Daniel Kunz (Hrsg.): Sexuelle Gesundheit für Menschen mit kognitiven Einschränkungen
Rezensiert von Dr. Karoline Klamp-Gretschel, 16.02.2017
Daniel Kunz (Hrsg.): Sexuelle Gesundheit für Menschen mit kognitiven Einschränkungen. Angebotsübersicht und Bedürfnisabklärung zu öffentlich zugänglichen Dienstleistungen sexueller Gesundheit. Interact Verlag Hochschule Luzern (Luzern) 2016. 180 Seiten. ISBN 978-3-906036-22-9. 30,00 EUR.
Thema
Der Einbezug von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung durch partizipative Forschungsverfahren stellt eine Chance dar, die Bedürfnisse der Personengruppe nicht mehr nur zu antizipieren sondern tatsächlich zu erheben. Mit dieser Motivation werden im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention in dieser Publikation zwei Forschungswege beschritten: Menschen mit geistiger Behinderung werden zu ihren Bedürfnissen im Kontext sexueller Gesundheit qualitativ befragt und quantitativ werden entsprechende Beratungsangebote in der deutschsprachigen Schweiz erhoben.
Daraus ergeben sich folgende Forschungsfragen: Inwiefern existieren entsprechende barrierefreie Beratungsangebote? Was genau sind die Erkenntnisinteressen von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung in solchen Beratungssettings? Welche Form der inhaltlichen und strukturellen Gestaltung ist erwünscht?
Autor_innen
- Prof. Dr. Daniel Kunz (M. Sc.) ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut und hat die Professur für Methoden und Konzepte Sozialer Arbeit an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit inne. Seit 2015 leitet er das Kompetenzzentrum Gesundheitsförderung und Teilhabe in Lebenswelten der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit.
- Manuela Käppeli (M. Sc.) arbeitet seit 2014 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit und promoviert dort zur Professionsforschung Sozialer Arbeit.
- Irene Müller (lic. phil. I) ist seit 2011 als Dozentin und Projektleiterin mit den Schwerpunkten Sexualität und sexuelle Gesundheit bezogen auf Menschen mit Behinderung, Beratung und häusliche Gewalt an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit tätig.
- Katharina Lechner (MA), ist seit 2013 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit beschäftigt und führt zudem die dortige Stabsstelle Lernprozessbegleitung.
Entstehungshintergrund
Nach der Schließung der Fachstelle für Behinderung und Sexualität (fabs) in Basel 2011 wurden die dortigen Arbeiten an die Hochschule Luzern – Soziale Arbeit übergeben. Trotz der Weiterführung einzelner Tätigkeitsbereiche entstand eine Lücke insbesondere bei den Beratungsangeboten, die Forschungsfragen danach aufwarf, welche Beratungsangebote zur sexuellen Gesundheit für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung in der deutschsprachigen Schweiz bestehen und welche Bedürfnisse die Personengruppe mit kognitiver Beeinträchtigung überhaupt an solche Angebote knüpft. Durch Partizipation können „wirkungsorientierte und annehmbare Angebote und Programme für die Zielgruppenangehörigen“ (S. 69) geschaffen werden.
Das Buch ist der „Pionierin und Aktivistin in der Achtung und dem Schutz sexueller Rechte für Menschen mit Behinderung“ (o.S.) Dr. Aiha Zemp (1953-2011) gewidmet.
Aufbau und Inhalt
Das Buch von Daniel Kunz, Manuela Käppeli, Irene Müller und Katharina Lechner beinhaltet neben einem Vorwort, einem kurzen Überblick und einem Anhang sechs Kapitel:
- Einleitung
- Theoretische Grundlagen
- Forschungsdesign
- Ergebnisdarstellung quantitativer Teil
- Ergebnisdarstellung qualitativer Teil
- Ergebnisdiskussion, Schlussfolgerungen und Empfehlungen
Das Vorwort von Pia Gabriel-Schärer (Vizedirektorin der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit) betont die Bedeutung des Forschungsvorhabens und der anwendungsorientierten Forschung der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit.
