Gülcan Akkaya, Eva Maria Belser et al.: Grund- und Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen
Rezensiert von Prof. Dr. Arnd Götzelmann, 22.02.2017
Gülcan Akkaya, Eva Maria Belser, Andrea Egbuna-Joss, Jasmin Jung-Blattmann: Grund- und Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen. Ein Leitfaden für die Praxis der Sozialen Arbeit. Interact Verlag Hochschule Luzern (Luzern) 2016. 167 Seiten. ISBN 978-3-906036-23-6. 32,00 EUR.
Thema
Soziale Arbeit als Profession bindet sich z.B. in nationalen und internationalen berufsethischen Kodices an die internationalen Menschenrechte und Grundfreiheiten, wie sie in verschiedenen Konventionen von den Vereinten Nationen beschlossen und in den meisten Staaten ratifiziert wurden. Das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (kurz: UN-Behindertenrechtskonvention: UN-BRK) aus dem Jahr 2006 ist bis Ende 2016 von 172 Nationen ratifiziert worden, so auch von Österreich im September 2008, von Deutschland im Februar 2009 und von der Schweiz im April 2014. Die UN-BRK hat vorangehende Bestrebungen und Debatten aus der Zivilgesellschaft, aus Fachkreisen und von Betroffenenseite in internationales Recht transformiert und wurde mit den nationalen Ratifizierungen in das jeweilige nationale Recht inkorporiert. Damit wurden die Grund- und Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in den verschiedenen Staaten juristisch gestärkt. Zugleich gab und gibt das Übereinkommen den juristischen, ethischen und fachlichen Debatten in den verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereichen, besonders auch in der Sozialen Arbeit wesentliche Impulse.
In eine Vielzahl von Publikationen zur Bedeutung der UN-BRK für die Soziale Arbeit in den letzten Jahren reiht sich das zu rezensierende Buch ein. Es bietet einen spezifisch schweizerischen Fokus.
Autorinnen
Die vier Autorinnen stammen aus der Schweiz und haben aus verschiedenen disziplinären Hintergründen ihre Lehr-, Forschungs- und Projektschwerpunkte bei Grund- und Menschenrechtsfragen:
- Dr. rer. pol. Gülcan Akkaya, Diplom-Sozialarbeiterin, Master in Human Rights and Social Work ist Dozentin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit.
- Prof. Dr. iur. Eva Maria Belser hat den Lehrstuhl für Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg i.Ue. sowie den UNESCO-Lehrstuhl für Menschenrechte und Demokratie inne.
- Dr. iur. des. Andrea Egbuna-Joss, Master in Internationalem und Europäischem Recht, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Schweizerischen Kompetenzzentrum für Menschenrechte und am Institut für Europarecht der Universität Freiburg i.Ue.
- Jasmin Jung-Blattmann, Master in Soziologie, Bachelor in Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften, arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit.
Entstehungshintergrund
Hintergrund des Buches ist die – vergleichsweise späte – Ratifizierung der UN-BRK durch die Schweiz im April 2014. Die Publikation entstand aus einer Kooperation der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit mit dem Schweizerischen Kompetenzzentrum für Menschenrechte und aus einer gemeinsamen Fachtagung im Jahre 2015. Voraus ging die Vorstudie „Menschenrechte im Sozialwesen“ von Gülcan Akkaya und Nora Martin aus dem Jahr 2013 (Luzern / Bern): www.skmr.ch.
Dem zu rezensierenden Buch liegen Interviews mit Fachleuten aus der praktischen Arbeit mit Menschen mit Behinderungen zugrunde, die Spannungsfeldern und Dilemmata bei der Umsetzung der Menschenrechte thematisierten. So wurden aus der Praxis typische Fallkonstellationen entnommen und aus einer Grund- und Menschenrechtsperspektive der Sozialen Arbeit analysiert.
Aufbau und Referenzrahmen
Der Band bietet auf 167 Seiten einen deutlich verfassungs- und völkerrechtlichen Zugang zur Sozialen Arbeit mit Menschen mit Behinderungen. Er entstammt der und fokussiert die spezifische Situation in der Schweiz.
In einem grundlegenden und einführenden Zugang wird die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen im Kontext der Sozialen Arbeit beleuchtet.
