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Peter Bohley: Identität. Wie sie entsteht und warum der Mensch sie braucht

Rezensiert von Dr. Wolfgang Rechtien, 21.11.2016

Cover Peter Bohley: Identität. Wie sie entsteht und warum der Mensch sie braucht ISBN 978-3-8288-3690-7

Peter Bohley: Identität. Wie sie entsteht und warum der Mensch sie braucht. Tectum-Verlag (Marburg) 2016. 130 Seiten. ISBN 978-3-8288-3690-7. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR.

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Thema

Voraussetzung für individuelles und gesellschaftliches Handeln ist – so Bohley – das Vorhandensein von Identität. Als Anliegen formuliert der Autor im Vorwort:

  • zu zeigen, dass der Zweck von Identität vor allem Lebenshilfe ist,
  • Klärung des (häufig missverstandenen oder rätselhaften) Identitätsbegriffes,
  • durch die Darstellung von Identität zu einem besseres Verständnis von uns selbst zu kommen. Außerdem will Bohley mit seiner Studie einen Beitrag zu einem vertieften Verständnis der schweizerischen und der deutsche Geschichte leisten.

Autor

Peter Bohley war von 1971 bis 1999 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Zürich mit den Forschungsgebieten Steuern, Gebühren, Kommunale Finanzwirtschaft, finanzwissenschaftliche Aspekte des Föderalismus. Seit seiner Emeritierung ist er als freier Wissenschaftler tätig.

Aufbau und Inhalt

Das Buch enthält nach Vorwort, Einleitung und Überblick sieben Kapitel:

1 Wie Identität entsteht und wie wir uns ihrer vergewissern. Individuelle Identität – das Bild, das sich Menschen von sich selbst machen – und kollektive Identität – die Antwort auf die Frage „Wer sind wir?“ – entsteht aus allem, „was Menschen bewusst oder unbewusst beeindruckt, womit sie sich identifizieren und was sie dadurch zu einem Identitätsbestandteil machen“ (S 11). Zu ihrer Sicherung bedarf sie der Vergewisserung, etwa durch Handlungserfolge (z.B. errungene Medaillen eines Sportlers, Zahl der Publikationen eines Wissenschaftlers, Stimmenanzahl bei der Wahl eines Politikers usw.). Auch die Kenntnis der biologischen und sozialen Herkunft kann – so Bohley - Identität stiften oder vergewissern, die dann das Gefühl verschafft, orientiert zu sein, und die Kraft, diese Orientierung in Handeln umzusetzen. Bohley benennt eine Reihe von weiteren Faktoren, die zum Aufbau oder zur Sicherung von Identität beitragen können, u.a. geschichtliche Ereignisse, Sprache, Literatur, territoriale Verbundenheit, Rituale u.a.m.

2 Identität als Ergebnis der Evolution. Der Autor entwickelt Gedanken über eine (mögliche) biologische Logik der Entwicklung von Instinkten zur Identität. Hinsichtlich der menschlichen Fähigkeit, sich selbst als Individuum zu erkennen, stützt er sich auf die philosophische Anthropologie Plessners (1892-1985) und die Hirnforschungen von Ernst Pöppel (der übrigens nicht, wie bei Bohley steht, Mediziner, sondern Psychologe und Professor für Medizinische Psychologie war). Entwicklungslinien wie die des Neandertalers haben nach Bohleys Auffassung wohl wegen fehlender Identität ein vorzeitiges Ende gefunden (S. 38).

3 Identität als psychologisches Phänomen. In diesem Kapitel folgt Bohley der Argumentation des Psychoanalytikers Erik Erikson bezüglich des Erwerbs von Identität in den insgesamt acht Phasen des Lebenslaufes. Von den bei ihm geschilderte Identitätskrisen greift Bohley diejenige von George Bernard Shaw auf. Eriksons Untersuchung der Identitätsdiffusion der Sioux Indianer als Folge der amerikanischen Indianerpolitik wird ausführlich geschildert.

4 Die Kraft kollektiver Identität. In diesem Kapitel will Bohley die von kollektiver Identität mobilisierbare Kraftentfaltung zeigen. Die Entstehung individueller Identitäten und des darin verankerten Welt- und Selbstbildes führt der Autor letztlich auf das im Laufe der Evolution zunehmende Gehirnvolumen und die dementsprechende höhere Intelligenz zurück. Mit dem Entstehen des modernen Selbstbildes wurden – so Bohley – Nationalstaaten zu Volkswirtschaften, in denen die Menschen die in ihren Identitäten verankerten Bedürfnisse und Vorstellungen verwirklichen können. Für ein realistisches Bild von der Bedeutung der Identität muss allerdings auch auf die Risiken hingewiesen werden, so etwa auf Vorurteile und Aberglauben. Bohley verweist hier auf die tragischen Ereignisse in Ruanda 1994, bei denen sich die kollektiven Identitäten von Hutu und Tutsi gegenüber standen. Kurz dargestellt werden auch die Überlegungen von Samuel Phillips Huntington (2004) zur Krise der amerikanischen Identität, in denen Rassismus als verdrängter Bestandteil der amerikanischen Identität gesehen wurde.

5 In der Schweiz entstandene Identität. Für Bohley ist die Schweiz „der exemplarische Fall eines Landes mit einer außergewöhnlich tragfähigen Kollektividentität“ (S. 69). Die Entstehung dieser kollektiven Identität wird nachgezeichnet, ebenso, von welcher Identität maßgebliche Akteure geleitet werden.

