K. M. J. K.: „Es ist viel Wahres dran, es ist viel Bullshit dran...“ (Rotlichtmilieu)
Rezensiert von Prof. Dr. Richard Utz, 03.02.2017

K. M. J. K.: „Es ist viel Wahres dran, es ist viel Bullshit dran...“. Eine kriminologische Fallstudie zum Hamburger Rotlichtmilieu. Verlag Dr. Kovač GmbH (Hamburg) 2016. 142 Seiten. ISBN 978-3-8300-8801-1. D: 75,80 EUR, A: 78,00 EUR.
Entstehungshintergrund
In seiner Schriftenreihe „Criminologia“ legt der Hamburger Dr. Kova? Verlag mit Band 37 eine als qualitativ angekündigte Studie zum Hamburger Rotlichtmilieu vor. Dem Leser fällt sogleich eine formale Merkwürdigkeit ins Auge, die doch einigermaßen verwundert: Es fehlt der Autorenname oder sind es etwa zwei Personen, die sich hinter dem ominösen „K.M.J.K.“ verbergen?
Thema
Weshalb diese Geheimnistuerei? Sie rechtfertigt sich jedenfalls nicht durch den Inhalt dieses Bändchens, das vom Zuschnitt und der Qualität her doch weit eher einer erweiterten Bachelorarbeit als einer bahnbrechenden Studie gleicht, die neue und unerwartete Einsichten in eine interessante Subkultur bietet. Und gerade die Subkultur der Prostitution präsentiert doch öffentlich eine Fassade, weil sie aus kommerziellen Gründen sichtbar sein will: „Eines muß man ihnen lassen: sie geben sich als das, was sie sind. Wenigstens ist ihnen ein Laster fremd, das der Heuchelei“, wie Louis Sébastien Mercier in seinen Pariser Sittenbilder des 18ten Jahrhunderts über die Prostitution der Straße urteilte. Im 19ten Jahrhundert war es Friedrich Engels mit seiner Darstellung des Proletarier Elends, zu dem auch das Schicksal der Prostituierten gehörte, und Emile Zola´s wohl bekanntester Roman „Nana“ beruhte auf präzisen Recherchen des Naturalisten im Milieu. Im 20ten Jahrhundert schließlich nahm sich der amerikanische Soziologe W.I.Thomas in seiner berühmten Studie über „The Unadjusted Girl“ der Thematik an und führte die Tradition der kritischen Sozialreportage soziologisch fort. Also nochmals: Warum diese Geheimnistuerei?
Die Prostitution befindet sich derzeit in einer prekären Situation zwischen Novellierung und Stagnation, zwischen gesellschaftlicher Anerkennung und Ablehnung, in der sich die Spannungen und Konflikte zwischen liberaler und konservativer, feministischer und sozialistischer Moralpolitik widerspiegeln. An dieser Stelle tut Forschung not,
- die differenziert genug ist, um die ganze Bandbreite der Prostitutionswirklichkeit abzubilden und ihre De-Mystifizierung zu betreiben,
- die der Situationen und Motive des Einstiegs und Ausstiegs ebenso darzustellen wie die ökonomischen Interessen der Prostitution und die Besteuerungsinteressen des Staates,
- die der frauenverachtenden ebenso wie die der emanzipierten Formen,
- die der Kriminalität ebenso wie die der Normalitäten des Milieus.
