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Roland Anhorn, Marcus Balzereit (Hrsg.): Handbuch Therapeutisierung und soziale Arbeit

Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 13.03.2017

Cover Roland Anhorn, Marcus Balzereit (Hrsg.): Handbuch Therapeutisierung und soziale Arbeit ISBN 978-3-658-10869-4

Roland Anhorn, Marcus Balzereit (Hrsg.): Handbuch Therapeutisierung und soziale Arbeit. Springer VS (Wiesbaden) 2016. 940 Seiten. ISBN 978-3-658-10869-4. D: 79,99 EUR, A: 82,24 EUR, CH: 84,50 sFr.

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Thema

Die Herausgeber und der dahinter stehende „Arbeitskreis kritische Soziale Arbeit – AkS“ postulieren eine zunehmende Einflussnahme therapeutischer Perspektiven und Praktiken, welche die gesellschaftliche Wahrnehmung politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Konflikt- und Machtverhältnisse bestimmt und Auswirkungen auf die Bearbeitung dieser Phänomene hat, indem die Bearbeitung im Sinn einer Individualisierung und Entpolitisierung auf die Ebene Einzelner verschoben wird. Stichworte dieses Phänomens sind Individualisierung, Pathologisierung, Medikalisierung, Psychiatrisierung oder Psychologisierung. Im Kontext kritischer Gesellschaftsanalyse mit Bezug auf Foucault werden diese Mechanismen beschrieben und deren Bedeutung für die Verortung und die Praxis Sozialer Arbeit aufgegriffen.

Herausgeber und AutorInnen

Prof. Dr. Roland Anhorn lehrt Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt.

Dr. Marcus Balzereit arbeitet als Familienhelfer in Frankfurt, Lehrbeauftragter an der Evangelischen Hochschule Darmstadt und an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt.

Die Einzelbeiträge wurden Großteiles von Lehrenden im Bereich der angewandten Sozialwissenschaften verfasst.

Aufbau und Inhalt

Das Handbuch umfasst fünf Kapitel:

  1. Einführung
  2. Theoretische und historische Perspektiven
  3. Diskurse und Praktiken der Therapeutisierung
  4. Therapeutisierung von Institutionen
  5. Therapeutisierung in/durch Sozialpolitik und Soziale Arbeit

1. Einführung. Das Einführungskapitel beinhaltet einen Beitrag der Herausgeber des Handbuchs, in dem thesenhaft die „‚Arbeit am Sozialen‘ als ‚Arbeit am Selbst‘ – Herrschaft, Soziale Arbeit und die therapeutische Regierungsweise im Neo-Liberalismus“ skizzenhaft verortet werden. Das Phänomen der Therapeutisierung wird hier als gesellschaftlicher Prozess „einer umfassenden Therapeutisierung von sozialen Ungleichheitsverhältnissen, ökonomischen Interessensgegensätzen, politischen Konfliktkonstellationen und kulturellen Differenzen“ (3) skizziert.

2. Theoretische und historische Perspektiven. Das zweite Kapitel beinhaltet unter der Überschrift „Theoretische und historische Perspektiven: Zur gesellschaftstheoretischen ‚Diagnostik‘ der Pathologisierung und Therapeutisierung des Sozialen“ vier Beiträge, welche auf den Zusammenhang von Gesundheit und Ökonomie, die Pädagogisierung und Psychologisierung gesellschaftlicher Strukturprobleme und deren Umsetzung durch therapeutische Techniken zur Selbstoptimierung eingehen. In diesem Zusammenhang erfolgt z. B. ein historischer Überblick zum Etikettierungsansatz oder eine Kritik der Motivierenden Gesprächsführung, welche als „indirekte Regierung“ kritisch analysiert, bzw. kritisiert und als Normalisierungstechnik („Regieren durch Normalisierung“, 151) hinterfragt wird.

3. Diskurse und Praktiken. Das Kapitel stellt in zwölf Einzelbeiträgen ausführlich die grundlegenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse dar, insbesondere, welche ökonomischen, politischen, sozialen und institutionellen Voraussetzungen geschaffen und (psychologische, psychiatrische, medizinische) Wissensbestände geschaffen wurden bzw. entstanden sind, die zu einer umfassenden Beschäftigung mit der aktiven Gesundheitsförderung und individuellen (Selbst-)thrapeutisierung geführt haben. Die basalen Konzepte und Theorien dieses Prozesses (Salutogenese, Resilienzforschung, Traumaforschung, Burnout, ADHS) werden hier skizziert und einer kritischen Analyse und Hinterfragung unterzogen. Die Kritik erfolgt grundsätzlich und umfassend, so wird beispielsweise von der „Erfindung der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)“ geschrieben, das PTBS-Konzept als Resultat gesellschaftlich-kriegerischer Konflikte verortet dessen Auftreten bei (fraglicher) Traumatisierung als quasi-normale Erfahrensform pathologisiert werde und das Konzept dadurch eine massenhafte Verbreitung gefunden habe.

