Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut
Rezensiert von Prof. Dr. Georg Auernheimer, 26.10.2016

Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Hanser Berlin (Berlin) 2016. 224 Seiten. ISBN 978-3-446-25295-0. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR.
Thema
Die Externalisierung oder Auslagerung sozialer und ökologischer Kosten ist seit dem Beginn der kapitalistischen Produktionsweise ein Bestandteil ihrer ökonomischen Rationalität. Lessenich erweitert bei seiner kritischen Bilanz den Blick über die Produktion hinaus auf die Gesellschaften des Zentrums, die seit langem die Erträge dieses dynamischen Systems genießen, und zwar auf Kosten der übrigen Welt, so die Grundthese. In den eigenen Worten des Autors: „Die ökologischen Entlastungspraktiken der ökonomisch führenden Gesellschaften sind eingebettet in eine historisch gewachsene Machtstruktur, die es… auch erlaubt, die Umweltkosten ihrer wirtschaftlichen Wertschöpfungsketten anderswo anfallen zu lassen“ (107). Lessenich benennt freilich ebenso soziale Kosten (Überausbeutung, soziale Verwerfungen etc.). Als Bonmot formuliert: Wir leben über die Verhältnisse anderer (44).
Lessenich versteht seine Arbeit nicht als Beitrag zu politischen-Ökonomie. Vielmehr hält er als Soziologe „eine konsequente Soziologisierung der Analyse (für) angezeigt“ (47). Denn „Externalisierung ist eine Frage sozialen – und eben nicht allein wirtschaftlichen – Handelns“ (48). Lessenich strebt nicht weniger als eine Soziologie der Weltgesellschaft an (53 f.).
Autor
Lessenich lehrt am Institut für Soziologie der LMU München. Globale soziale Ungleichheit bildet einen Schwerpunkt seiner Lehre und Forschung. Vor seiner Berufung nach München hat der das von der DFG geförderte Forschungskolleg „Postwachstumsgesellschaften“ an der Universität Jena mit begründet, als dessen Special Fellow er nach wie vor geführt wird. Er ist derzeit Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
Aufbau und Inhalt
Die Soziologie der Weltgesellschaft wird einerseits nach wissenschaftlichen Maßstäben und Regeln entworfen. So werden am Anfang die Fragestellung, der methodische Zugang und die zentralen Begriffe (Macht, Ausbeutung, Habitus) geklärt. Andererseits ist der Stil eher journalistisch, was schon der Buchtitel verrät. Auch die Kapitelüberschriften entsprechen nicht dem üblichen akademischen Usus. Zum Beispiel: „Chronik eines angekündigten Unglücks oder Rio Doce ist überall“ oder „Faria, faria ho: Raus aus der Externalisierungsgesellschaft …“ Damit wird man leichter dazu verleitet weiter zu lesen.
Die Schrift ist in fünf Kapitel unterteilt. Der Autor eröffnet in Kapitel 1 sein Essay mit der Erinnerung an eine Umweltkatastrophe in Brasilien aus jüngster Zeit und reflektiert daran anschließend exemplarisch die Folgen des Rohstoffhungers unserer Wirtschaft, wobei er am Beispiel des Verbrauchs von Aluminium auch unsere fragwürdigen Konsumgewohnheiten thematisiert. In der Folge formuliert der Verf. sein Ziel: „Der bisher skizzierte… Zusammenhang des Lebens der einen auf Kosten der anderen soll mit diesem Buch auf den Begriff gebracht werden…“ (24). Externalisierung wird als ein „Struktur- und Prozessmuster“ definiert, das sich mit dem Globalisierungsschub der 1990er Jahre „radikalisiert“ hat (26 f.).
In Kapitel 2 rekurriert Lessenich zunächst auf die Klassiker der Politökonomie (Smith, Ricardo, Marx) und auf die Theorie des Weltsystems, beruft sich dann aber auf den Soziologen C. Wright Mills, der bereits auf die Korrespondenz von „Über- und Unterentwicklung“ aufmerksam gemacht habe (47), um daran sein Plädoyer für die „Soziologisierung“ des Problems anzuschließen. Die Externalisierung wird als strukturbedingt gekennzeichnet, womit sie nicht als eine Frage der Moral gilt, zumindest nicht primär. Der Verf. führt den Begriff „Weltsozialstruktur“ ein (54). Bourdieus Habituskonzept wird auf die weltgesellschaftlichen Verhältnisse übertragen, um die Externalisierung als Alltagspraxis zu verstehen. Ergänzend greift der Verf. auf psychoanalytische Begriffe (Abspaltung, Verdrängung, Abwehr) zurück, womit sich „ein Psychogramm der Externalisierungsgesellschaft“ abzeichnet (69).
