazu kam, sich durch Boxunterricht und -training sich scheinbar stabilisierte, dabei einen gleichaltrigen, türkischstämmigen Jungen kennen lernt und im Laufe von wenigen Wochen zum Islam konvertierte. Moscheebesuche und Kontakte im Internet bewirkten, dass Adam vom anfangs von muslimischen Gläubigen wohlwollend und eher nachsichtig betreuten Konvertiten sich sehr schnell zu einem fanatischen Anführer und Fürsprecher seines neuen Glaubens entwickelte und als Werber und Agitator auftrat. Informationen und Vernetzungen im Internet, Propaganda-Videos und Parolen von IS-Kämpfern, die in der deutschen dschihadistisch-salafistischen Szene kursieren, und die Verherrlichung von „Märtyrern“, wie etwa von Denis Cuspert, der als Hip-Hop-Sänger begann, zum Islam konvertierte, nun Naschids sang, sich Abu Malik nannte, in mehreren deutschen Moscheen, wie etwa in Dinslaken und der Berliner Al-Mur-Moschee agitierte und im Oktober 2015 für tot erklärt wurde, oder dem salafistischen Prediger Pierre Vogel, waren vorgezeichnete Wege, dass Adam nach Syrien zum IS gehen wollte. Als „Abdullah Adam al-Almani“ baute er eine radikal salafistische Internetseite „Jugend der Umma“ auf und bereitete seine Ausreise vor. Durch Hinweise von der Familie gelang es, dass Adam im August 2013 am Münchner Flughafen die Ausreise verwehrt und sein Personalausweis eingezogen wurde. Trotzdem gelang es ihm, Anfang September von Dinslaken über Ungarn, Serbien und Bulgarien in die Türkei zu reisen, und von dort aus nach Syrien zu kommen. Gelegentliche E-Mail-Kontakte mit seiner Familie vermitteln euphorische Informationen; es gehe ihm gut, er fühle sich wohl, und er sei aktiv. Auf seinem Facebook-Account am 30. Dezember 2013 eine Nachricht von ihm: „Immer mehr Salafisten aus Bayern kämpfen in Syrien“. Die Betreuerorganisation hatte keinen Kontakt zu ihm, sondern nur zu seinen geschiedenen Eltern. Am 18. Januar 2014 posteten Dschihadisten ein Foto des Toten mit blutüberströmtem Gesicht: „Erschossen von Mitgliedern der Freien Syrischen Armee“. Die Fragen, die sich Thomas Mücke stellt, sind gleichzeitig ein Hinweis auf die Imponderabilitäten und Unwägbarkeiten, wohl auch die Unzulänglichkeiten und das Versagen der Gesellschaft, möglicherweise durch frühzeitige und andauernde direkte Kontakte mit Adam die Katastrophe verhindern zu können.

