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Volker Roelcke, Etienne Lepicard et al. (Hrsg.): Silence, scapegoats, self-reflection

Rezensiert von Prof. Dr. Annette Eberle, 17.10.2017

Cover Volker Roelcke, Etienne Lepicard et al. (Hrsg.): Silence, scapegoats, self-reflection ISBN 978-3-8471-0365-3

Volker Roelcke, Etienne Lepicard, Sascha Topp (Hrsg.): Silence, scapegoats, self-reflection. The shadow of nazi medical crimes on medicine and bioethics. V&R unipress (Göttingen) 2014. 379 Seiten. ISBN 978-3-8471-0365-3. D: 44,99 EUR, A: 46,30 EUR, CH: 56,50 sFr.

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Thema

Der Sammelband entstand im Umfeld der Projekte zur Nachgeschichte der NS-Medizin am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin in Gießen und geht aufgrund seiner internationalen Ausrichtung neue Wege. Im Fokus steht erstmals eine transnationale Perspektive bei der Auseinandersetzung mit den Folgen der Verbrechen der NS-Medizin innerhalb der Profession seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die einzelnen Beiträge aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Israel analysieren dabei insbesondere deren Niederschlag als Wertkonflikte in bio-ethischen Debatten.

Herausgeber

Die Herausgeber Volker Roelcke, Etienne Lepicard und Sascha Topp sind ausgewiesene Autoren in dem Feld.

Volker Roelcke, seit dem Jahr 2003 Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin in Gießen initiierte wichtige Forschungsprojekte zur Aufarbeitung der Rolle der Medizin im Nationalsozialismus und ihre Nachgeschichte.

Etienne Lepicards lehrt am Ashkelon Academic College und ist Mitglied des Bioethikrates in Israel. Sascha Topp, aktuell am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (Berlin), war von 2006 bis 2014 als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts in Gießen eingebunden in DFG Projekte zur Sozial- und Kulturgeschichte der Medizin im 20. Jahrhundert.

Aufbau

Der Aufbau des Bandes orientiert sich an den zeithistorischen Entwicklungslinien beginnend bei dem Nürnberger Ärzteprozess 1947 bis zu den bioethischen Debatten zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Einleitung der Herausgeber folgen fünf Abschnitte, die jeweils die maßgebenden Perspektiven und Akteure fokussieren:

  1. die juristische Aufarbeitung und den von ihr gesetzten Phasen und Standards,
  2. das Gedenken an die Opfer und den damit verbundenen Anliegen,
  3. die Positionen der Professionsvertretungen,
  4. die Diskurse um Folgerungen für Profession und Ethik in der Medizin, und, abschließend,
  5. Stimmen von engagierten Akteuren der Aufarbeitung.

Inhalt

Die Einleitung (S. 11-25) geht weit über die Funktion eines Überblicks zu Aufbau und Themen des Bandes hinaus. Unter der Überschrift „Wertekonflikte in der Medizin und der Bioethik“ entwickeln die Herausgeber den Referenzrahmen für die Befunde der einzelnen Beiträge. Angesichts des bisherigen Standes historischer Aufarbeitung und öffentlicher Debatten seit Kriegsende ergibt sich Ihrer Analyse nach der Widerspruch, dass einerseits die Dimension der Verbrechen grundlegend behandelt wurden, andererseits aber beharrlich Mythen kursieren, die die Verantwortungszusammenhänge innerhalb der deutschen Ärzteschaft verharmlosen und damit auch einer weitergehenden Analyse der Folgen für ärztliches Handeln und Ethik im Wege stehen. Dabei beherrschten seit Kriegsende vor allem drei Paradigmen den Diskurs der Aufarbeitung der Medizinverbrechen: Das isolationistische Paradigma wurde von den Tätern selbst noch geprägt. Es sah die NS-Zeit als isoliertes historisches Phänomen an, ohne Kontinuitätslinien, sowohl zu den Entwicklungen im Kaiserreich und der Weimarer Republik vorher als auch ohne Weiterwirken nach 1945. Dementsprechend wurde das Verhalten derjenigen wenigen, die als Verantwortliche für die Medizinverbrechen identifiziert worden waren, als das von der NS-Bewegung verführten Einzeltätern ohne Beziehung zur Mehrheit der Profession bewertet. Diese Sicht wurde Jahrzehnte später vom Kontinuitätsparadigma abgelöst, das die Kontinuitäten über die Grenzen von 1933 und 1945 hinaus untersucht. Im Fokus stehen dabei Kontinuitäten hinsichtlich medizinischer Karrieren, mentalen Einstellungen und Institutionszusammenhängen. Dagegen geht das komplexe Paradigma noch weiter, da es regionale Besonderheiten berücksichtigt, um dezentrale Handlungsspielräume und professionsspezifische Traditionslinien in der Interaktion mit dem NS-Regime zu untersuchen. Dabei liegt der Fokus auf die Eigenverantwortung der Ärzteschaft, insbesondere auch hinsichtlich der Auseinandersetzung mit ihrer Rolle nach 1945 betrifft.

