Christoph Hutter: Psychodrama als experimentelle Theologie
Rezensiert von Dr. Birgit Szczyrba, 08.12.2001

Christoph Hutter: Psychodrama als experimentelle Theologie. Rekonstruktion der therapeutischen Philosophie Morenos aus praktisch-theologischer Perspektive. Lit Verlag (Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2000. 416 Seiten. ISBN 978-3-8258-4666-4. 30,90 EUR.
Einführung
Jakob Levy Moreno (1889-1974) ist in Fachkreisen nur für einige seiner Schöpfungen bekannt, etwa für das Psychodrama und die Soziometrie. Er entwickelte jedoch auch maßgeblich die Gruppenpsychotherapie, die Aktionsforschung (vor Lewin) und das Rollenspiel, ohne dass dies angemessen zur Kenntnis genommen wurde und wird. Vor allem seine Ideen, Theorien und Konzepte sind vielen unbekannt oder ein Rätsel. Das liegt zum einen an der eingeschränkten Rezeption seiner Werke unter ausschließlich gruppentherapeutischen Aspekten, zum andern an der Unlust von PsychodramatikerInnen und NichtpsychodramatikerInnen, seine Werke überhaupt zu lesen. Morenos Schriften sind anstrengend, weil wirr, poetisch verbrämt, logisch nicht stringent, teilweise widersprüchlich. Er war Arzt mit religiösen Überzeugungen, therapeutischen Ansprüchen, theatralischen Vorstellungen und soziologischen Hoffnungen. Der Schlüssel zu seinem Gesamtwerk und zum Verständnis seiner Basiskonzepte ist jedoch ein religiöser, wie Hutter mit seiner Dissertation nachweist. Im Vorwort von Ferdinand Buer ist zu lesen, dass wohl nur jemand ohne übertriebene Angst vor dem Religiösen – ein Theologe – diese Leistung vollbringen konnte. In origineller Verpackung, in Gestalt des Psychodramas, konnte Morenos Philosophie wie auch die Werke von Bettelheim, Buber, Cohn, Perls und Lewin gegen die Säkularisierung der Welt - und damit der Gesellschaft und der Wissenschaft – überleben. Hutter öffnet diese Verpackung und stellt nicht nur Theologen, sondern allen PsychodramatikerInnen und am Psychodrama Interessierten mit seiner textkritischen Exegese aller (!) Morenoscher Schriften die bisher umfassendste und verständlichste Rekonstruktion der therapeutischen Philosophie Morenos zur Verfügung. Er leistet damit über die mühselige Aufschlüsselung der Morenoschen Gedanken hinaus einen interdisziplinären Brückenschlag: Die religiösen Wurzeln der therapeutischen Philosophie machen psychodramatisches Handeln nicht zu religiösem Handeln, sondern der heutigen gesellschaftlichen "Heilungs"praxis angemessen zu Berater-, Erzieher-, Pfleger- u.a. professionellem Handeln, das zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Integrität des Menschen dient.
Zum Autor
Dr. Christoph Hutter studierte katholische Theologie und Erziehungswissenschaften. Er ist Diplom-Theologe, Psychodramatiker (DFP/DAGG) und Erziehungsberater in Osnabrück.
Aufbau und Inhalte
Hutters Werk kurz und übersichtlich darzustellen, ist eine Herausforderung, der man teilweise entgehen kann, indem die Relevanz für die Soziale Arbeit als einer unter vielen Brauchbarkeitsaspekten heraus gestellt wird. Ohne die gesamte Bedeutung schmälern zu wollen, scheint dies ein Weg, die Komplexität des Buches zu erfassen.