Kapitel 3 eröffnet Lessenich mit der Erinnerung an Kants Kategorischen Imperativ, der mit dem ungleichen Tausch auf den Kopf gestellt werde. Die Ausbeutung des globalen Südens um unseres Konsums willen wird am Beispiel der Sojaproduktion, der Palmölproduktion und der Garnelenzucht drastisch dargestellt. Außerdem wird auf das „ökologische Paradoxon“ (96) verwiesen, dass der globale Norden trotz seines größeren ökologischen Fußabdrucks eine geringere Umweltbelastung verzeichnet als die Entwicklungsländer. Deren finanzielle Verschuldung werde aufgewogen durch die ökologische Verschuldung der Wohlstandsregionen (103) – Ergebnis der „imperialen Lebensweise“ (107). Diese muss nach Lessenich Thema einer „Strukturkritik“ werden (115), um einen Strukturwandel einzuleiten (118).
In Kapitel 4 führt der Verf. uns, den Staatsangehörigen der reichen Länder, unser „Mobilitätsmonopol“ vor Augen. Reisefreiheit ist für uns eine Selbstverständlichkeit, nicht aber für Angehörige von Staaten wie dem Iran. Für sie gilt fast überall Visumpflicht. Für Flüchtlinge machen wir die Grenzen dicht, obwohl ihre Fluchtgründe meist Ergebnis der Externalisierung sind. Lessenich spricht von einem „global gespaltenen Mobilitätsregime“ (136).
Das Buch endet in Kapitel 5 „Wir müssen reden: Wegdenken war gestern“ mit einem fast schon leidenschaftlichen Appell. Noch einmal verdeutlicht der Verf. das Ausmaß der Ungleichheit im globalen Maßstab. Verantwortlich gemacht dafür wird der systembedingte „Wachstumszwang“ (181), gestützt von der Gleichgültigkeit und Ignoranz jedes einzelnen, unserem „imperialen Provinzialismus“ (ebd.). Lessenich übersieht dabei nicht das „Dilemma, das sich aus der Überlagerung bzw. Durchkreuzung von nationalen und globalen Ungleichheitsstrukturen ergibt“ (189). Konsequenz ist die Forderung nach einer doppelten Umverteilung (195).
Diskussion
Das Buch ist unkonventionell. Es fügt sich nicht den üblich gewordenen sozialwissenschaftlichen Standards, wenngleich der Autor sich immer wieder auf die wissenschaftliche Diskussion bezieht und seine Aussagen mit Daten belegt. Aber gerade deshalb ist es eine wichtige Publikation, weil zu erwarten ist, dass sie auch Leser/innen außerhalb des akademischen Betriebs erreicht. Ein Wortungetüm wie „ungleiche Berechtigungsstrukturen im globalen Mobilitätsgeschehen“ findet man auch hier (135), aber sie bekommen im Text Fleisch und Blut.
Lessenich entlarvt die Rede vom „globalen Dorf“ (140), von der „borderless world“, der „offenen Gesellschaft“ (128) oder auch Werbesprüche wie „Nachhaltig fliegen“ (134). Und uns wird die Paradoxie unseres angeblich umweltbewussten Verhaltens klar gemacht (132). Was aber die Stärken des Buches ausmacht – der populare Sprachstil, der Furor, die kaum verhaltene Empörung über den Weltzustand – bedingt zugleich eine gewisse Schwäche. Dass sich der Autor ihrer bewusst ist, zeigt der Hinweis auf die „Durchkreuzung von nationalen und globalen Ungleichheitsstrukturen“, der allerdings verspätet im Text auftaucht. Die im Neoliberalismus skandalös verschärfte Ungleichheit innerhalb der reichen Staaten bleibt unterbelichtet. Zur Entlastung des Autors muss man sagen, dass der kritische Diskurs sonst von der umgekehrten Einseitigkeit geprägt ist. Aber die Unterbelichtung der auch hier teilweise herrschenden prekären Lebensverhältnisse und der dafür verantwortlichen Interessen und Systemmechanismen birgt die Gefahr, dass die Botschaft in ihrer Radikalität nicht verstanden wird. Kapitalismus erscheint als etwas nebulös Bedrohliches. Nicht von ungefähr sieht sich Lessenich ähnlich wie am Anfang gegen Ende seiner Schrift nochmals veranlasst, zu betonen: „Soziologie ist keine Sozialtherapie. Und sie ist auch keine Morallehre“ (186).
Fazit
Ein Buch, das alle lesen sollten, die lesen können. Besonders empfohlen sei es, SUV-Fahrern, Liebhabern der Karibik oder der Strände von Bali und den großen Karnivoren unter uns.
Rezension von
Prof. Dr. Georg Auernheimer
Lehrte Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik, in Marburg und Köln.
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