Nausikaa Schirilla: Migration und Flucht
Rezensiert von Dr. Monika Pfaller-Rott, 23.02.2017
Nausikaa Schirilla: Migration und Flucht. Orientierungswissen für die Soziale Arbeit. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2016. 263 Seiten. ISBN 978-3-17-023371-3. 34,00 EUR.
Thema
Deutschland ist unumstritten ein Einwanderungsland, der Alltag zahlreicher Sozialarbeiter ist von Flucht und Migration gekennzeichnet. Diese Phänomene sind mit zahlreichen Herausforderungen und Auswirkungen für die Majorität, aber auch Minoritäten verbunden. Im Zuge zunehmender globaler Konflikte und der daraus resultierenden Flüchtlingsströme befanden sich Ende des Jahres 2015 weltweit erstmals mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht (UNHCR, 2016). Marginalisierung im Kontext von Flucht und Migration fordert Sozialarbeiter in diesem Handlungsfeld heraus, theoriegeleitet unter Berücksichtigung ethischer Fragen Interventionsformen zu diskutieren.
Autorin
Prof. Dr. habil. Nausikaa Schirilla ist seit 2005 Professorin für Soziale Arbeit, Migration und Interkulturelle Kompetenz an der Katholischen Hochschule Freiburg.
Aufbau…
Die Publikation (insgesamt 263 Seiten) besteht aus sechs Kapitel:
- Gegenstandsbereich des Handlungsfeldes Migration und Soziale Arbeit: Einwanderungsland Deutschland
- Entwicklung des Handlungsfeldes
- Interventionsformen – Soziale Arbeit und Migration
- Aktuelle fachliche Entwicklungen
- Handlungsfeldspezifische Anschlussstellen zur Sozialarbeitswissenschaft
- Ausblick: Ethische Perspektiven des Handlungsfeldes
…und Inhalt
„Dieser Band versucht eine Quadratur des Kreises“ (S. 11); damit drückt die Autorin zu Beginn die Komplexität des Themas mit ihren konträren Positionen aus. Die Diskussion über Migration als Querschnittthema versus eigenes Handlungsfeld zeigt ebenso die heterogene Sichtweise zu dieser Thematik wie die Begrifflichkeit in diesem Handlungsfeld (Interkulturelle Soziale Arbeit, Migrationssozialarbeit, Migrationspädagogik Soziale Arbeit in der Einwanderungsgesellschaft, Diversity) und die unterschiedlichen Methoden sowie gesetzlichen Grundlagen.
Der I. Teil Gegenstandsbereich des Handlungsfeldes Migration und Soziale Arbeit: Einwanderungsland Deutschland beginnt mit Allgemeinen Grundlagen zur Migration in Deutschland. Im Anschluss an den historischen Abriss der Zuwanderung und einer Beschreibung der heterogenen Migrantengruppen sowie der spezifischen juristischen Gegebenheiten für diese Personengruppen wird die soziale Situation (besser soziale Situationen A.d.R.) am Beispiel von Arbeit und Einkommenssituation, sozioökonomischen Situationen, Wohnen, Gesundheit und Bildung dargestellt. Diese Darstellung erfolgt mit dem notwendigen Hinweis, dass sich die soziale Situation keinesfalls durch das Herkunftsland oder ethnische Zugehörigkeiten charakterisieren lässt, wie beispielsweise die Sinus-Milieustudie Migration (Sinus Sociovision, 2007) oder die Repräsentativuntersuchung von Becker, 2009 belegt. Anhand des zweiten Integrations-Indikatoren-Berichts der Bundesregierung wird die Situation der Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund Indikatoren-geleitet verglichen, Fortschritte gemessen etc., nicht ohne darauf hinzuweisen, dass es Probleme bereitet, „die eingewanderte Bevölkerung generell zu kennzeichnen und lebensweltliche Gemeinsamkeiten zu beschreiben“ (55). In Kapitel drei Politik und Gesellschaft werden Probleme durch Diskriminierung und Rassismus aufgezeigt und die politische Verantwortung (Antidiskriminierungspolitik, Menschenrechtsschutz) anhand internationaler Konventionen und Richtlinien gegen Rassismus und Diskriminierung dargestellt. Abschließend diskutiert die Autorin relevante Terminologien rund um Migration und Integration (Partizipation, Gender, Assimilation).