Das dritte Fallbeispiel informiert über Hamid, der wegen mehrerer Gewalttaten in einer Jugendstrafanstalt einsitzt. Mückes Kontakte zu ihm kamen aufgrund der Berichte des Anstaltspersonals zustande; Hamid wurde als möglicher Dschihadist und potentieller Selbstmordattentäter eingeschätzt, und die Betreuer verweigerten ihn deshalb die Teilnahme an Gruppentrainingsprogrammen. Mücke titelt seine Schilderungen mit Hamids Aussage: „Ich hätte für meinen Glauben getötet“. Er ist mit seinen Eltern, zwei älteren Schwestern und einem jüngeren Bruder im November 1989 nach Deutschland gekommen. Weil sie keine Papiere vorweisen konnten, wurde ihr Asylantrag erst abgelehnt und dann doch eine Aufenthaltsduldung erteilt. Die schwierigen Familienverhältnisse, der gewalttätige, tyrannisierende und patriarchalisch denkende Vater, die duldende Mutter, die zeitweise, als Hamid 13 Jahre alt war, mit ihren Kindern ins Frauenhaus flüchtet, und dann doch wieder zurück ging, all das bewirkte, dass Hamid selbst bald kriminell wurde. Als einen Schlüssel für Hamids Identitätsbildungsversagen sieht Mücke des Vaters Vorstellungen von „Ehre“ an. Er begründete seine Prügel-Orgien damit, die Ehre der Familie zu verteidigen. Mücke setzt sich anhand dieses Beispiels eingehend mit diesem im Islam besonders relevanten Begriff, den Einstellungen und religiösen Weisungen auseinander. Es gelingt, Hamid an dem Programm von VPN teilnehmen zu lassen, das sich an Mehrfach-Gewalttäter richtet. Die (nachholenden) Entwicklungsprozesse können bewirken, dass sich tatsächlich Einstellungs- und Verhaltensänderungen einstellen, wie z. B. bei Hamid. Wegen seiner guten Führung wird er frühzeitig aus der Anstalt entlassen. Bei der weiteren Betreuung in der wiedererlangten Freiheit folgen Erfolge und erneute Katastrophen und Rückschläge. Doch der Halt, den die Betreuung bietet, hält. Hamid hat einen Imbiss aufgebaut, in dem als Familienbetrieb seine Frau, seine Mutter, die jüngere Schwester und ein Bruder mitarbeiten. Besonders bedeutsam aber ist, dass Hamid zuerst als Co-Trainer und mittlerweile als voll ausgebildeter Trainer bei VPN-Programmen eingesetzt wird.

Die Heirat mit einem „Gotteskrieger“, das ist für einige junge Mädchen eine Zukunftshoffnung. Silvia und Celine sind zwei davon, die im vierten Fallbeispiel vorgestellt werden: „Wenn er mich schlägt, ist das nicht so schlimm“, sagen sie. Als der Vater der 17jährigen Silvia Pfahl (Name geändert) stirbt, verliert sie einen ihrer wichtigsten Bezugspersonen. Die geschiedene Mutter konnte den Verlust nicht ersetzen. Ihre Unsicherheit und Orientierungslosigkeit führt sie über eine Freundin in die Moschee, in der extremistisch-salafistische Gläubige verkehrten. Sie konvertierte zum Islam. Über verherrlichende Bilder, Videos und Texte erfährt sie, wie sie eine „Dienerin Allahs“ werden könne, zum Beispiel, wenn sie einen „Löwen“, einen „Gotteskämpfer“ heiratet. Dieses in der salafistischen Szene verbreitete Angebot dient mittlerweile als Werbemittel für den „Hidschra to the Islamic State“, der sich an Mädchen und junge Frauen richtet. Celine Smith (auch Name geändert) ist mit 15 Jahren vom Katholizismus zum Islam konvertiert. Ohne Kopftuch fühlt sie sich als Nichts und Ungläubige. In der Schule wird wie wegen ihrer Glaubenseinstellung gemobbt und abgelehnt. Jetzt, als 17jährige, ist sie mit einem vierundzwanzigjährigen Tunesier liiert, mit dem sie täglich chattet und der ihr stundenlang Koranverse vorliest. Sie fühlt sich ihm fest versprochen und möchte nach Syrien ausreisen, um dort mit ihm in einem IS-Kalifat zu leben. Alle Versuche, sowohl seitens der (geschiedenen) Eltern, als auch der Betreuer und Begleiter, sie von dieser fixen Idee und der Internet-Beeinflussung wegzubekommen, scheitern. Sie akzeptiert nur das, was ihr die Internet-Scheinwelt vorgibt, und die Angebote aus der salafistischen Szene: „Allah ist der Einzige, der dir jetzt helfen kann, und wir bringen dir bei, wie man ihn korrekt versteht. Das Einzige, was dir jetzt helfen kann, ist ein Leben für den Islam“. Silvia und Celine gehören zu der zunehmenden Anzahl von jungen Frauen, die diesen Verlockungen aufsitzen. Den wenigsten von ihnen gelingt es, wenn endlich ihre Vernunft zum Tragen kommt und sie ihren Irrtum erkennen; denn sich aus den Fängen des IS zu befreien, gelingt Frauen viel weniger als Männern: „Von 142 ausgereisten Frauen sind nur 27 zurückgekommen – gerade mal 19 Prozent. Dagegen sind von 535 Männern208 zurückgekommen – das entspricht 39 Prozent“.

