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Florian Esser, Meike S. Baader et al. (Hrsg.): Reconceptualising Agency and Childhood

Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 22.02.2017

Cover Florian Esser, Meike S. Baader et al. (Hrsg.): Reconceptualising Agency and Childhood ISBN 978-1-138-85419-2

Florian Esser, Meike S. Baader, Tanja Betz, Beatrice Hungerland (Hrsg.): Reconceptualising Agency and Childhood. Routledge (New York) 2016. 310 Seiten. ISBN 978-1-138-85419-2. 123,95 EUR.

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Thema

Der Begriff der Agency ist seit den 1990er-Jahren zu einem Schlüsselkonzept der Kindheitswissenschaften geworden. Er bezieht sich gleichermaßen auf das subjektive Handlungsvermögen eines Individuums wie auf die objektiven Handlungsvoraussetzungen, kann also nicht mit einem Wort ins Deutsche übersetzt werden. Mit dem Begriff der Agency wird hervorgehoben, dass Kinder nicht nur als Produkte oder Objekte von Sozialisationsprozessen, sondern auch als handelnde Subjekte zu verstehen sind, die an gesellschaftlichen Prozessen ebenso wie an der „Konstruktion“ von Kindheit mitwirken. Dabei schwingt die Erwartung mit, dass Kindern eine aktive Rolle in der Gesellschaft ermöglicht wird – wie es z.B. im Gedanken der Kinderrechte zum Ausdruck kommt.

Heute wird das Agency-Konzept in den Kindheitswissenschaften bei aller Anerkennung wieder (selbst-)kritisch diskutiert. Es wird zu bedenken gegeben, dass das zuvor dominante Konzept von Kindheit als Entwicklungsstadium hin zum als vollkommen vorgestellten Erwachsenen und des Kindes als von Natur aus verletzlichem Wesen ersetzt worden sei durch eine essenzialistische Version von Agency. Diese sei zum einen als ein anthropologisches Faktum dem verletzlichen, sich entwickelnden Kind einfach entgegengesetzt, zum anderen als weitestgehend entwickelter Ausdruck der „Moderne“ hypostasiert worden. Indem das Kind als Akteur an sich verabsolutiert wurde, sei die Verbindung zur biologischen Basis (Körper) und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Lebens von Kindern verloren gegangen oder nicht genügend beachtet worden. Auch der Bezug zur generationalen Ordnung, einem anderen Schlüsselkonzept der Kindheitswissenschaften, sei zu wenig bedacht worden; hier könne das Handeln von Kindern sowohl reproduktive als auch transformierende Funktionen haben. Dies wird nun auch mit der grundlegenden Frage verbunden, wie Kinder individuell und kollektiv in verschiedenen sozialen Kontexten positioniert sind, dass es also erforderlich ist, sich nicht nur eine, sondern verschiedene Kindheiten vorzustellen.

Eine andere Kritik kommt von feministisch orientierten Sorgekonzepten, die schon früh interdependente Verhältnisse gegenüber Vorstellungen eines autonomen Subjekts formuliert hatten. Eine Theorie von Agency könne nicht einfach Fiktionen von Autonomie, die dem (männlichen) Erwachsenen zugeschrieben werden, auf Kinder übertragen und auf diese Weise deren Angewiesenheit auf andere Menschen, die sich um sie sorgen, negieren. In diesem Zusammenhang haben auch relationale Sozialtheorien, insbesondere die von Bruno Latour begründete Akteur-Netzwerk-Theorie, auf die Rekonzeptualisierung von Agency Einfluss gewonnen. Sie basieren auf der Annahme, dass Agency nicht eine inhärente persönliche Eigenschaft sei, sondern immer aus sozialen Beziehungen hervorgehe und in diese verwoben sei. Statt Agency als quasi natürliche Eigenschaft zu hypostasieren, müsse sie als Bestandteil eines komplexen Netzwerkes verschiedener menschlicher und nicht-menschlicher Akteure gesehen werden.

Der hier zu besprechende Sammelband zieht eine Bilanz dieser Diskussion und will den Begriff der Agency für die Kindheitsforschung unter verschiedenen Aspekten und für verschiedene Handlungsfelder in einem kritischen Sinn neu konzipieren.

HerausgeberInnen

Der Herausgeber und die Herausgeberinnen sind als Soziolog*innen und Erziehungswissenschaftler*innen an verschiedenen deutschen Hochschulen tätig.

Neben Beiträgen von deutschen Kindheitswissenschaftler*innen finden sich in dem Band Beiträge von Kindheitsforscher*innen aus Großbritannien, Dänemark, Österreich, Frankreich, Zypern und Indien.

Der Band wurde in englischer Sprache publiziert, um in die internationale Diskussion zum Thema eingreifen zu können. Beiträge in anderen Sprachen werden leider über Sprachgrenzen hinweg kaum zur Kenntnis genommen.

