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Barbara Paul, Lüder Tietz (Hrsg.): Queer as ... - kritische Heteronormativitäts­forschung aus interdisziplinärer Perspektive

Rezensiert von Antje Schürmann, 03.03.2017

Cover Barbara Paul, Lüder Tietz (Hrsg.): Queer as ... - kritische Heteronormativitäts­forschung aus interdisziplinärer Perspektive ISBN 978-3-8376-3249-1

Barbara Paul, Lüder Tietz (Hrsg.): Queer as ... - kritische Heteronormativitätsforschung aus interdisziplinärer Perspektive. transcript (Bielefeld) 2016. 228 Seiten. ISBN 978-3-8376-3249-1. D: 29,99 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 36,80 sFr.

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Thema

Das Werk befasst sich mit kritischer Heternormativitätsforschung. Heteronormativität bezeichnet normative Zweigeschlechtlichkeit und normative Heterosexualität. Diese wird hier aus unterschiedlichen, auch inter- und transdisziplinären Perspektiven betrachtet. Die Spannbreite der einbezogenen Disziplinen reicht dabei von Kunst- über Rechtswissenschaft bis hin zur Pädagogik. Der vorliegende Band geht auf Vorträge zurück, die im Rahmen einer gleichnamigen Veranstaltungsreihe und bei weiteren Anlässen gehalten worden sind und versteht sich als „Standortbestimmung aktueller Queer Studies“ (19).

Paul und Tietz formulieren als Forschungsinteresse des Sammelbands unterschiedliche prozessuale Vorstellungen zu Geschlechtern, Sexualität, Körpern und Begehren in den Blick zu nehmen (9). Heteronormativität soll aus verschiedenen interdisziplinären Perspektiven und individuellen Verortungen heraus in ihren Facetten analysiert werden (10). Darüber hinaus wird der Anspruch formuliert, das Verhältnis von akademischem Wissen, dass gegenüber Alltagswissen nach wie vor oft privilegiert ist, zu eben diesem im vorliegenden Band neu auszuloten (16).

Entstehungshintergrund

Das Buch ist in der Reihe Studien Interdisziplinäre Geschlechterforschung erschienen. Seit 2008 veröffentlich der transcript Verlag in dieser Reihe neuere Untersuchungen zur Transformation der Geschlechterverhältnisse und befasst sich mit den Spannungsverhältnissen, die zwischen alten und neuen Differenzlinien entstehen. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf internationalen Perspektiven. Herausgegeben wird die Reihe vom Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (CVO).

Herausgeber_innen

Barbara Paul ist Professorin für Kunstgeschichte am Institut für Kunst und visuelle Kultur der CVO, stellvertretende Direktorin des Zentrums für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterstudien sowie Sprecherin des Helene-Lange-Kollegs Queer Studies und Intermedialität: Kunst – Musik – Medienkultur.

Lüder Tietz ist Ethnologe und Psychologe. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der CVO in Projekten zum forschenden Lernen, als Dozent für die Schulung von LSBT*I*/Q Multiplikator_innen an der Akademie Waldschlösschen und ist als Berater und Coach tätig.

Aufbau und Inhalt

Der Sammelband umfasst neun verschiedene Aufsätze auf insgesamt 228 Seiten.

Unter der Überschrift „Queer as…: Verhandlungen von Praxen, Wissen und Politiken“ führen Barbara Paul und Lüder Tietz in den Band ein. Über eine vergleichende Betrachtung der sog. Homo-Ehe in der BRD und in Frankreich sowie der Proteste gegen die Sexualpädagogik der Vielfalt kommen sie zu der Frage, inwiefern die allgemeinen Menschenrechte für LSBT*I* in Deutschland tatsächlich gelten. Daneben werden hier grundlegende Begriffsklärungen vorgenommen: Heteronormativität verstehen die Autorin und der Autor als ein Dispositiv mit der Ideologie normativer Zweigeschlechtlichkeit sowie normativer Heterosexualität. Queer begreifen sie hier als Kampfbegriff unter Rückbezug auf die Macht-Wissen-Formationen im Sinne Foucaults.

Barbara Pauls Beitrag mit dem Titel Un/Möglichkeiten queerer Politiken in Wissenschaft und Kunst — oder: Zum Umgang mit visuellen Archiven und Wissen“ befasst sich zunächst mit grundlegenden Fragen von queer (studies) und Normativitäten. Dann wird Heterosexualität als naturalisierte Norm und Teil von Heteronormativität, welche sich auch in vielfältigen Symbolen und Zeichen ausdrückt, identifiziert. Paul versteht diese Symbole und Zeichen als Teil des visuellen Archivs im Sinne Foucaults, welches u.a. Aspekte von Wissen und Machtverhältnissen umfasst. Darauf aufbauend werden exemplarisch Zeichnungen von Birgit Jürgenssen sowie der Dokumentarfilm „Working on it“ von Karin Michalski und Sabina Baumann diskutiert.