In welcher Weise sich diese Paradigma jeweils in den Positionen über ethische Grundfragen und Standards direkt oder indirekt niederschlugen, wird in den folgenden Kapiteln aus unterschiedlicher Perspektive beleuchtet. Interessant ist dass, wenn ethische Standards als Folgen der NS-Verbrechen diskutiert und formuliert wurden, dies noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Enthüllungen geschah und zwar von Seiten der Alliierten und der Verfolgten. So arbeitet Paul Weindling im ersten Kapitel über die Nachkriegsprozesse mit seinem Beitrag über das Erbe der Nürnberger Ärzteprozesse heraus, dass die mit der Urteilsbegründung im Jahr 1947 formulierten zehn ethischen Prinzipien ärztlichen Handelns bei Medizinversuchen mit Menschen, später bekannt als der „Nürnberger Kodex“, als erstes Konzept eines „enlightened consent“ (S. 36) angesehen werden können. Denn mit dem Kodex gelang es, Maßstäbe für eine Auseinandersetzung mit den Medizinverbrechen zu setzen, die die historische Aufarbeitung mit der Einforderung ethischer Standards für gegenwärtiges und zukünftiges ärztliches Handeln verbanden. Der Kodex war auch leitend für die Einnahme einer empathischen Position gegenüber den Opfern, die dann einen Strang der später beginnenden historisch wissenschaftlichen Aufarbeitung begründete. Nach Etienne Lepicard, der den Niederschlag des Nürnberger Ärzteprozesse innerhalb der führenden nationalen medizinischen Gesellschaften in Frankreich und Israel untersucht, waren es vor allem verfolgte Ärzten und Überlebende der Shoa die zwei wichtige Initiativen bewirkten. Im Jahr 1947 anlässlich der Tagung des Weltmedizinischen Gesellschaft in Paris wurde öffentlich und erstmal eine Entschuldigung seitens der verantwortlichen Ärzte wie auch der deutschen Ärzteschaft gegenüber den Opfern der Medizinverbrechen eingefordert. Zu Beginn der 50er Jahre führte kam es dann zur „Jerusalemer Erklärung zur Medizinischen Ethik“ (1952), verfasst im Namen des Zweiten Weltkongresses Jüdischer Ärzte (S. 80). Dagegen belegt Annette Weinke die für beide deutschen Staaten durchgehend milde bis gar sich der Strafverfolgung der Medizinverbrechen verweigernde Justiz als Instrument einer Vergangenheitspolitik, die auch in der deutschen Ärzteschaft vorherrschte und lange in der Wertetradition der Täter verharrte.

Die Perspektive der Verfolgten und Opfer, die leitend für das frühe Einfordern von Aufarbeitung und ethischer Standards war, wird im zweiten Kapitel noch näher beleuchtet. Helmut Bader, Sohn eines Opfers der nationalsozialistischen Krankenmorde, gibt einen persönlich eindrückliche Einblicke in die Biografie seines Vaters und die Schwierigkeiten, mit denen sich die Familie konfrontiert sah, da das Unrecht an ihm nie anerkannt wurde. Seine Mutter starb im Jahr 1986, ohne dass ihr Bemühen um Wiedergutmachung zum Erfolg geführt hätte. Den Kampf aufgegeben hatte sie bereits 1958 nach einem abschlägigen Bescheid des Baden-Württembergischen Justizministeriums, ihr eine Entschädigung für den Verlust des Unterhaltes ihres Mannes zu gewähren. Was sie aufgeben ließ, war die zynische Begründung des Ministeriums auf der Grundlage des Gutachtens des früheren Arztes ihres Mannes: „Wenn auch nach der Auskunft des Psychiatrischen Landeskrankenhauses Schussenried die Möglichkeit einer zumindest vorübergehenden Besserung des Gesundheitszustandes bestanden haben mag, genügt diese Möglichkeit nicht […]. Es muß vielmehr eine Wahrscheinlichkeit dazu vorliegen. Eine solche Wahrscheinlichkeit, die zwischen der Möglichkeit und der praktischen Gewißheit liegt, konnte jedoch nicht festgestellt werden“ (S. 112). Diese Familiengeschichte steht beispielhaft für Tausende von Angehörigen der Opfer der Medizinverbrechen, denen das Angedenken aufgrund des ungelösten Wertekonfliktes zwischen der medizinischen Nützlichkeitsdoktrin der NS-Zeit und den Menschenrechten verpflichteten humanistischen Prinzipien verweigert wurde. Welche Schritte notwendig waren, den Opfern eine sehr späte politische und gesellschaftliche Würdigung und Anerkennung zu erreichen, legt Rolf Surmann in seinem Beitrag über die westdeutsche Politik der „Wiedergutmachung“ für die Opfer der Zwangssterilisation und „Euthanasie“ dar. Offen bleibt bis heute die Bewertung der den Medizinverbrechen zugrundeliegende Nützlichkeitsdoktrin als sozial rassistische Unrechtsideologie und damit als inhärenter Bestandteil der NS-Ideologie. (S. 127).

