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Theodora Becker, Andreas Franze et al. (Hrsg.): Grenzsteine. Beiträge zur Kritik der Gewalt

Rezensiert von Ansgar Martins, 24.08.2017

Cover Theodora Becker, Andreas Franze et al. (Hrsg.): Grenzsteine. Beiträge zur Kritik der Gewalt ISBN 978-3-86916-541-7

Theodora Becker, Andreas Franze, Jakob Hayner, Arne Kellermann (Hrsg.): Grenzsteine. Beiträge zur Kritik der Gewalt. edition text+kritik (München) 2016. 200 Seiten. ISBN 978-3-86916-541-7. D: 29,00 EUR, A: 29,90 EUR.

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Thema und Einleitung

Das Buch ist Rolf Tiedemann gewidmet, dem Herausgeber der Werke Walter Benjamins und Theodor W. Adornos (vgl. Lenk/Lolling 2006), und die enthaltenen Aufsätze knüpfen an die damit aufgerufene Tradition der Frankfurter Kritischen Theorie an. Es ist ein bitterböser, dunkler, scharfsinniger Band, die Texte bewegen sich essayistisch in der „Kluft zwischen Wissenschaft und Politik“ (S. 11). Die Herausgeber stellen fest, dass es sich dabei um eine Kluft handelt, die sich heute nicht mehr überbrücken lasse, wie es noch in den Texten und dem Stil Adornos der Fall gewesen sei. Die Imitation von dessen Stil gehe heute „in Ästhetizismus“ (S. 12) über.

In der Einleitung wird die scheinbare Ausweglosigkeit der globalen Lage mit der Feststellung umschrieben, dass „man sich das Ende der Welt wohl besser vorstellen“ könne „als das des Kapitalismus“. (S. 10) Das Überthema der Beiträge ist Gewalt als konstitutiver Bestandteil der so gekennzeichneten Welt: Als Prinzip der gewaltsamen Absicherung einer kapitalistischen Eigentumsordnung, aber mehr noch als „eine Gewalterfahrung, die nicht nur in die Institutionen eingegangen […], sondern ebenso den Menschen eingebrannt ist“ (S. 115) und sich bis in die subtilsten Vergesellschaftungsbereiche bemerkbar macht.

Gegenüber dieser negativen Gegenwart bestimmen die Herausgeber das „Wesen kritischer Theorie“ (S. 11) als Reflexion auf die unverwirklichten Potenziale der Gesellschaft unter den Bedingungen ihres praktischen Ausbleibens. Die „Nötigung“ zu dieser Reflexion gehe aus dem Material der Theorie hervor (vgl. S. 10): Zuletzt aus der somatischen Erfahrung von Schmerz, an der sich erkennen lässt, dass Gewalt gesellschaftlich irrational, weil vermeidbar ist. Als zeitgenössisches Problem einer kritischen Theorie machen die Herausgeber fest, dass die Voraussetzung für diesen Kritikmodus nicht mehr gegeben seien, d.h. die inneren Widersprüche des Materials nicht mehr über dieses und sich selbst hinauswiesen, so dass auch keine emanzipatorischen Fluchtlinien mehr sichtbar würden. Das Objekt der Kritik – die Gesellschaft – behaupte sich schlechterdings unveränderlich als negativ. Insofern sollen die einzelnen Gegenstände des Bandes „Grenzsteine“ der Reflexion sein: Reale Aporien der auf Emanzipation abzielenden Theorie, aus denen heraus sich kein Weg zur Praxis abzuzeichnen scheint.

Herausgeberin und Herausgeber

  • Theodora Becker studierte Philosophie, Politikwissenschaft und Kulturwissenschaft in Berlin. Sie schreibt an einer Doktorarbeit zur kritischen Theorie der Prostitution und engagiert sich für die Rechte von Sexarbeiterinnen.
  • Andreas Franze studierte Wirtschaftswissenschaften in Innsbruck, New Orleans und Berlin.
  • Jakob Hayner studierte Deutsche Literatur und Philosophie in Berlin. Er arbeitet als Journalist und schreibt unter anderem über Literatur, Theater, Film und Politik.
  • Arne Kellermann studierte Soziologie und Philosophie in Berlin, Hannover und New York.