6 Deutsche Identitäten. Anschließend unternimmt Bohley den Versuch, das Entstehen der deutschen Identitäten nachzuzeichnen, beginnend mit der germanischen Lebensform der Gefolgschaft und der Übertragung der römischen Reichsidee über die bismarcksche Reichsgründung, die – so Bohley – einer tragfähigen nationalen Identität entbehrte, und die Katastrophen der Weltkriege. Auf diesem Wege entstand die „sprichwörtliche Staatsgläubigkeit“ und die „identitätsverankerte Hochachtung, die bis heute in Deutschland dem Recht als einer nicht in Frage zu stellenden Autorität entgegengebracht wird“ (S. 106).

7 Ausblick. Im Ausblick stellt Bohley die seiner Meinung nach entscheidende Frage, „ob es gemeinsame Erinnerungsorte gibt, die eine Bildung europäischer Kollektividentität und darauf gegründeter stabiler Staatlichkeit ermöglichen können“ (S. 110). Kluge Zurückhaltung und Respekt vor nationalen Identitäten sind für ihn Voraussetzungen für eine positive Zukunft der Europäischen Union.

Abschließend gibt es ein Nachwort zum Identitätsbegriff, ein persönliches Nachwort, ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister.

Diskussion und Fazit

Der Begriff der Identität ist ebenso populär wie schwierig und wird – darauf weist Bohley zu Recht hin – häufig missverstanden. Um so wichtiger ist es, bei dem von ihm formulierten Anliegen die in den aktuellen akademischen Diskursen verschiedener Disziplinen zu findenden Begriffsbildungen nachzuzeichnen. Leider findet sich dieses Bemühen in diesem Buch allenfalls in Ansätzen. Die Vorstellungen des Autors über die Entwicklung (menschlicher) Identität sind überwiegend spekulativ (wohl bewusst, wie die Wortwahl des Autors erkennen lässt: man kann sich vorstellen…, vielleicht haben … usw.). Was die vom Autor angenommene ausschließlich menschliche Besonderheit der Selbstbeobachtung angeht, so entspricht dies nicht ganz dem gegenwärtigen Erkenntnisstand (vgl. z.B. Anderson & Gallup, 1999; Bekoff & Sherman, 2003; Call & Tomasello, 2008; Reiss & Marino, 2001).

Das Konzept von Erikson gehört zweifellos zu den grundlegenden theoretischen Werken der Identitätsforschung. Auf diesem beruhende Weiterentwicklungen, etwa von Marcia ( Marcia, 1966; 1980) werden von Bohley leider nicht erwähnt. Ebenso vermisse ich aktuelle soziologische und sozialpsychologische Forschung und Theoriebildung, die sich mit den durch Globalisierung und zunehmender Veränderungsdynamik prekär gewordenen Prozessen der Identitätskonstruktion befassen (Stichwort z.B. Patchwork Identity).

Der im 4. Kapitel behauptete Zusammenhang zwischen Gehirnvolumen und Intelligenz – und die damit entstehende tragfähige Identität – ist zumindest fragwürdig: das menschliche Gehirn ist weder überhaupt noch verhältnismäßig das größte[*]. Bei den Überlegungen zur Entstehung von Volkswirtschaften wird die Dynamik der Identitätsentwicklung in den Vordergrund gestellt; inwieweit diese mit veränderten wirtschaftlichen und (verkehrs- und bildungs)technologischen Bedingungen zusammenhängt, bleibt offen.

Literatur

  • Anderson, J. R., & Gallup, C. G. j. (1999). Self-recognition in nonhuman primates, past and future challenges. In M. Haug & R. E. Whalen (Eds.), Animal Models of Human Emotion and Cognition (pp. 175-194). Washington: APA.

  • Bekoff, M., & Sherman, P. W. (2003). Reflections on animal selves. Trends in Ecology and Evolution, 19, 176-180.

  • Call, J., & Tomasello, M. (2008). Does the chimpanzee have a theory of mind? 30 years later. Trends in Cognitive Science, 5, 187-192.

  • Marcia, J. E. (1966). Development and validation of ego-identity status. Journ. Person. Soc. Psychol., 35, 118-133.

  • Marcia, J. E. (1980). Identity in adolescence. In J. Adelson (Ed.), Handbook of adolescent psychology (pp. 159-187). New York: Wiley.

  • Reiss, D., & Marino, L. (2001). Mirror self-recognition in the bottlenose dolphin. A case of cognitive convergence. Proceedings of the National Academy of Sciences, 98, 5937.


[*]  Mensch ca. 1300 – 1800 g; Elefant 5000 g

Rezension von
Dr. Wolfgang Rechtien
Bis 2009 Vorstandsmitglied und Geschäftsführer des Kurt Lewin Institutes für Psychologie der FernUniversität sowie Ausbildungsleiter für Psychologische Psychotherapie.
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Es gibt 38 Rezensionen von Wolfgang Rechtien.

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Zitiervorschlag
Wolfgang Rechtien. Rezension vom 21.11.2016 zu: Peter Bohley: Identität. Wie sie entsteht und warum der Mensch sie braucht. Tectum-Verlag (Marburg) 2016. ISBN 978-3-8288-3690-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21594.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.


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