Im fünften Fallbeispiel geht es um Murat Hoxha, über dessen freiwillige Rückkehr aus dem IS-Kampf die Zeitungen, Radio- und Fernsehsender in Deutschland im Sommer und Herbst 2014 berichteten. Seine Eltern kommen aus Bosnien. Sie sind nicht besonders religiös. Die Mutter trägt kein Kopftuch. Der intelligente Junge macht einen guten Realschulabschluss. Der Wechsel zur Berufsfachschule für Bautechnik verändert alles bei ihm. Er trifft dort auf eine Clique von 15 jungen Männern, für die es nichts Größeres und Erstrebenswerteres gibt, als Allah zu dienen. In der Moschee, in der sich besonders radikale Prediger hervortun, wird er konfrontiert mit salafistisch-fundamentalistischen Ideen und Anklagen: „Wie könnt ihr in euren warmen Betten schlafen, wenn in Syrien Kinder sterben und Frauen vergewaltigt werden?“. Die Antwort der jungen Männer: „Wir müssen etwas tun!“. Im Mai 2013 steigt er mit sechs seiner Freunde in einen Bus, der sie nach Istanbul, und dort weiter in die Osttürkei, wo sie schließlich in Syrien die ISIS-Milizen erreichen. Nach einer kurzen Einweisung war er ein Kämpfer, der mit Waffen umgehen konnte. Weil aber die aus Europa Eingereisten, im Gegensatz zu den aus den arabischen Staaten und aus Tschetschenien kommenden Krieger, als eher unzuverlässig und nicht so kampftauglich eingeschätzt wurden, bestanden Murats Dienste dort eher aus langweiligen Wachdiensten. Seiner Schwester in Deutschland schildert er sein Leben so: „Ich chille, gehe kämpfen und mache meinen Job für Allah“. In Aleppo, wo er schon stärker in Kampfhandlungen eingebunden wurde, legt er seinen zweiten Treue-Eid ab, mit dem er der Truppe und dem ISIS-Anführer und der Organisation unbedingte Treue und Gehorsam schwört. Wer sie verlässt, ist ein Verräter und wird getötet! Nach seiner Rückkehr wird er in Deutschland verhaftet. In der Gerichtsverhandlung kann die Frage nicht eindeutig beantwortet werden, ob Murat (nur) ein irregeleiteter und ideologisch missbrauchter Junge, oder ein vom IS eingeschleuster „Schläfer“ und künftiger Attentäter sei. Er erhält eine Gefängnisstrafe wegen aktiver Beteiligung an Kriegshandlungen. Im Gefängnis wird ihm einiges klar; etwa: „Das war eine echte Gehirnwäsche, die die mit mir gemacht haben“. Thomas Mücke stellt fest: „Wenn Murat in der Schule Islamunterricht gehabt hätte, dann wäre all das nicht passiert – da bin ich mir sicher“. Im Gefängnis konnte er eine Ausbildung als Maler und Lackierer absolvieren. Wenn er entlassen wird, werden sich die Betreuer darum kümmern, dass er in der Freiheit einen Ausbildungsplatz erhält und es ihm so gelingen kann, sich selbst zu ernähren und weiter zu entwickeln.