Aufbau und Inhalt

Den ersten Teil des Bandes eröffnet Robert Hullot-Kentor mit der Frage „Was Barbarei ist“: Hier ist damit zunächst einer der Zentralbegriffe in Adornos Werk gemeint, der auf die historische Kontinuität vorgeschichtlicher Zustände hinweist. Der Autor diskutiert diesen Begriff an der Dialektik bürgerlicher Gleichheit: Egalität sei unbezweifelbar „Triebkraft menschlicher Emanzipation“ (S. 23), in ihr verwirkliche sich aber auch ein „Verfahren der Fairness“, in dem Zwecke zu Mitteln werden. Die ökonomische Funktionalität und Fungibilität untergrabe die versprochene Emanzipation. Die proklamierte Egalität aller möglichen Dinge diene so vielmehr dazu, „sie ganz zu beherrschen.“ (S. 29) Die primitive Zerstörung des Primitiven, die mit Adornos Barbarei-Begriff angesprochen sei, wird nach Hullot-Kentor an der Kunst Richard Serras – gearbeitet aus roh wirkenden Stahlplatten – ästhetisch erfahrbar.

Detlev Claussen diskutiert die Möglichkeitsbedingungen einer kritischen Gesellschaftstheorie „im Zeitalter globaler Gleichzeitigkeit“, nach dem Ende des „short century“, das die Frankfurter Kritische Theorie hervorgebracht hatte. Symptome des „Gleichzeitigwerdens“ findet Claussen von den Massenmedien zum Netzwerk des Islamismus. Die Weltgesellschaft sei so integriert, dass Wohlstand und Not auch in der individuellen Wahrnehmung nicht mehr zu trennen seien: „Die Ahnung von der Überflüssigkeit des Menschen dringt in das Alltagsbewusstsein […] ein“ (S. 50), so dass von „notwendig falschem Bewusstsein“ nicht mehr gesprochen werden könne und die herkömmlichen Verfahren der Ideologiekritik nicht mehr griffen.

Wie die Kritische Theorie ihre objektiven Bedingungen verliere, untersucht auch Andreas Franze – am Beispiel der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie. Musste Marx die Wirtschaftstheorie seiner Zeit noch entzaubern, sei die Gewalt der Ökonomie heute „für beinahe jedermann offenbar.“ (S. 66) In der Zwischenzeit habe sich die Wirtschaftswissenschaft von dem Anspruch eines rationalen Allgemeinen und einer objektiven Wertlehre auf das individuelle Verhalten zurückgezogen, so dass kein Anspruch mehr bestehe, an ein in sich vernünftiges Ganzes auch nur zu glauben. So sei die Ökonomik vom „Schleier“, der die ökonomischen Herrschaftsverhältnisse ideologisch verdeckte und als solcher immerhin kritisiert werden konnte, unmittelbar zum Teil derselben geworden: Eine Rechtfertigung der irrationalen Gegenwart, die bestenfalls zweckrationale Handlungen von einzelnen kenne.

Der zweite Teil des Bandes beginnt mit einem Text von Jordi Maiso „zur gesellschaftlichen Produktion von Kälte“. Kälte meint hier, wiederum in Anschluss an Adorno und Marx, eine zunehmende emotionale Indifferenz, die schlichte Gewöhnung an Katastrophennachrichten rund um die Uhr und den Globus. „Bürgerliche Kälte“, die sich vom Leid der anderen nicht berühren lässt und stoisch die eigenen privaten Interessen verfolgt, sei zum gesellschaftlichen Grundprinzip geworden, wobei Maiso eine zunehmende „Tendenz zur Brutalisierung“ (S. 84) konstatiert.