Im Kapitel Forschungsprojekt und wichtige Ergebnisse auf einen Blick wird eine kompakte Einführung in das Forschungsthema gegeben und der Aufbau der Publikation skizziert.
In Kapitel 1 setzt sich Kunz mit der Ausgangslage und Problemstellung (Kap. 1.1), resultierend aus der Auflösung der ‚Fachstelle für Behinderung und Sexualität (fabs)‘, auseinander und beschreibt die Herleitung der Forschungsfrage (Kap. 1.2).
Die theoretischen Grundlagen werden in Kapitel 2 von Kunz und Käppeli erörtert, indem Angebote zu sexueller Gesundheit mit Hilfe von Begriffsbestimmungen zu Sexualität, sexueller Gesundheit und sexuellen Rechten (Kap. 2.1.1) definiert und Handlungsfelder sexueller Gesundheit (Kap. 2.1.2) angeführt werden. Des Weiteren wird die Gruppe der Menschen mit kognitiven Einschränkungen beschrieben (Kap. 2.2) und ihre Zugänge zu Sexualität und sexueller Gesundheit (Kap. 2.2.1) sowie zur Behindertenhilfe beim Thema Sexualität und sexuelle Gesundheit (Kap. 2.2.2) dargestellt. Abschließend werden Qualitätsstandards des Forschungsvorhabens benannt (Kap. 2.3).
In Kapitel 3 wird von Kunz, Müller, Lechner und Käppeli das Forschungsdesign inkl. des partizipatorischen Forschungsansatzes (Kap. 3.1), des quantitativen (Kap. 3.2) sowie des qualitativen Anteils (Kap. 3.3) erläutert. Das Kapitel endet mit einer kurzen Ausführung zur kommunikativen Validierung (Kap. 3.4).
Es schließt sich Kapitel 4 (Lechner, Müller, Kunz) an, das die Ergebnisse der quantitativen Erhebung darstellt und hinsichtlich verschiedener Aspekte (z.B. teilnehmende Beratungsstellen, geografische Lage, Mitarbeiter_innen; Kap. 4.1-4.3) beleuchtet. Schwerpunkt des Kapitels sind die Angaben zu den Angeboten zur sexuellen Gesundheit der befragten Einrichtungen (z.B. Barrierefreiheit der Einrichtungen, Einbindung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, Finanzierung der Angebote; Kap. 4.4). In Kap. 4.5 werden alle Ergebnisse nochmals zusammengefasst.
Kapitel 5 (Käppeli, Kunz, Müller) befasst sich mit den Ergebnissen der qualitativen Untersuchung, indem die Themen und Geschichten, die den Befragten zur Wahl angeboten wurden, in ihrer Rezeption durch die Befragten beschrieben werden. Es sind die Themen/Geschichten: Kennenlernen (Kap. 5.1), Verliebt sein (Kap. 5.2), gemeinsames Wohnen (Kap. 5.3), Verhütung (Kap. 5.4), Streit und Versöhnung (Kap. 5.5), sexuelle Orientierung (Kap. 5.6) und sexuelle Gewalt (Kap. 5.7). Wie im quantitativen Teil wird ein Fazit zu den Ergebnissen gezogen (Kap. 5.8).
Das letzte Kapitel 6 (Kunz und Müller) befasst sich mit einer Diskussion der Ergebnisse bezogen auf die theoretischen Grundlagen (Kap. 6.1), einer Beantwortung der Forschungsfragen (Kap. 6.2) sowie Schlussfolgerungen für Angebote zum Thema sexuelle Gesundheit (Kap. 6.3) und Empfehlungen (Kap. 6.4) zu den menschenrechtsbasierten Aspekten Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Qualität und Partizipation.
Das Buch schließt mit dem Anhang, der die eingesetzten Geschichten und die UN-Behindertenrechtskonvention sowie Literatur- und Quellenverzeichnis, Abbildungsverzeichnis, Angaben zu den Autor_innen und eine Danksagung enthält.