- Der folgende erste Hauptteil widmet sich den Grund- und Menschenrechten sowie den Rechten von Menschen mit Behinderungen, dem Öffentlichen und Privatrecht.
- Der zweite Hauptteil erläutert die Handlungsprinzipien und -konzepte in der Sozialen Arbeit mit Menschen mit Behinderungen.
- Der dritte Teil verhandelt ausgewählte Fallkonstellationen aus den unterschiedlichen Handlungsfeldern und Dimensionen des Lebens von Menschen mit Behinderung.
Dem knappen Fazit schließen sich ein Literatur-, ein Materialien- und ein Autor_innenverzeichnis an.
Nach Danksagung, Vorwort und Einleitung folgt das erste Kapitel, das den Referenzrahmen des Buches darlegt: „Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen im Kontext der Sozialen Arbeit“ (S. 20-26). Hier wird auf die kaum zu unterschätzende Relevanz der Grund- und Menschenrechte allgemein und speziell für Menschen mit Behinderungen hingewiesen. Die schweizerische Verfassung und aktuell die UN-BRK mache „eine veränderte Sichtweise der Gesellschaft und damit der Institutionen der Sozialen Arbeit“ (20) nötig. Einige soziologische Daten zu Menschen mit Behinderungen und ihren Lebensbereichen sowie zu den institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen werden dargestellt. Die „Paradigmenwechsel in der Finanzierung“, die Veränderungen durch das Normalisierungsprinzip, den Inklusionsansatz, die Prozesse der Deinstitutionalisierung und der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen werden beschrieben.
Zu Teil 1
Der umfangreiche „Teil 1 Rechtliche Grundlagen“ (S. 30-79) bildet mit weiteren sechs Kapiteln den juristischen Kern des Buches.
Hier werden im zweiten Kapitel zunächst die terminologischen Grundlagen und der Konnex von Bundesverfassung, Europäischer Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und den UN-Menschenrechtsabkommen beschrieben. Anders als in Deutschland, wo die rechtliche Relevanz der UN-Konventionen – mit Verfassungs- oder bloß Gesetzesrang? – umstritten ist, genössen gemäß der Schweizerischen Bundesverfassung „die völkerrechtlichen Abkommen unter bestimmten Umständen sogar Vorrang vor nationalem Recht“ (32). Sodann werden die Abwehr-, Schutz- und Leistungsansprüche formuliert, die Voraussetzungen und Grenzen des Eingriffs in die Grund- und Menschenrechte dargestellt und das Diskriminierungsverbot beschrieben.
Das dritte Kapitel erläutert „Das Recht der Menschen mit Behinderungen“ (S. 40-45). Basis dessen bietet der Grundsatz gleicher Rechte und Pflichten für alle Menschen und die begriffliche Bestimmung von „Behinderung“. Sie wird aus der Verfassung (Diskriminierungsverbot, Behindertengleichstellungsgesetz), der UN-BRK und dem Sozialversicherungsrecht („Invalidität“) erhoben und differenziert. Es wird auf die Gültigkeit aller internationalen Menschenrechtsübereinkommen und speziell auf die „acht allgemeinen Grundsätze“ („Guiding Principles“) der UN-BRK hingewiesen.
Dem Verfassungsrecht der Schweiz widmet sich das vierte Kapitel (S. 46-48), indem die grundrechtlichen Normen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen expliziert und die Aufgabenteilung von Bund und Kantonen erläutert werden.
Aus dem Öffentlichen Recht (fünftes Kapitel, S. 50-55) werden als relevante Rechtskorpora das Behindertengleichstellungsgesetz, das Sozialversicherungsrecht mit dem Invalidenversicherungsgesetz, die so genannte „Sozial- und Nothilfe“, das Schulrecht mit u.a. dem „Sonderpädagogik-Konkordat“ und das Baurecht dargestellt.
Im sechsten Kapitel geht es um das Privat- bzw. Zivilrecht (S. 56-60): den Begriff der Rechtsfähigkeit, der Handlungsfähigkeit, des Kindeswohles und die Formen des Kinderschutzes, das moderne „Erwachsenenschutzrecht“ mit seinen unterschiedlichen Beistandschaftsarten, das im Jahre 2013 das vormalige Vormundschaftsrecht der Schweiz ablöste, sowie die Regelungen zur „fürsorglichen Unterbringung“.