4. Therapeutisierung von Institutionen. Die vier in diesem Kapitel enthaltenen Beiträge gehen auf das Phänomen der Opferorientierung im Bereich der Kriminalität und Strafpraxis ein, erhellen die Geschichte der Psychopharmaka und ihre Bedeutung für die Veränderungsprozesse in der Psychiatrie, analysieren die Psychologisierung und Therapeutisierung von Religion und den Wandel der Schule von der Bildungs- und Erziehungsinstitution zur therapeutischen Einrichtung.

5. Therapeutisierung und Sozialpolitik bzw. Soziale Arbeit. Das umfangreichste Kapitel fünf bietet 13 Aufsätze, welche als Beispiele für die Therapeutisierung der Gesellschaft in unterschiedlichen Arbeitsfeldern, mit Bezug auf verschiedene Problemlagen und Interventionsformen dargestellt werden. Der Fokus liegt besonders auf der Rolle der Sozialen Arbeit im Kontext der zuvor beschriebenen Pathologisierungs- und Therapeutisierungsprozesse. Die Hauptfrage ist dabei, wie in der Sozialen Arbeit und durch die Soziale Arbeit soziale Problemlagen und Belastungen durch Anleihen aus Psychologie, Therapiewissenschaft, Psychiatrie etc. benannt bzw. operationalisiert und in dessen Folge bearbeitet werden. Die Einzelbeiträge gehen u. a. auf das Verhältnis von Sozialstaat und individueller Verantwortung, das Menschenbild im Kontext der Hartz-IV-Regelungen („Pädagogisierung der Armut“ im Konzept des „Förderns und Forderns“), Opferdiskurse und Viktimisierung in der Sozialen Arbeit, die Rolle von Selbsthilfegruppen bei psychischer Erkrankung, oder das Feld der Wohnungslosenhilfe ein.

Zielgruppe

Die Herausgeber wenden sich mit dem Handbuch an WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen der Sozialen Arbeit und Pädagogik, TherapeutInnen, GesundheitswissenschaftlerInnen, PolitikwissenschaftlerInnen und KulturwissenschaftlerInnen, sowie Studierender (der höheren Semester) der Sozialen Arbeit, Erziehungswissenschaft und Psychologie.

Diskussion

Die kritische Diskussion der gesellschaftlichen Bedingungen und die Hinterfragung der Rolle Sozialer Arbeit dabei ist eine grundsätzlich wichtige Aufgabe. Der gesellschaftliche Wandel wirkt sich auf soziale und individuelle Verhältnisse aus, die Anpassungsanforderungen an den Einzelnen sind enorm und wachsen fortlaufend. Der Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse droht in der Beschäftigung mit individuellen Problemlagen aus dem Fokus zu geraten. Die Betonung der fachlichen Methoden in der Sozialen Arbeit und die besondere Bedeutung der Einzelfallhilfe (z. B. im Casemanagement) können diesen Trend der Loslösung von gesellschaftlichen (Herrschafts)verhältnissen unter bestimmten Bedingungen beschleunigen. Die Soziale Arbeit hat längst begonnen diese Problemstellung theoretisch und methodisch aufzugreifen und der Individualisierung entgegenzuwirken. Stichworte dazu sind die Systemische Soziale Arbeit, Sozialtherapie und Klinische Sozialarbeit, die Fokussierung auf Individuum und Umwelt, der Person-In-Environment-Ansatz. Dieser Beitrag der Sozialen Arbeit, der auch als Antwort auf die hier als „Therapeutisierung“ gekennzeichnete Entwicklung zu verstehen ist, ist im Handbuch deutlich unterrepräsentiert bzw. taucht lediglich in einer inhaltlich verkürzten Kritik auf, welche z. B. die Klinische Sozialarbeit lediglich als weitere Form „therapeutisierter Sozialer Arbeit“ diffamiert, ihren sozialpolitischen Impetus jedoch nicht benennt, bzw. erkennt. Damit fehlt der Ertrag dieser neueren Ansätze weitgehend in dieser Diskussion, die mit dem jetzt vorgelegten Handbuch angestoßen bzw. vertieft werden soll.