Im II. Teil des Buches beschreibt Schirilla die Entwicklung des Handlungsfeldes. Relevante historische Aspekte des Handlungsfeldes verdeutlichen die unterschiedlichen Phasen der Problemdarstellungen und daraus resultierenden diskontinuierlichen theoretischen Entwicklungen, begonnen bei den „heimatlosen Ausländern“ – mit einem kurzen Exkurs in die Geschichte der Sozialen Arbeit, um deren Logiken darzustellen. Entwicklungen der Migrationsberatung werden dargestellt von den Ausländersozialdiensten über die Migrations(Fach)Dienste bis zur Rezeption des Diversitätsbegriffs. In einem weiteren Kapitel werden die Entwicklungen des Handlungsfeldes in Bezug auf theoretische Zugänge fokussiert, z.B. Fremdheit/Migration und Kultur, Multikulturalismus-Debatte einschließlich der kritischen Auseinandersetzung. Anschließend untersuchte sie Migration und demokratische Rechte, insbesondere der Freiheit der Religionsausübung als Menschenrecht bzw. Grundrecht. Ebenso legt die Autorin Wert auf das in diesem Kontext – nicht nur für Jugendliche relevante – Thema „Identitäten“ und der Wiederkehr des Ethischen.
Es folgt der III. Teil des Buches mit Interventionsformen der Sozialen Arbeit und Migration. Die Folgen der bisher dargestellten historischen und theoretischen Zugänge werden im Kapitel Migration als Herausforderung für Soziale Arbeit für dieses Handlungsfeld konkretisiert, um Interventionen der Sozialen Arbeit und Kompetenzen der Sozialarbeiter zu durchleuchten. Dieses Kapitel ist aufgeteilt in Herausforderungen für die Mehrheitsgesellschaft (rassismuskritische Bildung, interkulturelle Bildung, diversitätsbewusste Soziale Arbeit) und Soziale Arbeit mit Migranten selbst. Letzteres beschreibt die migrationsspezifischen Interventionsformen (Migrationsberatung, Jugendmigrationsdienste, Flüchtlings-Sozialarbeit, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Arbeit mit Illegalisierten) sowie solchen, die auf Felder der Sozialen Arbeit insgesamt treffen (interkulturelle Öffnung und Diversity in ausgewählten Arbeitsfeldern). Eng verknüpft mit dieser Thematik ist die Menschenrechtsperspektive. Ausgewählte Methoden und Konzepte (z.B. Kultursensible Beratung, Konzept der Elternarbeit mit Migranten, Dolmetschern) und Gedanken zu Diversity-Management runden das Kapitel ab.
Der IV. Teil der Publikation beschäftigt sich mit ausgewählten relevanten aktuellen fachlichen Entwicklungen, z.B. die Ehrenamtsdebatte/Debatte um bürgerschaftliches Engagement (Rolle, Förderung etc. anhand zahlreicher relevanter Studien), die Inklusions- und Ressourcendebatte (Migranten als Problem oder Ressource? Initiative einer „Willkommenskultur für Flüchtlinge“ usw.). All diese Entwicklungen im Handlungsfeld selbst „stellen die Grundkontroverse zwischen Interkulturalität/Migrationssensibilität und Diversity-Ansätzen dar“ (219) und führen im Bereich der Migration zu zahlreichen Herausforderungen für Kommune und Quartier.
Kapitel V fokussiert handlungsfeldspezifische Anschlussstellen zur Sozialarbeitswissenschaft. Soziale Arbeit als Disziplin setzt sich mit ihrem eigenen Wissenschaftsverständnis auseinander und erhält bei Entwicklungen des Arbeitsfeldes Flucht und Migration paradigmatische Impulse für Theorien der Sozialen Arbeit / ihre eigene Disziplin. Dies erfolgt im Bereich der Sozialen Arbeit mit der Darstellung des Differenzbegriffs und des Gouvernementalitätsansatzes auch als Grundlage für das Konzept der Transnationalität anhand aktueller Fachdiskussionen. Der Differenzbegriff als zentraler Aspekt im Handlungsfeld Migration spielt schon seit der Entwicklung dieser Disziplin eine relevante Rolle bzw. wird als Fundament gesehen. Im sozialpolitischen Bereich relevant ist der Gouvernementalitätsansatz, der „als Analyse einer Herrschaftstechnik, die vor allem in der Individualisierung sozialer Probleme und der Überbetonung aktiver Eigenleistungen und Hilfesprozessen besteht“ (237). Im dargestellten Transnationalitätsbegriff und der damit verbundenen Transmigrationsdebatte sieht die Autorin zahlreiche Anschlussstellen für Forschung und Theorieentwicklung auf internationaler Ebene und plädiert dafür, „methodischen Nationalismus“ (238) zu überwinden. Das Konzept der sozialen Entwicklung versucht eine Brücke zu schlagen zwischen Entwicklungspolitik und Sozialer Arbeit, da die sozialen Situationen des globalen Nordens und des Südens ähnliche Herausforderungen (z.B. Überwindung von Benachteiligung und Elend, Hilfe zur Selbsthilfe, Ressourcenorientierung, Abbau von Diskriminierung vgl. Cox/Pawer 2006) bestehen. Als Maßnahmen zur Prävention und Überwindung von Armut werden finanzielle Transferleistungen der Migranten in ihre Heimatländer gesehen. Migration als transnationales Phänomen stellt die Autorin letztendlich noch anhand des Beispiels transnationale Mutterschaft dar, einschließlich des Versuchs von Müttern, aus der Ferne ihre Funktion aufrechtzuerhalten. Das Kapitel endet mit dem Hinweis von Peter Erath, 2004, dass sich Sozialarbeitswissenschaft als eigenständige, multireferentielle Wissenschaft nur als Internationale entfalten kann.
