Arnd Uhle (Hrsg.): Sexuelle Vielfalt - Gegenstand staatlicher Erziehung?
Rezensiert von Dr. Miriam Damrow, 08.05.2018

Arnd Uhle (Hrsg.): Sexuelle Vielfalt - Gegenstand staatlicher Erziehung? Grund und Grenzen der Sexualpädagogik in der staatlichen Schule. Duncker & Humblot GmbH (Berlin) 2016. 167 Seiten. ISBN 978-3-428-14920-9. D: 59,90 EUR, A: 61,60 EUR.
Entstehungshintergrund
Im vorliegenden Sammelband sind Beiträge versammelt, die in der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Sektion auf der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft 2015 in Bonn gehalten wurden.
Aufbau
Der Band versammelt fünf Beiträge in folgender Reihenfolge.
- Nach einem kurzen Vorwort (S. 5-8) folgt der Beitrag von Werner J. Patzelt zur Implementation einer „Sexualpädagogik der Vielfalt“ in den Schulen der Bundesländer. Inhalte, Absichten, Bewertungen (S. 11-40).
- Christian Spaemann beleuchtet in seinem Beitrag Hintergrund und gesellschaftliche Auswirkungen einer schulischen „Sexualpädagogik der Vielfalt“ (S. 41-78).
- Karla Etschenberg widmet sich in ihrem Beitrag Grund und Grundlagen schulischer Sexualerziehung und Sexualbildung (S. 79-106).
- Jakob Pastötter beschreibt in seinem Beitrag die Sexualpädagogik in Deutschland und ihr Verhältnis zum sexualwissenschaftlichen Fachwissen (S. 107-130).
- Im letzten Beitrag des Sammelbandes werden von Christian Hillgruber verfassungsrechtliche Grenzen der Sexualpädagogik in der staatlichen Schule aufgezeigt.
Ein Verzeichnis der Autor*innen und Herausgeber*innen beschließt den Band (wenngleich hier kritisch anzumerken ist, dass im Original im Buch nur von Autoren und Herausgebern die Rede ist).
Wie bei Sammelbänden üblich wird eine zufällig vorgenommene Auswahl von Beiträgen rezensiert.
Ausgewählte Inhalte
Werner J. Patzelt konturiert in seinem Beitrag „die Implementation einer ‚Sexualpädagogik der Vielfalt‘ in den Schulen der Bundesländer. Inhalte, Absichten, Bewertungen“ in 4 Abschnitten. Nach einleitenden Betrachtungsperspektiven und Bedeutung des Themas im ersten Abschnitt werden Materialbasis und zentrale Befunde im zweiten Abschnitt dargelegt. Im dritten Abschnitt stehen 5 ausgewählte Details zum Nachvollzug von „Geist und Impetus der vielfältigen Versuche …, eine ‚Sexualpädagogik der Vielfalt‘ im Schulrecht und in den Lehrplänen der Bundesländer zu implementieren“ (S. 21, Hervorh. v. Autor). Im letzten Abschnitt werden Bewertung und Folgerungen vorgestellt. Insgesamt wird stark von einer evolutionsanalytischen Sichtweise ausgegangen und sich argumentativ darauf gestützt.
Karla Etschenberg untersucht in ihrem Beitrag zu Grund und Grundlagen schulischer Sexualerziehung (nach der Einleitung und vor der Zusammenfassung) in 3 Abschnitten sowohl Sexualität als Gegenstand von Erziehung und Bildung als auch das Sexualwesen Mensch und die schulische Sexualerziehung nach 1968. Im Abschnitt zu Sexualität als Gegenstand von Erziehung und Bildung wird zunächst die Frage beantwortet, was Sexualität ist, das Besondere an menschlicher Sexualität und die Differenzierung von biologischem und sozialem Geschlecht dargestellt. Der Mensch als Sexualwesen wird im darauffolgenden Abschnitt thematisiert. Neben der Differenzierung intentionaler und beiläufiger sexueller Sozialisation wird auf historische Sichtweisen verwiesen, der Verlust der Einvernehmlichkeit (bezogen auf gemeinsam geteilte Wertvorstellungen zu Sexualität und damit einhergehende Pluralisierung) wird gleichfalls dargestellt. Teilabschnitte zum überforderten Elternhaus und zu Anfängen schulischer Sexualerziehung beschließen den Abschnitt zum Menschen als Sexualwesen. Schulische Sexualerziehung nach 1968 wird vorrangig historisch nachgezeichnet.