Ob und in welcher Weise sich die Konflikte zwischen der Deutungstradition der Täter und der Opferperspektive auch in den Diskursen medizinischer Gesellschaften in Deutschland, Frankreich und Israel widerspiegelten, wird im dritten Kapitel „Professional Organizations“ nachgegangen. Gerrit Hohendorf seziert in seinem Beitrag über die Sewering Affäre die Vorgänge, die zum Rücktritt der Kandidatur von Dr. Hans Joachim Sewering (1916-2010) für das Amt des Präsidenten des Weltärztebundes geführt hatten, als Wertekonflikt in der Haltung gegenüber den Opfern der NS-Medizinverbrechen. Zu Fall gebracht hatte ihn der internationale Protest, angeführt von Dr. Michael Franzblau, Psychiater aus Los Angelas, der erfolglos versuchte, ihn als „Nazidoktor“ und Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen. Sewering, von 1955 bis 1991 sowohl Präsident der Bayerischen Landesärztekammer als auch Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer, praktizierte als Assistenzarzt in der Pflegeanstalt Schönbrunn (1942-1945) und war dort verantwortlich für Überweisungen von Patienten in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, die dann dort den Krankenmorden zum Opfer fielen. Er selbst bestritt bis zuletzt, von den Krankenmorden in Eglfing-Haar gewusst zu haben, was angesichts des aktuellen Forschungsstandes sehr unwahrscheinlich ist. Zudem schob er die Verantwortung auf die Ordensschwestern in Schönbrunn ab, die für die Pflege zuständig waren. Dies bewog allerdings das Bischöfliche Ordinariat von München-Freising, zuständig für die katholische Einrichtung Schönbrunn, die bisherige Verteidigungsstrategie gegenüber Sewering aufzugeben und sich schützend vor die Schwestern zu stellen (S. 140). Sewering trat letztlich von der Kandidatur zurück. Wie sehr der internationale Einfluss notwendig war, um Ende der 1990er Jahre einen Wandel in der Haltung deutscher Ärzteorganisationen gegenüber den NS-Medizinverbrechen anzustoßen, wird auch im Beitrag von Sascha Topp über den Umgang der „Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin“ (DGKJ) deutlich. Dieser Prozess erforderte allerdings ebenso die historische Aufarbeitung und die diese begleitende Debatte um Wertekonflikte. Wegweisend dafür war die Dissertation von Eduard Seidler über die deutsche Pädiatrie zwischen 1918 bis 1945 (S. 177). Interessant ist, dass Donnah Evleth in ihrem folgenden Beitrag über die Vergangenheit der Französischen Ärzteorganisation „L´ Ordre des Médecins“ fast zeitglich den Beginn einer Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung in die Maßnahmen des Vichy Regime und den tiefliegenden Antisemitismus feststellte. Rakefet Zalashik dagegen terminiert den Beginn für das Beispiel Israel sehr früh, unterscheidet allerdings zwei Phasen der Auseinandersetzung auf der Basis von Veröffentlichungen jüdischer Ärzte: eine frühe sehr aktive Phase der Auseinandersetzung noch im Mandatsgebiet (1942-48), die unmittelbar nach Bekanntwerden der Krankenmorde einsetzt und bis zur Gründung des Staates Israel andauerte. Diese wurde von Ärzten geführt, die noch unter dem unmittelbaren Eindrücken ihrer Erfahrungen mit dem NS-Regime geprägt waren. Mit Beginn der Gründung des Staates Israel folgte eine zweite lange Phase bis Ende der 90er Jahre, die vom Schweigen über diese Thematik geprägt war. Erst, als die NS-Medizinverbrechen auch Lehrgegenstand der medizinischen Ausbildung wurde, begann eine erneute Thematisierung, die Bezüge zu medizinischen ethischen Prinzipien in Israel herstellte. Die Autorin führt dies auf ein wachsendes Bewusstsein innerhalb der israelischen Gesellschaft gegenüber humanistischen Werten in der Medizin zurück, angestoßen durch bioethische Debatten. Dies habe auch zu einem Wandel in der bislang historisch dominierenden Sicht auf die NS-Medizinverbrechen geführt. (S. 210).

