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Ursula Böing, Andreas Köpfer (Hrsg.): Be-Hinderung der Teilhabe

Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Jödecke, 18.04.2017

Cover Ursula Böing, Andreas Köpfer (Hrsg.): Be-Hinderung der Teilhabe ISBN 978-3-7815-2124-7

Ursula Böing, Andreas Köpfer (Hrsg.): Be-Hinderung der Teilhabe. Soziale, politische und institutionelle Herausforderungen inklusiver Bildungsräume. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2016. 223 Seiten. ISBN 978-3-7815-2124-7. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR.

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Thema

Unter „Dispositiv“ verstand der französische Philosoph Michel Foucault „(…) ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft ist“ (zitiert nach Ruoff, Michael, 2013: Foucault- Lexikon. W. Fink, Paderborn, S.109).

Nimmt man den vorliegenden Band „Be- Hinderung der Teilhabe“ zur Hand, so sieht man sich unversehens in ein solches Netz „dispositiver Elemente“ versetzt. Die Knotenpunkte des Netzes bilden dabei Begriffe und Realitäten wie Inklusion/Exklusion, Behinderung, UN- Behindertenrechtskonvention, Teilhabe (Partizipation), Barriere(-freiheit), Bildung, Raum/Räumlichkeit, Ungewissheit, Transformation, Erziehung-, Bildung und Unterrichtssystem (EBU).

Da mittlerweile davon ausgegangen werden kann, dass das „soziale Modell von Behinderung“ in Bewusstseinsbildungsprozessen des gesellschaftlichen Lebens nachhaltig verankert ist, rücken auch die dispositiven Elemente „Partizipation“ und „Barrierefreiheit“ immer mehr in den Fokus allgemeiner Aufmerksamkeit. Dabei bedeutet Partizipation wesentlich mehr als das bloße Mitmachen von Menschen (mit Beeinträchtigungen) im Alltag. Sie impliziert auch „effektive Einflussnahme, Mitbestimmung und Entscheidungsmacht in der Gesellschaft“ (Flieger 2017). Nicht zuletzt ist auch die UN- Behindertenrechtskonvention ein beredter politischer Ausdruck des „Nichts über uns ohne uns“, mit dem auf völker- und menschenrechtlicher Ebene tiefgreifende (welt-) gesellschaftliche Transformationsprozesse nicht bloß verkündet oder dank ihres „utopischen Potenzials“ inspiriert, sondern auch „tatsächlich“ in Gang gesetzt werden. Es wäre ein Wunder, wenn ein derartiger Wandel nicht auf seinen dialektischen Widerpart stoßen und Gegenkräfte freisetzen würde. Schließlich lässt sich das human being nach wie vor (nicht) auf „verwertbare Arbeitskraft“ und „marktkonforme Potenzialität/ Funktionalität“ reduzieren und leistungsorientiert „selbst ausbeuten“.

Aufbau und Inhalt

Das Bild, das sich um den inklusiven (Bildungs-) Diskurs im Kontext gesellschaftlicher Transformation ergibt, ist ein überaus widersprüchliches und kann leicht zu einem Zerrbild geraten. Die Herausgeber/-innen und Autor/-innen des vorliegenden Bandes wollen im „wilden Changieren zwischen Festhalten und Aufbruch, zwischen Bewahrung und Transformation“ (vgl. den einleitenden Beitrag: Inklusion zwischen Bewahrung und Transformation von Bildungsräumen von Ursula Böing und Andreas Köpfer, S. 8) insbesondere im System Schule einen kulturellen und sozialwissenschaftlichen Standpunkt sichtbar machen, der auf (unzulässige) theoretische Verkürzungen hinweist und diese damit offenlegt. Entlang der „übergeordneten Figur von Raum und Räumlichkeit“ werden von den Autor/-innen, so die Herausgeber, unterschiedliche Zusammenhänge und Teilfelder aus dem Bereich Schule aufgenommen und erschlossen. Wenngleich „die Fokusse verschieden seien, so seien sie jedoch durch ein gemeinsames Grundverständnis gekennzeichnet“, das „Be-Hinderungen von Teilhabe auf systemisch-struktureller, kultureller wie praktischer Ebene, nicht aber in den zu integrierenden Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen selbst verortet“ (S. 9). Folgerichtig gliedert sich des Band in zwei Bereiche.

  1. Während im ersten Teil „kritische Positionen zu aktuellen Reformprozessen im Bildungswesen“ eingenommen werden (S.15f.),
  2. werden im zweiten Teil die „Fokuspunkte auf die Entwicklung teilhabebasierter Bildungsräume“ (S. 147f.) gerichtet.