Christian Hillgruber zeigt in seinem Beitrag verfassungsrechtliche Grenzen der Sexualpädagogik in der staatlichen Schule an. Nach einleitenden Betrachtungen zur Schule als „ideologische Hauptkampfzone“ (S. 131) wird die Frage nach der erfolgreichen Wehrmöglichkeit seitens der Eltern gestellt „… gegen … aufdringliche Frühsexualisierung ihrer Kinder, gegen die propagierte ‚Entnaturalisierung der Kernfamilie, der Heterosexualität und der Generativität‘, gegen die Dekonstruktion der Unterscheidung von Mann und Frau als perfide Herrschaftsstrategie …“ (S. 135). Zur Beantwortung dieser Frage wird im 2. Abschnitt Grundsätzliches zum elterlichen Erziehungsrecht und staatlichem Bildungs- und Erziehungsrecht fokussiert. Als gemeinsame Aufgabe von Elternhaus und Schule wird die Erziehung von Kindern gerahmt. Im 3. Abschnitt wird auf grundrechtliche Anforderungen an schulische Sexualerziehung rekurriert. Verfassungsrechtliche Schranken, die der Sexualpädagogik der Vielfalt gesetzt werden, sind im 4. Abschnitt dargelegt. Im Fazit wird zusammenfassend dargelegt, dass staatliche Sexualerziehung in der Schule einerseits Grenzen hat, andererseits Eltern nicht verlangen können, dass die Unterrichtsgestaltung exklusiv ihren Vorstellungen und ethischen Überzeugungen zu entsprechen hat. Hillgruber weist zudem darauf hin, dass schulische Erziehung als zwingendes Gebot auf die Achtung der gleichen Würde aller Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung hinzuwirken hat. Gleichzeitig werden Eltern ermuntert, auf ihren grundrechtlichen Abwehrpositionen zu bestehen.
Diskussion
Inhalte, Absichten und Bewertungen bei der Implementation einer Sexualpädagogik der Vielfalt in den Schulen der Bundesländer stehen im Beitrag von Werner Patzelt im Mittelpunkt seiner Erörterungen. Dabei fällt auf, dass von ihm nicht zwischen sexueller Orientierung und sexuellen Praktiken unterschieden wird – und diese Nicht-Differenzierung erscheint hochproblematisch, wenn damit zum einen auf eine ausschließlich binäre Zuordnung von Praktiken verwiesen wird, es erscheint aber ebenfalls hochproblematisch, wenn andererseits damit auf eine ausschließlich binäre sexuelle Orientierung verwiesen wird. Und inwiefern die Nicht-Differenzierung Probleme aufwerfen mag, wird hier noch nicht einmal angerissen.
Weitere Probleme scheinen da auf, wo von einem fundamentalen Verständnis von Bildungs- und Lernprozessen die Rede ist: „Falls eine Lehrerin oder ein Lehrer bei dieser Unterrichtssequenz [aus der Handreichung der GEW Baden-Württemberg] nicht von sich aus erklärt, dass und warum Heterosexualität eine für unsere Spezies ganz grundlegende Naturtatsache ist, wird das gesamte Verständnis der Kinder von sexueller Vielfalt in eine objektiv falsche Richtung gelenkt (Hervor. v. Autor)“ (S. 16). Inwieweit davon ausgegangen werden kann, dass eine Unterrichtssequenz das „gesamte“ Verständnis der Kinder beeinflusst, wird weder theoretisch noch empirisch begründet – mal ganz abgesehen davon, dass „gesamt“ noch viel stärker einer Definition bedarf – unabhängig davon, dass schulische Unterrichtssequenzen nur eine (von möglicherweise sehr vielen) Wissensquelle (oder Lerngelegenheit oder Anreiz für Bildungsprozesse) darstellen darstellen – von einer Betrachtung der tendenziösen Ausdrucksweise der „objektiv falschen Richtung“ ganz abgesehen.
Ebenfalls problematisch erscheint an anderer Stelle der Verweis auf den fehlenden nächstgrößeren Verständnisrahmen, ohne genau den zu definieren. Ebenfalls eher problematisch erscheint die Definition von deskriptiv als nicht nur beschreibend, sondern wertend (S. 21). Insgesamt argumentiert der Beitrag aus einer evolutionsanalytischen in Verbindung mit einer katholischen Perspektive und somit hochgradig normativ.