Im Teil VI (Ausblick: Ethische Perspektiven des Handlungsfeldes) werden abschließend ethische Debatten zu Flucht und Migration anhand zahlreicher offener ethischer Fragen dargestellt und deren Perspektiven für eine Ethik der Sozialen Arbeit diskutiert. Debatten um Menschenrechte, Fragen international relevanter moralischer Verpflichtungen (Stichwort Flüchtlingsschutz), Bildungsgerechtigkeit, Pflegemigration, Religionen der Migranten, zwingt in diesem Handlungsfeld tätigen Sozialarbeitern zum Weiterdenken.
Diskussion
Die vorliegende Publikation gibt eine wirklich gelungene breitgefächerte Einführung in das Handlungsfeld Migration unter Berücksichtigung aktueller Diskurse in diesem Arbeitsfeld für Sozialarbeiter. Die zahlreichen Erfahrungen der Autorin in diesem Feld zeigen sich nicht nur durch zahlreiche Fallbeispiele, die einen konkreten Praxis-Transfer herstellen, die Lebenswelten näher bringen und zur Diskussion einladen. Eine Bereicherung sind neben den Zusammenfassungen am Ende des Kapitels weiterführende Literaturhinweise sowie Hinweise auf Projekte bzw. Kampagnen – insbesondere für Studierende sowie Sozialarbeiter in diesem Aufgabenfeld. Die vorliegende Publikation ist durch eine stets kritische Auseinandersetzung mit dieser Thematik gekennzeichnet, einschließlich kontroverser Diskussionen, zahlreicher relevanter Studien und unterschiedlichen Theorien. Vereinzelte Graphiken veranschaulichen die Inhalte. Die Autorin bezieht sich beispielsweise auf den von der Bundesregierung für Migration und Flüchtlinge herausgegebenen Integrations-Indikatoren-Bericht.
Die überwiegend theoriegeleitete Publikation weist ebenso Bezüge zu einigen konkreten Methoden auf; nicht nur deshalb kann das Buch zu Recht als für Theorie und Praxis geeignet bezeichnet werden. Die gelungene Einführung ist ein Muss für Studierende und im Feld der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen und Migranten tätigen Sozialarbeitern etc. Bei einigen Kapiteln hätte man sich eine tiefere Auseinandersetzung gewünscht, doch dies ist ein unerfüllbares Dilemma eines Einführungsbuches (siehe Titel: Orientierungswissen), das Themen nur anschneiden kann.
Fazit
Die vorliegende Publikation von Nausikaa Schirilla zum Thema „Migration und Flucht“ gibt – wie im zweiten Teil des Titels beschrieben – ein Orientierungswissen für die Soziale Arbeit. Das Buch eignet sich hervorragend für Studium- bzw. Berufsanfänger in diesem Bereich, um in den Gegenstand des Handlungsfeldes „Migration und Soziale Arbeit“ einzutauchen, sich mit theoretischen Zugängen, Interventionsformen sowie fachlichen Entwicklungen anhand unterschiedlicher konkreter Arbeits- und Handlungsfeldern auseinander zu setzen. Zahlreiche grundlegend relevante Aspekte zum Themenbereich „Flucht und Migration“, wie beispielsweise Ehrenamt, Inklusion, Gouvernementalität, Transnationalität, werden kurz, prägnant und anschaulich erläutert.
Rezension von
Dr. Monika Pfaller-Rott
Akad. Oberrätin, Dipl. Sozialpäd., Dipl. Pädagogik, Dipl. Management, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
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Zitiervorschlag
Monika Pfaller-Rott. Rezension vom 23.02.2017 zu:
Nausikaa Schirilla: Migration und Flucht. Orientierungswissen für die Soziale Arbeit. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2016.
ISBN 978-3-17-023371-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21682.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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