Mit aphoristischen Reisenotizen von den Philippinen ist Rolf Tiedemann selbst im Band vertreten. Auch er referiert auf eine fehlgeleitete Globalisierung, in der sich Unterschiede immer mehr anglichen, aber im schlechten Sinne – und zwar konkret die sog. Erste an die sog. Dritte Welt, die „der ‚Ersten‘ immerhin voraushat, […] bereits zu wissen […], ‚wie das wird‘: nämlich genauso, wie es hier schon ist […]“. (S. 86) Er beschreibt die Zerstörung von Landschaften, elende Lebensverhältnisse, abgeschirmte Ghettos und schließlich einen „perverse[n] Optimismus“ (S. 95) unter den Ärmsten, der für diese gleichwohl lebensnotwendig sei.

Den Zusammenhang von „Grenze und Gewalt“ untersucht José Antonio Zamora Zaragoza in sehr wörtlichem Sinne: an den Außengrenzen Europas und dem Versuch, Flüchtlinge von ihr abzuhalten oder wenigstens schnell auszuweisen. Dabei skizziert er die arbeitsmarktpolitischen Hintergründe der europäischen Flüchtlingspolitik sowie die Widersprüche von Aktivisten, die prekäre bestehende gesetzliche Regelungen einerseits in Anspruch nehmen und zugleich kritisieren müssten. Die Verwaltung papierloser Einwanderer in Internierungslagern behandle diese schließlich „gerade in ihrer Überflüssigkeit“ wie den idealtypischen neoliberalen Arbeiter: „flexibel, ohne soziale Absicherung, grenzenlos den Anforderung[en] der Wirtschaft unterworfen und ohne die Fähigkeit, ihre Rechte politisch einzufordern.“ (S. 105)

Der – zumindest in der Menge der angesprochenen Themen – dichteste Beitrag stammt von Arne Kellermann, das Zentralthema sind Veränderungen im Verständnis und in den Bedingungen von Arbeit: Von der Marxschen Hoffnung, die Produktivkraftentwicklung möge über sich selbst hinaustreiben – zu den gesellschaftlichen Katastrophen, an denen solche Hoffnungen zerbrachen. Die Aussicht auf Emanzipation sei zwischen der Tendenz des Kapitals zur Totalisierung und der Einsicht in natürliche „Grenzen des Wachstums“ zerrieben worden. Die „faschistische Losung ‚Für alle reichts nicht‘“ (S. 119) lasse sich nur durch das staatliche Gewaltmonopol umsetzen, während die den Einzelnen vorenthaltene Partizipation am gesellschaftliche produzierten Reichtum immer wieder zu gewaltförmigen Ausbrüchen seitens der Ausgeschlossenen führten. Nach den Exzessen des 20. Jahrhunderts, der Massenvernichtung der Shoa und dem Abwurf der Atombombe als Waffe, mit der sich die Menschheit beim nächsten Mal auch gleich ganz auslöschen könne, wirke Gewalt als Konstituens aller nachherigen Geschichte „alternativlos“. (S. 115) Einen vorläufigen Endpunkt dieser Entwicklung macht der Autor in der neoliberalen Sozialfigur des Hipsters aus. Letzterer betitle seine „kreativen Gedanken“ nurmehr gegenüber Financiers als Arbeit. Er verkörpere eine „Ästhetisierung der Politiklosigkeit“ (S. 120): Den schönen Schein, an der sich steigernden Destruktivität der Gesellschaft nicht partizipieren zu müssen.

Den dritten Teil des Bandes eröffnet Jakob Hayner mit einem Aufsatz über die Dramatik von Peter Hacks und Heiner Müller und die durch sie kommentierte Geschichte der DDR. In der „fragilen Stabilität der stillgestellten Moderne, die der Sozialismus bedeutete“ (S. 136), seien die beiden Künstler gegenläufige Wege gegangen: Hacks habe die staatlich dekretierte und zugleich verunmöglichte Beziehung von Gegenwart und Utopie behandelt, Müller die Gegenwart der unbearbeiteten Vergangenheit als hintergründiges Problem der verpassten Utopie. Hayner untersucht beider schriftstellerische Strategien und ihr Verhältnis zur Tradition, besonders zu Bertolt Brecht.