Diskussion
Die Autor_innen möchten mit ihrer Publikation eine empirische Grundlage zur weiteren Diskussion über die Versorgung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen mit Beratungsangeboten zur sexuellen Gesundheit leisten. Durch eine bisher fehlende statistische Erhebung ebenjener Angebote bestehen Unklarheiten über Anbieter_innen und Angebote.
Im Kontext der UN-Behindertenrechtskonvention und dem Gesundheitsverständnis der WHO ist sexuelle Gesundheit ein Zustand des Wohlbefindens, der den gesellschaftlichen Kontext des Individuums berücksichtigt (vgl. S. 25). Durch diese sehr weit gefasste Arbeitsgrundlage weisen die befragten Institutionen wie auch die Fragenkomplexe der qualitativen Untersuchung eine sehr große Bandbreite an Themen auf. Dahingegen stellen die theoretischen Grundlagen – bekannt und durch entsprechende Fachliteratur publiziert – keine neuen Erkenntnisse dar. Mit Hilfe des zweigeteilten Forschungsansatzes bietet die Publikation jedoch eine neue, innovative Arbeitsweise.
Es gelingt den Autor_innen herauszuarbeiten, dass als zentrale Forderung an Angebote eine „Anleitung zum Handeln“ (S. 104) durch die Befragten gewünscht wird. Darüber hinaus wird die fehlende Adressierung als Zielgruppe deutlich; spezifische Angebote wie Chats oder zentrale und offene Sprechstunden könnten dies korrigieren (vgl. S. 118). Besonders deutlich ist besonders eine fehlende, personenbezogene Ansprache bei der Verbindung der Themen sexuelle Orientierung und kognitive Beeinträchtigung zu bemerken.
Offene Fragen bleiben, insbesondere hinsichtlich der enormen Spannbreite des Forschungsthemas, und werden abschließend benannt, wie z.B.: Wie ist die Versorgung mit entsprechenden Angeboten in stationären Einrichtungen? Wie kann der Einsatz von Expert_innen in eigener Sache angeleitet und verbreitet werden? Wie können Informationen zur Zielgruppe gelangen? Diese und weitere Empfehlungen können und müssen anderen Autor_innen als Grundlage zur Ergänzung um weitere Erhebungen dienen.
Fazit
Es ist den Autor_innen gelungen, zwei unterschiedliche Perspektiven zu einem Forschungsthema zu vereinen. Während die empirischen Ergebnisse eine Grundlage bilden, sind die erhobenen Bedürfnisse von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung zum Thema sexuelle Gesundheit Gradmesser für die weitere Entwicklung des Themen- und Angebotskomplexes. Es wird deutlich, dass bestehende und zukünftige Angebote stärker auf die Zielgruppe ausgerichtet werden müssen, im besten Falle durch das Einbeziehen von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in die Konzeption, Durchführung und Evaluation. Der partizipative Ansatz entspricht dabei einer aktuellen Ausrichtung von Forschungsvorhaben im Kontext geistiger Behinderung.
Die Impulse des Buches können dazu beitragen, den Blick auf sexuelle Gesundheit von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung zu richten und den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention zur gesundheitlichen Chancengleichheit stärker zu entsprechen. Die Orientierung an Ressourcen und Entwicklungspotentialen von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung kann zusätzlich langfristig Schutzfaktoren bereitstellen (vgl. S. 120).
Das Buch kann dementsprechend Beratungsstellen, Fachkräften und Studierenden sowie weiteren interessierten Leser_innen empfohlen und als Ausgangspunkt fachlicher Veränderungen in der Angebotsentwicklung verankert werden.
Rezension von
Dr. Karoline Klamp-Gretschel
Mailformular
Es gibt 20 Rezensionen von Karoline Klamp-Gretschel.
Zitiervorschlag
Karoline Klamp-Gretschel. Rezension vom 16.02.2017 zu:
Daniel Kunz (Hrsg.): Sexuelle Gesundheit für Menschen mit kognitiven Einschränkungen. Angebotsübersicht und Bedürfnisabklärung zu öffentlich zugänglichen Dienstleistungen sexueller Gesundheit. Interact Verlag Hochschule Luzern
(Luzern) 2016.
ISBN 978-3-906036-22-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21657.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.