Zum Begriff der Therapeutisierung: Das Label kann leicht als Kampfbegriff aufgefasst werden, auch wenn er hier nicht so gemeint ist, eine generelle Kritik an Therapie nicht erfolgt, bzw. nicht erfolgen soll, sondern als Klammer gedacht ist, einzelne Individualisierungsprozesse zu fassen und unter eine Überschrift zu stellen. Dabei wird auf die Dominanz der naturwissenschaftlichen Disziplinen (vorrangig Medizin), der Ordnungswissenschaften (Psychiatrie) und der Psychowissenschaften (Psychologie) abgehoben. Die Soziale Arbeit hat auf diese Deutungshoheiten begonnen zu reagieren (Diskurs um die sog. Bezugswissenschaften) und eigene Theorie- und Methodenansätze entwickelt. Von einem Handbuch, das sich mit der „Therapeutisierung“ beschäftigt wäre zu erwarten gewesen, dass dieser Diskurs und die dahinter stehende Entwicklung aufgegriffen werden. Für die Praxis der Sozialen Arbeit relevante Themengebiete (z. B. Psychiatrisierung des Strafvollzugs, Diagnostik in der Sozialen Arbeit, Zwang und Therapie in den Hilfen zur Erziehung, Verhaltensorientierte Optimierungs-/Trainingsprogramme) geraten zu kurz, fehlen gänzlich, bzw. haben „aus den unterschiedlichsten Gründen .. keinen Eingang (mehr) in das Handbuch gefunden“ (XIII). Für die mit dem Handbuch angesprochenen FachkollegInnen wären die inhaltlichen Beweggründe für die Herausnahme dieser Themenfelder von Interesse gewesen.

Abgesehen vom einleitenden Vorwort bleiben die einzelnen Beiträge und Positionen weitgehend ohne Bezug zueinander, sind die kritischen Positionen unterschiedlich und richten sich auf unterschiedliche Aspekte oder Ebenen. Damit erfüllt das Werk nicht den Status eines „Handbuchs“, sondern bleibt als Zusammenstellung einzelner Analysen und Positionen ein Sammelband.

Die Idee, diese -wichtigen- kritischen Positionen unter dem Begriff der „Therapeutisierung“ zu vereinen, wird so jedenfalls nicht umgesetzt und ist wohl dem Umstand geschuldet eine schlagfertige Formulierung einführen zu wollen, was dann aber leider zu einer unzulässigen Verallgemeinerung und Nivellierung führt. Individualisierung ist eben nicht Therapeutisierung. Die Lösung von gesellschaftlichen Verhältnissen zwar sicher eine Entpolitisierung, aber eben auch kein therapeutisierender Prozess. Das mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass die Positionen der Kritischen Sozialen Arbeit erst allmählich besetzt und in den Fachdiskurs eingepflegt werden, z. T. überkomplex gestaltet und in sich, bzw. untereinander widersprüchlich sind (16). Vor diesem Hintergrund erscheint die Formulierung der Begrifflichkeit „Therapeutisierung“ mindestens verfrüht.

Fazit

Eine spannende Ideengeschichte, wie soziale Problemlagen, abweichendes Verhalten, abweichende Personen und Gruppen in der Gesellschaft wahrgenommen wurden und werden und gesellschaftliche Transformationsprozesse als Ausdruck von Persönlichkeitsmerkmalen und individuellen Verhaltensweisen, als Individualproblem (um)definiert und gedeutet werden. Neben einführenden und begriffsklärenden Aufsätzen bietet das Handbuch theoretische und historische Perspektiven, vor allem aber einen Überblick zu Diskursen und Praktiken der Therapeutisierung auch im institutionellen Kontext und die besondere Roller der Sozialpolitik und Sozialen Arbeit in diesem Zusammenhang.

Es bleibt bei aller Notwendigkeit einer solchen Analyse und Kritik ein schaler Geschmack: die Zunahme psychischer Probleme, die Häufung prekärer Lebenslagen ist gesellschaftliche Wirklichkeit und realisiert sich eben auf der Ebene einzelner Individuen. Dieser Grundwiderspruch ist in der Bearbeitung dieser Problemlagen (vorerst) nicht auflösbar. Die im Umgang mit Konzepten wie ADHS oder PTBS z. T. inflationäre Anwendung therapeutischer Interventionen bei nicht vollständig abgeklärten Problemlagen ist ein fachliches Problem, das allerdings mit dem Begriff der Therapeutisierung, der hier an vielen Stellen fast als Kampfbegriff aufscheint, nicht angemessen zu fassen, zumal sich die Soziale Arbeit längst auf den Weg gemacht, ihre Verwurzelung in der Einzelfallhilfe zu lösen und den Fokus auf Verhalten und Verhältnisse zu richten. Diese Ansätze, z. B. der (auch politisch-kritischen) Sozialtherapie oder der Klinischen Sozialarbeit haben in diesem Band kaum Berücksichtigung gefunden. Gerade diese Konzepte und Ansätze bedürfen aber einer kritischen Überprüfung, um dann auch methodenbegründete Handlungsansätze definieren zu können.

Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 180 Rezensionen von Gernot Hahn.

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ISSN 2190-9245