Der erste Bereich oder Teil enthält die Beiträge:

  • Über die Bedeutung des Menschenrechtsbezugs für ein Inklusionsverständnis mit kritischem Anspruch (Clemens Dannenbeck und Carmen Dorrance)
  • Die Integration der Inklusion in die Segregation (Georg Feuser)
  • Jugend im Spannungsfeld von Teilhabe und Individuation. Biografische und institutionelle Möglichkeitsräume der Inklusion (Merle Hummerich und Jürgen Budde)
  • Umsetzung der Un- Behindertenrechtskonvention im Schulsystem- Segregation und
  • „Integration +“ statt Inklusion? (Andreas Hinz)
  • Doing Spaces- kritische Perspektiven auf die Verräumlichung „inklusiver Bildung“ im Kontext Schule (Andreas Köpfer)
  • Ungewissheit- Implikationen einer nicht ausgrenzenden Pädagogik für Strukturen und Praktiken schulischer Inklusion (Ursula Böing)
  • Inklusion und Leistung- Herausforderungen und Widersprüche inklusiver Schulentwicklung (Tanja Sturm)
  • Vergangenheits- Gegenwarts- und Zukunftsorientierung als „Be-hinderungen“ auf dem Weg zu einem inklusiven Bildungssystem- mit exemplarischen Bezügen zu einer Studie im Land Luxemburg (Kerstin Merz- Atalik und Peter Hudelmaier- Mätzke).

Der zweite Teil versammelt:

  • Der Inclusive Spaces: Ein partizipativer Forschungsansatz zur Erkundung von Schule, Differenz und Raum (Tobias Buchner, Rainer Grubich, Ulrike Fleischanderl, Sylvia Nösterer-Scheiner und Christine Drexler)
  • Unterricht, Lernen und Entwicklung- Herausforderungen mit Blick auf Inklusion (Kerstin Ziemen)
  • Habitussensible Begegnungsräume als Basis inklusionsfördernder Eltern- und Familienbildung (Fabian van Essen)
  • Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit herausfordernden Verhaltensweisen- was wirkt? Vorstellungen einer evidenzbasierten Pädagogik und ihre fachlichen Grenzen (Norbert Störmer)
  • Inklusion und Anerkennung (Hannah Nitschmann)
  • Diagnostik zur Unterstützung schulischer Inklusion- Ansprüche und Widersprüche auf der Suche nach angemessenen Handlungspraktiken (Toni Simon und Ute Geiling)
  • Schulleitungshandeln in inklusionsorientierten Schulentwicklungsprozessen (Benjamin Badstieber und Anna Moldenhauer)

Diskussion

Die Figur des (inklusiven) Raums bietet einen diskursiven Anker, an dem sich Teilhabe und deren Behinderung in allen relevanten, durch die UN Behindertenrechtskonvention unterschiedenen Lebensbereichen (insbesondere dem der Bildung) festmachen lässt. Andreas Köpfer zeigt dies in seinem Beitrag: Doing Spaces- kritische Perspektiven auf die Verräumlichung ‚inklusiver Bildung‘ entlang der Beispiele von Schulassistenz und von Pull- Out Differenzierungsräumen. Wie sollen sich Schüler/-innen in einem kooperativen Prozess, an einem gemeinsamen Thema zusammenschließen, einander helfen und voneinander lernen können, wenn sie beständig an ihrer Schulassistentin kleben, die ggf. im Auftrag der Lehrerin dafür zu sorgen haben, dass separiert konzipierte Abläufe nicht pertubiert werden. Die Schulassistentin würde so für die Schüler/-innen zu einer Kommunikations-, Interaktions- und Kooperationsbarriere, zum Teil eines (exkludierenden) Problems und nicht zu deren (Inklusion fördernden) Lösung.

Inklusive Bildungsräume und das zeigen Erfahrungen gerade auch der Reformpädagogik (flexibel gestalt- und veränderbare Ateliers und Werkstätten; übergreifende Funktionsräume wie Küche, Garten, Kreativräume für künstlerische Medien, Bewegung, Tanz, Information und Kommunikation; Experimentier- und Technikräume) weisen eine andere Qualität auf. Sie laden zu gemeinsam geteilten Aktivitäten ein, besitzen nicht nur „Aufforderungscharakter“ (Kurt Lewin), sondern auch personale Ressourcen mit „Werksinn“ (Erik Erikson) sowie „entwicklungslogischem“ Verständnis (Georg Feuser), die den Gebrauch von (geistigen) Gegenständen, Werkzeugen und Zeichen (Lew Wygotski) sinnstiftend vermitteln können. So werden (inklusive) Sozial- oder Möglichkeitsräume zu Ereignisräumen, die über die transformative Funktion der Sprache nach innen wachsen und auf diesem Wege zu innersprachlichen Ereignisräumen geraten. Auch leere und unverplante Räume bergen Potenzialitäten, die in ihrer Unverstelltheit zu Prozessen, die dem homo ludens „weseneigen“ sind, ermutigen …

Zielgruppen

Lehrende und Studierende der Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Multiplikatorinnen inklusiver Bildungsprozesse, Interessierte an (schulischer) Inklusion

Fazit

Eine Publikation, die über den Tellerrand des pädagogisch „Machbaren“ hinausweist.

Literatur

Ziemen, Kerstin (Hg.), 2017: Lexikon Inklusion. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen- darin die Stichwörter: Partizipation (Flieger), S. 179-180; Partizipative Forschung ( Petra Flieger), S.180-182; Barrierefreiheit (Wilfried Prammer), S. 25-27.

Rezension von
Prof. Dr. Manfred Jödecke
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Zitiervorschlag
Manfred Jödecke. Rezension vom 18.04.2017 zu: Ursula Böing, Andreas Köpfer (Hrsg.): Be-Hinderung der Teilhabe. Soziale, politische und institutionelle Herausforderungen inklusiver Bildungsräume. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2016. ISBN 978-3-7815-2124-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21694.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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