Die gelegentlich auffindbaren rhetorischen Figuren scheinen da eher marginal.
Karla Etschenberg charakterisiert in ihrem Beitrag zu Grund und Grundlagen schulischer Sexualerziehung zunächst Sexualität als Gegenstand von Erziehung und Bildung – wiewohl sich Erziehung und Bildung vorrangig implizit auffinden lassen – an sich nur in einem kleinen Absatz auf S. 83: Abgesehen davon wird ausschließlich auf die binäre Zuordnung von männlich-weiblich verwiesen – hier hätte(n) mindestens Intersexualität(en) erwähnt werden können und müssen. Die vorrangig historische Entwicklungen nachzeichnende Betrachtung wird durch kritische Erwägungen zur Sexualpädagogik in der Schule abrupt abgelöst. Etschenberg ist in einigen Punkten ihrer Kritik zuzustimmen, was mögliche Übergriffigkeit (der singulär herausgegriffenen praktischen Übungen betrifft) und gruppendynamische Betrachtungen / Gruppenzwang / Gruppendruck betrifft. Problematisch erscheint ebenfalls folgende Aussage: „Es kommt sogar die Befürchtung auf, dass diese Handlungsanleitungen die Sexualisierung der Kinder und den sexualisierten, evtl. kaschiert missbräuchlichen Umgang von Erwachsenen mit Kindern pädagogisch legitimiert“ (S. 104). Missbräuchlicher (und ihn kaschierender) Umgang von Erwachsenen mit Kindern kann (und, so ist wohl hinzuzufügen, wird) sich in der Schule ereignen – und das völlig unabhängig von handlungsleitenden Übungen – seien es jetzt Externe oder intern Beschäftigte. Pädagogische Legitimierung sexuell übergriffiger Kontakte bedient sich seit Jahrzehnten wiederkehrender Argumentationsmuster – nämlich der Förderung der sexuellen Entwicklung der davon erfassten Kinder – es erscheint aber hochproblematisch, die (missbräuchliche) Verwendung des Arguments der Sexualpädagogik der Vielfalt (auf die im Wesentlichen Bezug genommen wird) vorzuwerfen. Kritisch lässt sich ebenfalls die folgende Aussage betrachten: „In dem Material geht es aber darüber hinaus offenbar um die Förderung sexueller Vielfalt selbst unter bewusster Negierung des Stellenwertes mehrheitlich gelebter traditioneller Lebensweisen“ (S. 105). Auch wenn sich Etschenberg vorher zur Förderung / zur Unterstützung queerer Jugendliche*r ausspricht, bleibt die implizit angesprochene Gerechtigkeitsfrage bestehen: genaugenommen werden hier 2 unterschiedliche Gerechtigkeitsverständnisse gegeneinander abgewogen: Gerechtigkeit als Gleichheit oder Gerechtigkeit als quantitative Betrachtung. Zwar entspricht das Verständnis quantitativer Gerechtigkeit induktiv dem politischen Verständnis von Demokratie (als Mehrheitsentscheidung), die (automatisch anmutende) Übertragbarkeit auf päd. Ansätze bleibt aber mindestens diskussionswürdig.
Christian Hillgruber zeigt in seinem Beitrag zu verfassungsrechtlichen Schranken der Sexualpädagogik in der Schule gegenseitige Bezugsrahmen, Grenzen und Schranken auf. Während die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts deutlich auf zunehmende Akzeptanz /Toleranz sich pluralisierender Wertvorstellungen in Bezug auf sexuelle Orientierungen und deren Einbeziehung in schulische Sexualerziehung deuten [zur Differenzierung von Akzeptanz und Toleranz s. auch die kurzen Ausführungen Hillgrubers], distanziert sich Hillgruber deutlich von dieser Position. Insgesamt ist sein Beitrag deutlich normativ gehalten, wertend (und zwar negativ) gegenüber der Sexualpädagogik der Vielfalt – als wissenschaftlicher Beitrag immerhin tendenziös.
Fazit
Zumindest in den rezensierten Beiträgen wird eher auf eigene sexualethische Positionen rekurriert denn auf eine ausgewogene, sachliche Darstellung (wobei sich Etschenbergs Beitrag weitgehend davon abhebt), ganz im Sinne der Görres-Gesellschaft, wie Patzelt anmerkt (S. 37).
Rezension von
Dr. Miriam Damrow
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