Zunächst stellt Hutter seine Hypothese vor: ‚Psychodrama als experimentelle Theologie‘ rekurriert auf seine Erfahrungen als Mitglied einer Psychodramagruppe, also auf praktische Erfahrungen. Die Auseinandersetzung mit existentiellen Themen wie der Tod nahestehender Menschen, Fragen nach Gerechtigkeit und Beobachtungen zum Stellenwert der Gemeinschaft generieren die Idee einer Bereicherung und Herausforderung der christlichen Orthopraxie durch psychodramatisches Handeln. Diese Hypothese lässt sich als revolutionär bezeichnen, bedenkt man das Terrain, auf dem sie entsteht: die katholische Theologie.
Die Perspektiven, die Hutter zur Überprüfung seiner These einführt, sind von praktischer Bedeutung. Er betrachtet praktische Theologie als interdisziplinär: Die heutigen gesellschaftlichen Probleme können durch zunehmende Spezialisierung und Differenzierung wissenschaftlicher Disziplinen nicht beantwortet werden. Um Disziplinen nicht aufzusprengen sondern ihre Potentiale zu nutzen, ist Kooperation – nicht Konkurrenz – unabdingbar. Praktische Theologie betrachtet Hutter weiterhin als praxisorientiert im Sinne einer Gesellschaft verändernden Kraft; als politisch in radikaler Bezogenheit auf konkrete gesellschaftliche Bedingungen und Probleme wie Not und Unterdrückung zu ihrer Überwindung; als parteilich für Benachteiligte und Randständige in einer von Reichtum und nicht-materieller Armut deformierten Gesellschaft sowie überhaupt für den Anderen in historischer Solidarität (mit den Opfern der Geschichte), gegenwärtiger und antizipatorischer Solidarität (mit der folgenden Generation). Schon hier fällt es dem Leser nicht schwer, die Verbindung zur säkularisierten Praxis beispielsweise der Sozialen Arbeit zu erkennen und auf eigene Praxiserfahrungen zu transponieren.
Das von Hutter angestrebte Projekt, das Psychodrama als Praxis vor dem Hintergrund der o.g. Perspektiven zu beschreiben, erklärt er mit einem Hinweis auf die drei Wurzeln Morenoschen Denkens: Moreno war Arzt und sah in der Medizin das Motiv der Heilung; als Soziologe sah er den Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen; die Religion war für ihn das Prinzip der universalen Verantwortung des Menschen für die Welt im Gesamten. Deutlich wird hier, dass sich therapeutisches (im Sinne von heilendem, helfenden) Handeln heute u.a. mit Fragen auseinander setzt, die früher zum Gebiet der Religion gehörten. Davor muss man sich auch als Nicht-Theologe nicht fürchten; man sollte es reflektieren, um das Risiko der Ausblendung wesentlicher Aspekte des Zwischenmenschlichen, der Verantwortung des Menschen in der Gesellschaft zu umgehen.
Hutter erarbeitet in durchgängiger Ausführlichkeit stets entlang der Originalschriften Morenos die Bedeutung der Basiskonzepte der therapeutischen Philosophie, wobei so manche Ungenauigkeit bisheriger Rekonstruktionsversuche aufgedeckt wird. In Kürze: Die Berücksichtigung und Umsetzung der therapeutischen Philosophie (Spontaneität und Kreativität im Hier und Jetzt einer konkreten Szene, die zu Kooperation bei gleichzeitiger Selbstbestimmung und damit zur Heilung/Verbesserung der Szene führt) ist vor dem Hintergrund Morenoscher Theoreme eine Option auf kreativen Umgang mit den Pathologien der Moderne nicht nur innerhalb der katholischen Gemeindearbeit. Ein deutlicher Hinweis auf die Wirksamkeit des psychodramatischen Verfahrens ist die Liste der Morenoschen Forschungsprojekte zur Soziometrie: Die These, dass nur das Leben in selbst gewählten Gemeinschaften ohne Destruktion und Verschleiß vor sich gehen kann, verifizierte er in seiner praktischen Arbeit. Er arbeitete – in heutiges Vokabular der Sozialen Arbeit übersetzt – in der Familienberatung, der Flüchtlingsarbeit, im Gefängnis, in geschlossenen Jungen- und Mädchenheimen, in Schulen und in Besiedelungsprojekten. Die Entwicklung von Gruppen und die Exploration psychosozialer Netzwerke waren und sind die Forschungsgegenstände der Soziometrie, das Rollenspiel war und ist die Forschungsmethode, um konfliktuöse Beziehungen in der Tiefenstruktur einer Gemeinschaft bearbeiten zu können, die die Ordnung des Zusammenlebens an der Oberfläche stören. Die Morenosche Grundidee lautet, dass der Mensch nur durch seine sozialen Beziehungen lebt; aus dem Individuum – einer nur ca. 150jährigen Errungenschaft – wird das soziale Atom. So erklären sich innerpsychische Konflikte als sozial verursacht. Weitere Orte für soziale Beziehungen sind die Dyade, die Gruppe und gesellschaftliche Netzwerke. Alle stehen miteinander in Verbindung und wirken sich aufeinander aus. Hieraus ergibt sich die Verantwortung des Menschen, die Moreno in jeder Beziehung an jedem Ort konstatiert.