Die „Genese gesellschaftlichen Gehorsams“ zeigt Iris Dankemeyer an der Logik und dem dunkel-futuristischen Ästhetizismus der Techno-Musik auf. Diese sei als negative Antwort auf die glamourösen Versprechen der Popmusik zu verstehen, praktische Einübung der Arbeitswelt, der man in diesem Freizeitvergnügen entkommen wolle: Das auf Rhythmus reduzierte Bassgewitter im Drogenrausch „kompensiert Arbeit nicht mehr, sondern ersetzt sie geradezu“. (S. 153) Der Aufsatz konzentriert sich dabei weniger auf die Berliner als die Detroit-Wurzel des Techno, wo unbezahlte „Amateure im Teenageralter dystopische Zukunftsmusik zusammenbastelten“. (S. 148) Die prekären Produktionsbedingungen von Techno seien in der Zwischenzeit – sozusagen im Transfer von Detroit nach Berlin – von der Not „zur Tugend der Kreativindustrie“ (S. 152) geworden. Dabei gehe außerdem die akustische Sinnlichkeit der ernsten Musik verloren.

Roberto Schwarz untersucht die Entwicklung der „Cidade de Deus“, der „Stadt Gottes“, einem Slum im Westen Rio de Janeiros „unter dem Druck der Drogenkriege und der zugleich stattfindenden Zunahme von Polizeigewalt und Korruption“. (S. 157) Diese Szenerie wird anhand eines gleichnamigen Romans von Paulo Lins (2004) dargestellt. Als zeitgeschichtliche Tendenz, welche die Leser des Buchs mit den darin gezeichneten Figuren verbinde, schildert Schwarz vor allem den gnadenlosen Verlauf der Handlung, in der sich Taten und (Folge-)Reaktionen voneinander wie vom Ursprungskontext entkoppeln und stets in schlimme Sackgassen führen.

Mit einer Reflexion über das Scheitern – zuallererst daran, den zunächst geplanten Text zu schreiben – beschließt Theodora Becker den Band. Im Vorbeigehen streift die Autorin die Lage des Feminismus, dessen Dilemma insbesondere an der Bewertung von Prostitution ersichtlich wird. Der patriarchalen Stilisierung der Prostituierten zur Betrügerin stehe ihre vermeintlich feministische Reduzierung auf eine bloße Opferrolle gegenüber. Dabei spekulierten Frauen als Prostituierte „vielmehr darauf, vom Patriarchat und dessen Sexualunterdrückung zu profitieren“. (S. 183)

Diskussion und Fazit

Als Vergegenwärtigung der Kritischen Theorie ist der Band äußerst gelungen: Während die akademische Kritische Theorie-Forschung seit geraumer Zeit dazu tendiert, insbesondere Adorno von den herrschafts- und ökonomiekritischen Grundlagen seiner Philosophie befreien zu wollen, und während viele andere Adorno-Fans lieber auf tagespolitischer Ebene Zivilisation versus Barbarei spielen – so angemessen das bei Beispielen wie dem Islamismus im Prinzip sein mag -, führt dieser Band endlich einmal wieder an die Ausgangsproblematik der Kritischen Theorie heran: die hässliche Grenze des immanenten Umschlagspunkts von Zivilisation in Barbarei.