Das siebte Kapitel mit seinem Fokus auf die Grund- und Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen (S. 62-79) rundet den ersten Teil ab. Hier werden die wesentlichen Begriffe und Normen aus der UN-BRK und der Verfassung der Schweiz dargelegt: Rechtsgleichheit, Diskriminierungsverbot, Recht auf Leben, Verbot von Folter, Schutz der Unversehrtheit der Person, Schutz vor Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch, Recht auf Gesundheit, Schutz der Privatsphäre, Achtung der Unverletzlichkeit der Wohnung, des Privat- und Familienlebens, Recht auf Bildung, Arbeit und Beschäftigung, Recht auf unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gesellschaft, Recht auf gleichberechtigten Zugang zu allen Bereichen des täglichen Lebens und persönliche Mobilität, Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben, an Erholung, Freizeit und Sport, Recht der freien Meinungsäußerung, des Zugangs zu Informationen, zur Justiz und auf wirksamen Rechtsschutz sowie die Regelungen zu Freiheitsentzug und Strafvollzug.
Zu Teil 2
Der Teil 2 mit dem achten Kapitel thematisiert die „Handlungsprinzipien und Konzepte in der Sozialen Arbeit“ (S. 81-85). In diesem sozialethisch ausgerichteten Grundlagenabschnitt wird die UN-BRK als Zeichen der „Abkehr von einer Behindertenpolitik, die primär auf Fürsorge und Ausgleich vorhandener oder vermeintlicher Defizite ausgerichtet war“, verstanden und als ein „Paradigmenwechsel“, der bereits an der Formulierung der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) und ihrem biopsychosozialen Modell zu erkennen gewesen sei.
Auch die Haltung der Professionellen der Sozialen Arbeit habe sich in diesem Zuge wegentwickelt „von Defizitorientierung und Paternalismus und hin zur Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen“. Als „Prinzipien“ Sozialer Arbeit mit solchen Menschen werden „Menschenwürde, Nichtdiskriminierung und Anerkennung der Behinderung als Bestandteil der menschlichen Vielfalt, gleichberechtigte Teilhabe an allen gesellschaftlichen Lebensbereichen sowie Chancengleichheit“ genannt. Drei Konzepte für die Praxis werden als bedeutsam hervorgehoben:
- das Konzept des Empowerment nach Theunissen (2009) bzw. nach Schwalb & Theunissen (2012),
- das Konzept der „assistierten Autonomie“, der die „professionsmoralische Grundhaltung“ korrespondiere, die Lob-Hüdepohl & Lesch (2007) mit „aufmerksam-achtsam-assistierend-anwaltschaftlich“ bezeichnen, und
- das Konzept der Lebensqualität, wie es etwa vom „Nationalen Brachenverband der Institutionen für Menschen mit Behinderung“ (INSOS) (2012) formuliert wurde.
Zu Teil 3
Der umfangreichste Part des Buches ist der praxisorientierte „Teil 3 Ausgewählte Fallkonstellationen“. Hier werden 31 prägnante Fallbeispiele, die sich aus den o.g. Interviews ergaben, diskutiert und auf grund- und menschenrechtliche Perspektiven und Lösungsansätze hin durchgearbeitet – und zwar immer nach demselben Schema: Kurzbeschreibung des Fallbeispiels – rechtliche Fragestellungen und Dilemmata für Sozialarbeitende – rechtliche Beurteilung – Handlungsempfehlungen. Die Fälle und ihre Diskussion werden dabei systematisch den folgenden Bereichen zugeordnet:
- „Schule und Ausbildung“ im neunten Kapitel (S. 88-96) mit den Themen „inklusives Bildungssystem“ sowie „Schulsozialarbeit und Sozialpädagogik“;
- „Berufsausbildung und Weiterbildung“ im zehnten Kapitel (S.98-102);
- „Arbeit, Werkstätten, berufliche Integration“ im elften Kapitel (S. 105-108);
- „Wohnen (betreutes Wohnen, Wohngruppen, Heime)“ im zwölften Kapitel (S. 110-124) mit den Themen „freie Wahl des Wohnorts und der Wohnform“, „Privatsphäre im Heimalltag“ und „Selbstbestimmung und Autonomie im Heimalltag“;
- „Selbstbestimmung versus Schutzpflichten“ im dreizehnten Kapitel (S. 126-133) mit den Themen „Schutzpflichten im Rahmen ambulanter Beratung“ und „Selbstbestimmung im Rahmen medizinischer Behandlungen“;
- „Sexualität, Beziehungen, Kinderwunsch“ im vierzehnten Kapitel (S. 134-143) mit den Themen „Sexuelle Selbstbestimmung“, „Heirat und Kinderwunsch“ und „Sexualität und Beziehungen im Heimalltag“;
- „Mobilität und Freizeitgestaltung“ im fünfzehnten Kapitel (S. 144-146);
- „Kommunikation“ im sechzehnten Kapitel (S. 148-155) mit den Themen „Informationsfreiheit“ und „Einbezug von Übersetzerinnen und Übersetzern“.