Dieser Prozess der Anwendung der historischen Erfahrung auf aktuelle (bio)ethische Diskurse und dem damit verbundenen Wandel bislang prägender Narrative hinsichtlich der Medizinverbrechen ist Thema des vierten Abschnittes „Past and Present: Debates on Implication for Professionalism and Ethics in Medicine“. James Kennedy untersucht den sich veränderten Diskurs in den Niederlanden über die „Euthanasie“, angestoßen durch das im Jahr 1969 veröffentlichte Buch des Psychologen und Psychiaters Jan Hendrik van den Berg mit dem Titel „Medizinische Macht und medizinische Ethik“. Der Autor artikulierte das in der Öffentlichkeit virulente Unbehagen gegenüber den wachsenden Möglichkeiten der Medizin, die humanistische Prinzipien zu verdrängen und das Selbstbestimmungsrecht der Patienten zu verletzen schienen. In der folgenden öffentlichen Debatte um die Legalisierung von „Euthanasie“ als individuelles Bestimmungsrecht, führend dabei die „Dutch Association for Voluntary Euthanasie“ (NVVE) kam es zu einem Wandel in der öffentlichen Akzeptanz gegenüber einer Wertehierarchie zur Bestimmung, ab wann „Euthanasie“ als gerechtfertigt zu gelten habe. Als Schlüsselkategorie galt „sinnvoll“ (meaningful). Auch die Deutung der historischen Erfahrung der Medizinverbrechen veränderte sich. Betont wurde die qualitative Differenz zwischen einer „Euthanasie“, die im Selbstbestimmungsrecht des Patienten wurzele und der NS-„Euthanasie“, bei der der Staat und die ärztliche Profession dessen Persönlichkeitsrechte aufs Grausamste verletzten (S. 224). Das stützende Narrativ dazu war, die niederländische Gesellschaft hätte nichts mit dem NS-Regime gemein, sondern sei dessen Opfer gewesen. Auch im Beitrag von Isabelle von Bueltzinsloewen über die Erinnerung an das Hungersterben in der französischen Psychiatrie währen der Besatzungszeit zwischen 1941-45 geht es um den Zusammenhang zwischen historischem Erinnerungsnarrativ und der Wertedebatte über gegenwärtige Versorgungsmissstände in den Psychiatrien. Die Autorin geht der Frage nach, warum sich in der französischen Öffentlichkeit so hartnäckig die „gentle extermination thesis“ über das Hungersterben in der Psychiatrie im Zweiten Weltkrieg halte und immer wieder durch neue Debatten befördert werde, obwohl diese vor allem auch durch ihre Arbeiten überzeugend widerlegt werden konnte. Eine mögliche Antwort sei, dass dieses historisch unhaltbare Narrativ als Instrument für die Debatte um gegenwärtige Missstände in der Psychiatrie und Pflege diene, die als Abkehr der Werte von Humanität und Solidarität gewertet würden. Abschließend untersucht Volker Roelcke die „Zurückhaltung“ der deutschen Bundesärztekammer, sich der Medizinverbrechen der deutschen Ärzteschaft in der NS-Zeit zu stellen und aufzuarbeiten. Diese Haltung untersucht er speziell für die Zeit ab den 1980er Jahren, als in der Bundesrepublik die Thematisierung der NS-Zeit sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Historiographie einen Schub erfuhr, auch hinsichtlich der Aufarbeitung der NS-Gesundheitspolitik und der Rolle der Medizin. Der Autor arbeitet heraus, dass diese Zurückhaltung als Wertekonflikt zu werten sei, in dem die Loyalität gegenüber dem Ärztestand eine Empathie mit den Opfern verhinderte. Dass es in den Folgejahrzehnten vermehrt Initiativen zur Aufarbeitung gegeben habe und im Jahr 2012 letztlich zu der – späten – „Nürnberger Erklärung“ im Jahr 2012 gekommen sei, die eine Verurteilung der Medizinverbrechen und die Verantwortung der deutschen Ärzteschaft formulierte, sei letztlich dem Engagement einer kritischen Minderheit von Medizinhistorikern zu verdanken, die immer auch dem Vorwurf der Nestbeschmutzung ausgesetzt gewesen waren.