Die Argumentation der meisten Beiträge ist äußerst komprimiert: Satz für Satz werden die jeweils analysierten Verwüstungen des 20. und 21. Jahrhunderts aufgelistet. Über viele Seiten reihen sich somit Aufzählungen von historischen und gesellschaftlichen Ereignissen in knapper, aber apodiktischer Kommentierung. So entsteht ein unglaublich dichtes Staccato von Grausamkeiten, das man zwar als so pessimistisch wie realitätsgerecht ansehen darf, das aber nur theoretische Stichworte liefern kann und will. Das systematische Problem der „Grenzsteine“ kritischen Denkens und deren Rückwirkung auf die Möglichkeitsbedingungen einer kritischen Theorie wird in den einzelnen Aufsätzen somit eher indirekt anphilosophiert oder, wie gesagt, in dichten und eindrucksvollen Panoramen von Aufzählungen nahegelegt. Der in der Einleitung eröffnete Horizont der Aktualisierung der Kritischen Theorie im Sinne der zeitdiagnostischen Radikalisierung ihrer Erkenntnis- und Praxis-Kritik steht so durchgängig im Hintergrund, aber die Fragestellung wird eher implizit bzw. im konkreten Stoff weiterverfolgt als ausgeführt: durch die jeweils aufgesuchten soziogenen Katastrophen hindurch.

Die meisten Texte kommen in der (wenn auch jeweils unterschiedlich hergeleiteten) Schilderung zweier Tendenzen überein, denen sich eine kritische Theorie der Gegenwart zu widmen habe. Claussens Beitrag fasst sie letztlich am bündigsten zusammen: Immer umfassendere ideologische und ökonomische Integration (S. 81, 117) sowie der Umstand, dass die Menschen als Arbeitskraftverkäufer überflüssig werden (vgl. S. 106): Die „Rationalisierungslogik und der Zwang zur fortwährenden Produktivitätssteigerung haben dazu geführt, dass der heutige Kapitalismus immer weniger menschliche Arbeitskraft verwerten kann.“ (S. 83) Diese Tendenzen ließen sich aber bereits anhand der kanonischen Texte der Kritischen Theorie verfolgen. Sie indizieren keine grundsätzlich neuartige Situation: Hier wäre vielmehr weiterzuentwickeln, was Adorno den „Schleier der Schleierlosigkeit“ nannte, dass die Irrationalität der globalen Lage gar keinen ideologischen Glanz mehr brauche, um als unhintergehbar, als ganz natürlich zu erscheinen. Zweifellos: „[U]nsere Welt ist eine andere als die Benjamins und Adornos; und dem muss Rechnung getragen werden.“ (S. 12) Doch die vorliegenden Texte legen entgegen dieser Intention eher die gleichfalls vorhandenen Kontinuitäten offen. Sie demonstrieren somit eindrücklich, wie die „Welt der Katastrophen und Verwüstungen“ (Tiedemann 2014, S. 9) ihren Analytiker, der über sie hinausgehen will, dazu zwingt, „seinen Gedanken […] ‚Schutz bei Texten‘ suchen“ (ebd.) zu lassen. Sie machen die Probe darauf, wie weit sich die veränderte Welt in diesem textlich-theoretischen „Schutz“ eben doch noch beschreiben lässt.

Freilich gehen die Texte dabei über Adorno und Co., bzw. deren „Schutz“ am Ende doch hinaus: Indem sie zeigen, wie sowohl die Aufrechterhaltung des Elends als auch die meist barbarischen Aufstände dagegen akut und aktuell gewaltförmig ablaufen. Dabei weisen die Verfasser auf eine sich steigernde Tendenz zur „Brutalisierung“ (vgl. S. 84, 185) und die Aktualität des Konzepts von moderner Barbarei hin. Im Zweifelfall könnten, müssten und würden destabilisierte Staaten, bevor „Plünderungen in den Metropolen überhand nehmen“, das „Gewaltmonopol unmittelbar durchzusetzen und so mit eigener Faust für die ökonomisch nicht mehr zu vollziehende Synthesis zu sorgen.“ (S. 66)