Inhalte
Fangen wir mit dem ersten Punkt an und fragen: Bietet die Untersuchung ein differenziertes Bild der Prostitution? Antwort: Nein, Fehlanzeige. K.M.J.K. führte 4 Interviews mit zwei Frauen und zwei Männern durch. Zu Motiven des Einstiegs und Ausstiegs erfahren die Leser gleichfalls nichts Neues: Die beiden Frauen sind im Hamburger Rotlichtmilieu in die Prostitution eingestiegen, wobei die eine Frau „Heidi“ über eine Liebesbeziehung zu einem Zuhälter mehr oder weniger zur Prostitution verführt wurde und „Heidi“, die andere Frau, aus den gleichfalls bekannten finanziellen Motiven, aus Gründen der „sexuelle(n) Befriedigung, … eines (sozialen) Prestiges, Anerkennung und Akzeptanz der (sexuellen) Tätigkeit, sowie (der) Zugehörigkeit zu einer (beruflichen) Gemeinschaft“ eine Karriere als Prostituierte einschlug. Über den Zusammenhang zwischen Steuereinnahmen des Staates und der staatlicherseits kaum vorgehaltenen Ausstiegsprogramme fällt kein Wort. Frauenverachtende Praktiken kommen thematisch nicht vor, stattdessen werden die beschönigenden Selbstdarstellungen des Zuhälters mit dem Pseudonym „Michel“ blauäugig und völlig unkritisch wiedergegeben, der sich als Frauenversteher und fairer Unterstützer darstellt, eine Art Säulenheilger der Reeperbahn. Und die De-Mystifizierung der Prostitution beschränkt sich auf den verständlichen Wunsch der Interviewten nach Legitimierung ihrer Tätigkeiten, und zwar aus eindeutig kommerziellen Gründen. Dies wird an vielen Stellen deutlich, an denen „K.M.J.K.“ formale Analogien zu anderen Berufsbildern herstellt, um auf diese Weise die Prostitution professionell zu normalisieren. Und dies erzeugt schon zu den geschilderten Einstiegsumständen der Heidi eine Dissonanz.
Die Arbeit referiert die bekannten kriminalsoziologischen Theorieansätze und bezieht diese auf eine große Anzahl von Interview-Zitaten als Beleg: die Theorie differentieller Kontakte von Sutherland, die Subkulturtheorie von Cohen, die Anomietheorie von Merton, um nur die bekanntesten zu nennen. Roland Girtlers Studie über den Strich, Hess/Scheerer und andere werden immer wieder als Interpretationsfolie zu den Interviews herangezogen, ohne dass sich aus diesen relativ beliebig bleibenden Theorie-Zitaten mehr als eine unkritisch gelesene Plausibilisierung der gemachten Interviewaussagen ergeben würde – zu groß ist die Diskrepanz zwischen dem werturteilsneutralen Abstraktionsniveau der verwendeten Theorien und der Konkretheit der individuellen Aussagen und Beschreibungen, die als solche vollkommen affirmativ die eigenen ideellen und materiellen Interessen der Interviewten wiedergeben.
Wie „K.M.J.K.“ zum Ende schreibt/schreiben, ging es darum, der „meist einseitige(n) öffentliche(n) Darstellung dieser Szene“(S.122) eine positive Beschreibung gegenüber zu stellen. Das ist nun seinerseits eine nicht weniger einseitige Absichtserklärung, die in vielerlei Hinsicht ergänzungsbedürftig ist.
Fazit
Fazit Das Bändchen hält nicht, was es verspricht. Es erfüllt auch nicht annähernd die selbst gestellte Aufgabe, seinen Lesern einen Einblick in das reale Leben der Prostituierten in Hamburgs Rotlichtmilieu zu geben. Um eine solche Lebenswirklichkeit vor Verstand und Vernunft entstehen zu lassen, ist mehr erforderlich als vier Interviews mit Insidern der Szene. Dazu gehört Feldforschung, teilnehmende Beobachtung und distanzierte Analyse, also eine dichte Beschreibung dieser einzigartigen Lebenswelt, die die praktischen Relevanzen und zielführenden Rezepte offenlegt und die milieutypischen Auslegungsschemata des „Denkens wie üblich“ (Alfred Schütz) rekonstruiert, mit deren Hilfe Hamburger Prostituierte auf der Reeperbahn ihre Sexarbeit mehr oder weniger erfolgreich leisten. Dann wäre ein realistisches Porträt dieser Welt entstanden, das die subjektiven Perspektiven der Interviewten zu den beobachtbaren Tatsachen des Milieus in eine kritische Beziehung setzt und die „Wahrheit“ von dem „Bullshit“ zu unterscheiden erlaubt, der über es im Umlauf ist.
Rezension von
Prof. Dr. Richard Utz
Hochschule Mannheim, Fakultät für Sozialwesen
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