Im Fazit (S. 167-169) wird festgehalten, dass die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft vorangekommen, die Diskussion über die Gleichstellung jedoch weiter intensiv zu führen sei. Infolge der UN-BRK seien die Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen in der Öffentlichkeit, in den Organisationen und in der Praxis Sozialer Arbeit stärker thematisiert worden, die konkrete Umsetzung müsse jedoch gezielt gefördert und durchgesetzt werden.
Diskussion
Das Buch richtet sich als „Leitfaden für die Praxis der Sozialen Arbeit“ (Untertitel) an Sozial Arbeitende und interessierte Fachkreise sowie an die Institutionen (Behinderteneinrichtungen, Behörden etc.) und Ausbildungsstätten der Sozialen Arbeit und „soll ihnen bei grund- und menschenrechtlichen Fragen Orientierungshilfe und Sicherheit geben“ (S. 18). Sicherheit und Orientierung gibt der Band vor allem in juristischer Hinsicht bezogen auf die Schweiz. Viele Ähnlichkeiten in der grund- und völkerrechtlichen Basis finden sich hier mit der Bundesrepublik Deutschland und auch mit Österreich.
In dem Buch kommen jedoch viele juristische Eigenheiten der Schweiz in den Blick, die sich nicht transferieren lassen auf außerschweizerische nationale Rechtsordnungen. Es sind z.B. die Besonderheiten des Erwachsenenschutzrechtes mit den verschiedenen Arten der Beistandschaft, die z.T. andere Regelungen kennen als das bundesdeutsche Betreuungsrecht. Auch das schweizerische Invalidenversicherungsrecht unterscheidet sich vom deutschen Schwerbehindertenrecht und anderen Rechtskreisen, die Menschen mit Behinderungen betreffen. Insofern kann eine Übertragung, die Sicherheit gerade in rechtlichen Fragen geben soll, problematisch werden. Die grundlegenden völker- und verfassungsrechtlichen Rechtsnormen sind jedoch soweit ähnlich, dass das Buch für diesen Bereich dem ganzen deutschsprachigen Raum solide Anregungen geben kann.
In erster Linie kann das Buch also für die genannte Leser_innenschaft in der Schweiz empfohlen werden, in zweiter dann auch für deutschsprachige Leser_innen, die in Deutschland oder Österreich mit Menschen mit Behinderungen arbeiten.
Fazit
Im Ganzen bleibt der Band ein auf die rechtliche Perspektive ausgerichteter, kompakter Leitfaden für die Praxis der Sozialen Arbeit mit Menschen mit Behinderungen in der Schweiz, der jedoch die spezifischen Handlungskonzepte und -methoden inklusiv-partizipativen Agierens in der Sozialen Arbeit nicht in seinem zentralen Fokus hat. Durch seine Fallvignetten bietet er allerdings viele gute Anregungen für eine menschenrechtsorientierte Soziale Arbeit mit Menschen mit Behinderungen.
Rezension von
Prof. Dr. Arnd Götzelmann
Website
Mailformular
Es gibt 4 Rezensionen von Arnd Götzelmann.
Zitiervorschlag
Arnd Götzelmann. Rezension vom 22.02.2017 zu:
Gülcan Akkaya, Eva Maria Belser, Andrea Egbuna-Joss, Jasmin Jung-Blattmann: Grund- und Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen. Ein Leitfaden für die Praxis der Sozialen Arbeit. Interact Verlag Hochschule Luzern
(Luzern) 2016.
ISBN 978-3-906036-23-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21658.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.