Der Negativismus der Kritischen Theorie hängt an einem Evidenzerlebnis: Dass die negative gesellschaftliche Objektivität „täglich kraß sich erfahren“ (Adorno 2003, S. 295) lasse. Die allgemeinen sozialen Verhältnisse sollen anhand der je subjektiven Erfahrung von deren Gewaltverhältnis aufgeschlossen werden: Erkenntnis gehe auf, wo scheinbar isolierte Momente vor dem Seufzer der „Lebensnot“ blitzhaft „zur Schrift zusammentreten“ (ebd., S. 399). Damit ist die Kritische Theorie in ihren grundsätzlichsten Thesen daran gebunden, dass gehaltvolle individuelle Erfahrung und deren gelingende Reflexion möglich ist. Genau diese Möglichkeit erscheint heute brüchig, das Vertrauen auf solche Evidenzerlebnisse im Schnittpunkt von Subjektivität und Objektivität wirkt naiv: die „absurde […] Hoffnung, etwas würde aufspringen, sich plötzlich anders darstellen, einen Raum eröffnen, der unsere Handlungsfähigkeit wieder herstellt.“ (S. 170) – so schreibt Theodora Becker, deren Text das „Scheitern“ dieses individuellen Reflexionsvorgangs zum Thema hat. In diesem Zerfall von Subjekt und Welt liegt einer der in der Einleitung formulierten „Grenzen“, an denen eine kritische Theorie der Gegenwart dadurch abprallt, dass ihr Gegenstand (die Gesellschaft) zäh persistent bleibt: Die Konvergenz der „Unzulänglichkeit“ der „eigenen Überlegungen mit der Unmöglichkeit, das zu denken, was doch gedacht werden muß“. (Adorno 2006, S. 226) An dieser metaphysischen Grenze hat die Kritische Theorie ihren systematischen Ort. Becker formuliert das angedeutete Grunddilemma in dem Widerspruch, dass die Kritische Theorie „überhaupt nur unter den Bedingungen des Zuspätkommens entstanden“ sei, davon „wusste“ und „sich doch damit doch nie zufrieden geben durfte“ (S. 186), so dass sie ihr eigenes Scheitern in ihre reflexiven Voraussetzungen mit aufnehmen musste. Es sei hier empfohlen, den Text von Becker direkt nach der Einleitung zu lesen, weil hier das von den Herausgebern eingangs zitierte Scheitern der Theorie an den „Grenzsteinen“ konkret greifbar wird.

„Ist das Leben derart von Irrationalität geprägt, wird die der Kritik inhärente Erinnerung an Vernunft letztendlich zum Spott über die Lebenden.“ (S. 67) Als gelungene Polemiken zeigen die Texte dieses Bandes praktisch, d.h. im Vollzug, dass eine kritische Theorie der Gegenwart möglich ist. Die eigentlich theoretischen Grundlagen blieben nachzuliefern – aber vielleicht wäre das auch nur asymptotisch möglich.

Literatur

  • Adorno, Theodor W. (2003): Negative Dialektik, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt a.M.
  • Adorno, Theodor W. (2006): Metaphysik. Begriff und Probleme, Frankfurt a.M.
  • Lenk, Elisabeth/Lolling, Gesa (Hrsg.) (2006): Philologie und Scham und andere Texte von über und für Rolf Tiedemann, Wetzlar.
  • Lins, Paulo (2004): Die Stadt Gottes, München.
  • Tiedemann, Rolf (2014): Abenteuer anschauender Vernunft. Essay über die Philosophie Goethes, München.

Rezension von
Ansgar Martins
M.A. Religionsphilosophie
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Es gibt 7 Rezensionen von Ansgar Martins.

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Zitiervorschlag
Ansgar Martins. Rezension vom 24.08.2017 zu: Theodora Becker, Andreas Franze, Jakob Hayner, Arne Kellermann (Hrsg.): Grenzsteine. Beiträge zur Kritik der Gewalt. edition text+kritik (München) 2016. ISBN 978-3-86916-541-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21586.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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