Der Anhang des Buches liefert eine Übersicht über Morenos Leben, seine Aktivitäten und Schriften; eine Bibliographie Morenos, unterteilt in die Frühschriften und in Schriften ab 1925; außerdem eine Liste der Sekundärliteratur zur therapeutischen Philosophie sowie eine Liste zur praktisch-theologischen Auseinandersetzung mit Moreno.
Fazit
Hutter stellt mit seinem als Dissertation entstandenen Buch nicht nur Theologen, sondern allen PsychodramatikerInnen und am Psychodrama Interessierten mit seiner textkritischen Exegese aller (!) Morenoscher Schriften die bisher umfassendste und verständlichste Rekonstruktion der therapeutischen Philosophie Morenos zur Verfügung. Er leistet über die mühselige Aufschlüsselung der Morenoschen Gedanken hinaus einen interdisziplinären Brückenschlag: Die religiösen Wurzeln des Werkes Jakob L. Morenos machen psychodramatisches Handeln der heutigen gesellschaftlichen "Heilungs"praxis angemessen zu Berater-, Erzieher-, Pfleger- u.a. professionellem Handeln, das zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Integrität des Menschen dient.
Hutters Buch ist ein Grundlagenwerk, dass bisher keinen Vergleich findet. Die Moreno-Forschung und die Psychodramatheorie haben hiermit einen Punkt erreicht, der nicht so bald zu übertreffen sein wird. Hutter zu kritisieren und eine Weiterentwicklung des bisherigen Standes zu erreichen, ist eine nicht kleine Herausforderung. Zum einen ergibt sich diese Herausforderung aus der Lesbarkeit des Buches: viel Text auf vielen Seiten in einer Komplexität, die auch geübte LeserInnen beeindrucken wird. Weniger Ehrgeizigen sei empfohlen, das Buch als wertvolles Nachschlagewerk zu verwenden. Jedes Kapitel ist mit Zusammenfassungen versehen, die Quellenangaben sind von strenger Genauigkeit, die Fußnoten allein von hohem Informationsgehalt, außerdem teilweise unterhaltsam. Insgesamt stellt das Buch die gesellschaftspolitische und ethisch-normative Bedeutung des Lebenswerks Morenos für die heutige Praxis von BeziehungsarbeiterInnen heraus und gehört in der Reihe der fundierten Psychodrama-Literatur nach ganz vorn.
Rezension von
Dr. Birgit Szczyrba
Sozial-und Erziehungswissenschaftlerin, Psychodrama-Leiterin (DFP/DAGG), Leiterin der Hochschuldidaktik in der Qualitätsoffensive Exzellente Lehre der Technische Hochschule Köln, Sprecherin des Netzwerks Wissenschaftscoaching
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