Im sechsten und letzten Fallbeispiel geht es um den Rechtsextremisten „Thorsten“, der feststellt: „Ich bin ein Nazi-Kämpfer“. Mit dem Bericht will Thomas Mücke an den Anfang seiner Deradikalisierungsarbeit anknüpfen und gleichzeitig Parallelen und Unterschiede zwischen Rechtsextremisten und Islamisten verdeutlichen. Es war 1988 der Einfluss der 1992 wegen ihrer Wesensverwandtschaft mit der NSDAP verbotenen „Nationalistischen Front“, die als Menschenfänger bei instabilen, sozial isolierten und perspektivlosen Jugendlichen auftraten und sie als Kämpfer gegen Demokratie und individuelle Freiheit rekrutierten. Der damals 21jährige Thorsten Bäcker (Name geändert) saß wegen mehrerer Gewalttaten im Gefängnis. Sein Vater war Mitglied der NPD in Brandenburg. Er tyrannisierte Frau und Kinder. Seine nationalistischen und rassistischen Höherwertigkeitsvorstellungen übertrugen sich direkt auf den Sohn. Brutalität gilt als Ausweis für persönliche Stärke und Macht. Opfer zu finden, ist leicht. Dieses Weltbild vergleicht Thomas Mücke mit der Denk- und Lebensführung von Hamid Batal (drittes Fallbeispiel).Es gilt den öffentlich bekannten Teufelskreis zu erkennen und zu durchbrechen: „Dass es Rechtsextreme gibt, beweist für die Salafisten, dass Muslime in diesem Land bedroht sind. Extremistische Salafisten wiederum geben Rechtsextremen einen willkommenen Anlass, um unter dem Banner der vermeintlichen Islamisierung des Abendlandes ihre Ideen in eine breite Öffentlichkeit zu tragen“.

Im Anhang werden mit einem kurzen, ersten Ratgeber Tipps erteilt „Was man tun kann – Hilfe für Betroffene“, und es wird die Zielsetzung und Arbeitsweise von „Violence Prevention Network“ vorgestellt.

Fazit

In den eindringlich und ausführlich geschilderten Fällen von extremistischem Denken und Handeln wird deutlich, dass nicht der moralisch oder pädagogisch erhobene Zeigefinger, auch nicht (allein) die strafende, staatliche Hand Lösungen aus diesem Dilemma anbieten. Es ist die frühzeitige, vertrauensbildende und empathische Aufmerksamkeit (siehe dazu auch: Jörn Müller, u.a., Hg., Aufmerksamkeit. Neue humanwissenschaftliche Perspektiven, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21112.php), die gefordert ist, in Familie, Schule, Freundeskreis, Beruf und Freizeit. Es gilt zu erkennen: „Extremisten … setzen dort an, wo es in einer Gesellschaft Bruchstellen gibt“. Es bedarf der Überzeugung, dass es zum Dialog auf Augenhöhe, als selbstbestimmt und demokratisch geführte, humane Form für ein friedliches, gerechtes und gleiches Zusammenleben der Menschheit, keine Alternative gilt; schon gar keine religiöse oder ideologische. Der (scheinbaren) Faszination, die von rechtsextremem und fundamental-salafistischem Gedankengut vor allem für junge Menschen ausgeht, gilt es die demokratische Utopie entgegen zu setzen, wie sie in der Präambel der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten, nicht relativierbaren und allgemeingültigen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte postuliert wird: Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Recht e bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt. Es ist nämlich die „kreative Vielfalt“ im Denken, Aussehen, Verhalten, Einstellung und Handeln, die es zu bilden, zu entwickeln, zu pflegen und zu praktizieren gilt. Radikalisierungen gehören nicht dazu!

Thomas Mücke hat mit dem Griff in die Kiste seines Erfahrungsschatzes und des von professionellen und ehrenamtlichen Gleichgesinnten nachdenkenswerte und hilfreiche Tipps und Hinweise gegeben, was zu tun ist, um der Radikalisierung von jungen Menschen in der Gesellschaft entgegen zu treten und dort, wo diese bereits erfolgt ist, eine empathische, verständliche und helfende Hand anzubieten. Klar wird in den einzelnen Fallbeispielen auch, dass es keine Patentrezepte gibt, wie rechtsextreme und fundamentalistische Radikalisierungen verhindert werden können, sondern „nur“ die Hoffnung, die aus der Mitte unserer Gesellschaft kommenden, gefährdeten Jugendlichen mit ihren Fragen, Problemen und Verzweiflungen nicht allein zu lassen!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 26.10.2016 zu: Thomas Mücke, Dörthe Nath: Zum Hass verführt. Wie der Salafismus unsere Kinder bedroht und was wir dagegen tun können. Eichborn Bastei Lübbe AG (Köln) 2016. ISBN 978-3-8479-0607-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21555.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.


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