Wichtige ergänzende und abschließende Ausblicke geben die beiden Beiträge zum letzten Kapitel Dedicted Voices. William Seidelman erläutert als zeitgenössischer Akteur die Hintergründe der Affäre Sewering und die sich daraus ableitenden Wertekonflikte in den Positionen von Weltverband und Deutscher Ärztekammer. Michael Wunder, langjähriges Mitglied des „Arbeitskreises zur Erforschung der NS-Euthanasie und Zwangssterilisation“ wie auch des „Deutschen Ethikrates“, untersucht normative Zusammenhänge in den historischen und bioethischen Debatten zur „Euthanasie“ in Deutschland und den Niederlanden.

Diskussion

Der Band greift ausgehend von der deutschen Medizingeschichte des 20. Jahrhunderts mit dem vergleichenden internationalen Ansatz eine wichtige Forschungslücke auf. Denn ausgenommen der Thematik der unmittelbaren Nachkriegsprozesse werden in den bisher vorliegenden Studien zur Nachgeschichte der Medizinverbrechen der NS-Zeit und ihrer Implikationen für bioethische Diskurse vergleichbare Entwicklungen in anderen nationalen Kontexten oder innerhalb internationale Ärzte und Bioethik-Gesellschaften nicht aufgegriffen. Vor allem die einzelnen interessanten Befunde des Bandes über die Zusammenhänge zwischen erinnerungskultureller Narrative über NS-Zeit/Zweiter Weltkrieg und der Narrative, die sich aus der binnenprofessionellen Auseinandersetzung über Medizinverbrechen und Ethik erklären, bestätigen diese Herangehensweise. Denn nur mittels des transnationalen Vergleichs lassen sich universelle oder globale bioethische Wertedebatten als historisch bedingt untersuchen. Umgekehrt zeigt dieser Ansatz auch unmissverständlich auf, dass die Geschichte der Medizinverbrechen in der NS-Zeit und im Zweiten Weltkrieg – wie auch ihre Nachgeschichte – eine transnationale ist. Dass hier noch wichtige nationale Perspektiven fehlen, insbesondere diejenigen aus Ostmitteleuropa, liegt daran, dass der internationale Fachdiskurs darüber am Anfang steht. Dank des Bandes ist ein erster Schritt dazu erfolgt.

Fazit

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Medizinverbrechen während der NS Zeit in Deutschland wie auch im internationalen Kontext Gegenstand ehr ambivalenter Debatten. Den unmittelbaren Nachkriegsprozessen, insbesondere dem Nürnberger Ärzteprozess folgte eine Periode des Schweigens, die dann vor allem auf Initiative der Opfer, ihrer Angehöriger, wie auch seitens engagierter Medizinhistoriker oder berufsständischer Organisationen durchbrochen wurde, um das Geschehene aufzuarbeiten. So entstanden in ihrer Bewertung der Medizinverbrechen und ihrer Folgen sehr unterschiedliche Narrative, die teils Identität stabilisierende Funktionen für die Profession selbst erfüllen sollten, demgegenüber aber auch kritische, den Status-Quo de-stabilisierende Funktionen innehatten. In aktuellen internationalen Debatten über medizinische Ethik gibt es zahlreiche Bezüge zu NS-Medizinverbrechen, insbesondere hinsichtlich der Medizinexperimente an Menschen, der „Euthanasie“ und der Zwangssterilisation. Der vorliegende Band untersucht diese Narrative über die NS-Medizinverbrechen, ihre Historizität in Bezug auf den einzelnen Phasen der Medizin in der Nachkriegszeit wie auch in aktuellen internationalen bioethischen Debatten.

Rezension von
Prof. Dr. Annette Eberle
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Es gibt 4 Rezensionen von Annette Eberle.

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ISSN 2190-9245