Aufbau und Inhalte

In der Einleitung resümieren der Herausgeber und die Herausgeberinnen die bisherige internationale Diskussion um den Agency-Begriff in den Kindheitswissenschaften und erläutern, warum sie eine Revision und Neukonzipierung des Begriffs für notwendig halten. Der Sammelband ist in fünf Teile gegliedert.

Im ersten Teil („Theoretical perspectives“) werden in sechs Beiträgen neue Wege für die Neukonzipierung von Agency vorgestellt.

  • David Oswell, der im Jahr 2013 ein grundlegendes Werk zur Frage der Agency in den Kindheitswissenschaften veröffentlicht hatte („The Agency of Children: From Family to Global Human Rights“), umreißt in seinem Beitrag die wichtigsten theoretischen und methodologischen Herausforderungen einer Neukonzipierung des Begriffs.
  • Sabine Bollig und Helga Kelle gehen der Frage nach, in welcher Weise die Akteur-Netzwerk-Theorie für die Kindheitswissenschaften und das Agency-Konzept erschlossen werden könnte.
  • Florian Esser setzt sich mit der konzeptionellen Unterscheidung von „starker“ und „schwacher“ Agency auseinander, wie sie unter anderem von Natascha Klocker auf der Basis von Untersuchungen in einem afrikanischen Land formuliert worden war.
  • Anne Wihstutz zeigt in ihrem Beitrag, wie feministische Care-Theorien für die Soziologie der Kindheit fruchtbar gemacht werden könnten. Priscilla Alderson, die in den Jahren 2013 und 2015 zwei grundlegende Schriften zur Bedeutung der Philosophie des Kritischen Realismus für Childhood Studies und Kinderpolitik vorgelegt hatte (Childhoods Real and Imagined und The Politics of Childhoods Real and Imagined) lotet in einem gemeinsam mit Tamaki Toshida verfassten Beitrag die realen Möglichkeiten und Grenzen der Agency von Kindern aus.
  • Eberhard Raithelhuber geht der Bedeutung relationaler Gesellschaftstheorien für eine Erweiterung des Agency-Konzepts nach.

Der zweite Teil („Children as actors in research“) umfasst zwei Beiträge zu methodologischen Fragen der Kindheitsforschung.

  • Spyros Spyrou hinterfragt kurzatmige Versuche, Kindern im Forschungsprozess „eine Stimme zu geben“.
  • Hanne Warming geht der Frage nach, wie den Sichtweisen von Kindern in der ethnographischen Feldforschung Rechnung getragen werden kann.

Im dritten Teil widmen sich drei Beiträge dem Begriff der Agency in historischer Perspektive („Agency in historical perspective“).

  • Meike S. Baader legt unter Bezug auf Bildungskonzepte der Deutschen Romantik um 1800 und der Kinderladenbewegung der 1970er-Jahre dar, dass schon lange vor der „Entdeckung“ der Agency in den New Childhood Studies dem Handlungsvermögen von Kindern Beachtung zukam.
  • Günter Mey erinnert an die Pionierrolle der in den 1920er-Jahren tätigen Psychologin Martha Muchow und ihrer bahnbrechenden Studie „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ für die heutigen Agency-orientierten Kindheitswissenschaften.
  • Beatrice Hungerland zeigt anhand von Elternratgebern, die seit den 1950er-Jahren in der Bundesrepublik Deutschland gebräuchlich waren, wie sich die Vorstellungen über die Stellung und das Handlungsrepertoire von Kindern in der generationalen Ordnung verändert haben.

Im vierten Teil gehen drei Beiträge der Agency von Kindern in transnationalen Kontexten und dem Globalen Süden nach („Transnational and majority world perspectives of agency“).

  • Samantha Punch arbeitet in vergleichender Betrachtung von Kindheitsstudien in Asien, Lateinamerika und Europa heraus, in welcher Weise sich die Handlungsmöglichkeiten von Kindern unterscheiden, aber auch ähneln.
  • Hia Sen kommt in einer empirisch basierten Reflexion der Handlungsdimensionen von Kindern in Indien zu dem Schluss, dass die „westlichen“ Konzepte von Agency an deren Lebensrealität weitgehend vorbeigehen und neue konzeptionelle Anstrengungen erforderlich machen.
  • Laura B. Kayser betont unter Bezug auf eine Kinderrechts-Initiative in Südindien, dass die Agency von Kindern nur unter Beachtung der Rahmenbedingungen verstanden und angemessen bewertet werden kann.

Im fünften Teil widmen sich vier Beiträge der Agency von Kindern in Institutionen, die für sie eigens geschaffen worden sind („Agency in institutions of childhood“).

  • Claudia Dreke analysiert anhand von Fotos aus einer Vorschuleinrichtung, wie die Kinder die Erwartungen der Erzieher in ihrem Umgang mit den pädagogisch intendierten Spielangeboten unterlaufen.
  • In einer Analyse von Jugendamtsakten zeigen Timo Ackermann und Pierrine Robin, wie die Agency der Kinder durch die Sozialarbeiter zu einem Risiko für den Kinderschutz umgedeutet und damit auch diskursiv umgeformt wird.
  • In einer Fallstudie zum Gruppenverhalten der Kinder in einer Grundschule kommen Torsten Eckermann und Friederike Heinzel zu dem Schluss, dass sich in den Handlungen der Kinder die Vorgaben und Erwartungen der Institution weitgehend reproduzieren.
  • Ausgehend von Bourdieus Konzept des Habitus und auf der Basis quantitativer Daten über Bildungsverläufe in Grundschulen diskutieren Frederick de Moll und Tanja Betz, wie soziale Ungleichheit über die Einstellungen der Kinder zur Schule und ihre außerschulischen Praktiken reproduziert wird.

Im abschließenden Kapitel resümieren der Herausgeber und die Herausgeberinnen, welche Potenziale sich aus der in den Beiträgen des Bandes vorgenommenen Neukonzipierung von Agency für die sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung ergeben.

Diskussion und Fazit

Der Band gibt einen umfassenden und verlässlichen Überblick über die in den letzten 30 Jahren zum Begriff der Agency geführte internationale Diskussion, wobei der Schwerpunkt auf den Kindheitswissenschaften im Globalen Norden liegt. Dabei werden grundlegende theoretische Aspekte ebenso wie mögliche empirische Anwendungen in der Kindheitsforschung beleuchtet. So ist es ein Verdienst des Bandes, dass er die hohe Ebene theoretischer Reflexion mit Beispielen empirischer Forschung in Beziehung setzt und die methodologischen Fragen und Schwierigkeiten, die sich dabei ergeben, sichtbar werden lässt. Auf diese Weise wird deutlich, warum der Begriff der Agency, wie immer er konzipiert sein mag, für die Kindheitsforschung unverzichtbar ist und dass er für viele verschiedene Anwendungen offen ist. Vielleicht ist es nicht zuletzt die relative Unbestimmtheit des Begriffs, die von den subjektiven Fähigkeiten über die Ermöglichungsbedingungen bis zum manifesten Handeln reicht, die ihn so attraktiv macht.

Der Band schärft den Blick für die Notwendigkeit, den Begriff der Agency über seine in der Kindheitsforschung weit verbreitete Idealisierung und Essenzialisierung hinauszuführen. Der Band zeigt auch vielversprechende Möglichkeiten, wie der Agency-Begriff durch die Verbindung mit Gesellschaftstheorien (wie der Akteur-Netzwerk-Theorie oder anderen relationalen Handlungstheorien) oder mit philosophischen Konzepten (wie dem Kritischen Realismus), die in den Kindheitswissenschaften bislang wenig beachtet wurden, an Profil und Tiefenschärfe gewinnen kann.

Allerdings sollte dabei der gesellschaftskritische Impuls nicht aus dem Blick geraten, der bei der Einführung des Agency-Begriffs in den New Childhood Studies mitgedacht war. Manche Beiträge in dem Band lassen diesen Eindruck entstehen, etwa wenn die Akteur-Netzwerk-Theorie selbst nicht kritisch in dieser Hinsicht hinterfragt wird, oder wenn das Agency-Konzept umstandslos dafür in Anspruch genommen wird, die aus dem Handeln von Kindern geschlossene Reproduktion sozialer Ungleichheit einfach nur zu konstatieren. So erfreulich die Einbeziehung transnationaler Aspekte und von Erfahrungen aus dem Globalen Süden ist, auch in dieser Hinsicht wäre es wünschenswert und sicher möglich gewesen, individuelle und kollektive Formen der Agency von Kindern ausfindig zu machen und zu reflektieren, die aus einer modernitätstheoretischen Perspektive eher verborgen bleiben. Hier könnten postkoloniale Theorien oder die Subaltern Studies für die Fundierung und Differenzierung des Agency-Konzepts auch in der Kindheitsforschung manche Anregung bieten.

Der Sammelband vermittelt eine Fülle von Anregungen, wie das Agency-Konzept in der Kindheitsforschung zum Tragen kommen kann und hierfür konzeptionell präzisiert und differenziert werden muss.

Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
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Es gibt 104 Rezensionen von Manfred Liebel.

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Zitiervorschlag
Manfred Liebel. Rezension vom 22.02.2017 zu: Florian Esser, Meike S. Baader, Tanja Betz, Beatrice Hungerland (Hrsg.): Reconceptualising Agency and Childhood. Routledge (New York) 2016. ISBN 978-1-138-85419-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21678.php, Datum des Zugriffs 15.01.2025.


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