Sabine Hark wirft in ihrem Aufsatz „Heteronormativität revisited. Komplexität und Grenzen einer Kategorie“ einen kritischen Blick auf Queer Theory und das Modell der Heteronormativität. Hark argumentiert, dass auch die Queer Theory ein Akteur „im Spiel der nomalisierenden Regulierung von Wissen und Wissensobjekten“ sei (S. 69). In Bezug auf Heteronormativität stellt sie fest, dass der analytische Anspruch des Konzepts extrem weitreichend sei und es dennoch Gefahr laufe, spezifische Aspekte aus dem Blick zu verlieren. Schließlich verweist Hark auf die grundlegende Fehlbarkeit von Kategorien, die nicht absolut gesetzt werden können, und bietet an, diese Feststellung als eine Einladung für einen Zuwachs an Reflexivität zu verstehen.

Der Beitrag „Jenseits von männlich und weiblich: Der Kampf um Geschlecht im Recht“ von Konstanze Plett geht von der These aus, die feministische Rechtskritik habe einen nicht zu unterschätzenden Anteil an verschiedenen Rechtskämpfen, die auf Anerkennung und Inklusion zielen. Der diesbezügliche bisherige Rechtswandel sei Ergebnis von Kampf mit dem Recht (Menschenrechte/Verfassungsgerichte) gegen das herrschende/gesetzte Recht. Plett zeichnet im Folgenden diese Kämpfe in sechs unterschiedlichen Strängen nach und gibt damit einen Überblick über die bisherige Entwicklungen sowie den aktuellen Stand der Diskussion:

  1. Um Gleichberechtigung der Frau
  2. Um Entkriminalisierung der Homosexualität
  3. Um Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen
  4. Gegen lebenslang zugeschriebenes Geschlecht
  5. Gegen Trading von Menschenrechten
  6. Gegen Geschlechterbinarität

Josch Hoenes beginnt seinen Aufsatz Das kulturelle Gewicht der Genitalien. Streifzüge durch die TransGenital Landscapes von Del LaGrace Volcano“ mit der Feststellung, dass immer, wenn Inter- oder Transsexualität thematisiert wird, Genitalien thematisiert werden. Deswegen sei es wichtig nach dem kulturellen Gewicht der Genitalien zu fragen, auch wenn die Gefahr bestehe durch diese Betrachtung ein othering zu betreiben. Die Arbeiten von Del LaGrace Volcano werden aus diesem Grund hier im Kontext subkultureller und politisch-aktivistischer Bewegungen betrachtet. Mit der Analyse der Arbeit TransGenital Landscapes soll das Verhältnis von Alltagswissen und kunstwissenschaftlicher Bildanalyse reflektiert werden. Zunächst wird diese Arbeit beschrieben, dann werden einzelne Fotografien vertiefend diskutiert.

Queerness zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Ambivalenzen des passing aus fem(me)inistischer Perspektive“ heißt der Beitrag von Sabine Fuchs, in dem sie sich mit Femme als queerer Widerstandsform befasst. Fuchs erörtert, dass Femme-Inszenierungen die Idee durchbrechen, sexuelle Identität sei am Körper ablesbar. Ferner unterscheidet sie Sichtbarkeit als politische/soziale Katgeorie von Sichtbarkeit als visueller Kategorie. Sie erörtert, dass Femmes in queeren Kontext häufig sichtbar im visuellen Sinne, gleichzeitig aber unsichtbar im sozialen Sinne sind, weil sie für nicht zugehörig gehalten werden. Dennoch kritisiert Fuchs unreflektierte Politiken der Sichtbarmachung, die zum einen nicht mit politischer Macht gleichgesetzt werden könne, zum anderen auch die stärkere Einbindung in normative Identitätsvorgaben ermögliche. Fuchs plädiert deswegen dafür, auch nicht-visuelle Repräsentationsstrategien in das queere Handlungsspektrum zu integrieren.

Nina Schusters Aufsatz „Ethnografische Zugänge zu einem queeren Raumkonzept“ befasst sich aus queertheoretischer Perspektive mit der Produktion von Raum. Schuster stellt fest, dass auch für queere Räume der Dragking- und Transgenderszene Normen konstitutiv seien, die zwar auch (ungewollt) dazu beitragen, hegemoniale Normen zu reproduzieren, sich diesen gegenüber aber gleichzeitig widerständig verhalten. Dazu gehörten Wertorientierungen, politische Positionierungen, Kleidungs- und Stylingsnormen und akademische Normen. Prozesse der Normaushandlung werden bspw. in Ausschlüssen und Sanktionierungen sichtbar, wobei das Hinterfragen bestimmter Normen selbst normierende Effekte produziere. Gleichzeitig herrsche in dieser Szene eine große Bereitschaft, Normen immer wieder neu zu diskutieren. Schließlich widersprächen queere Räume einer Institutionalisierung, weil sie häufig temporär und unbeständig seien.

In ihrem Aufsatz Lebensformenpädagogik: Queere Ansätze in der Bildungsarbeit“ stellt Stephanie Nordt zunächst fest, dass LGBT*I* Jugendliche großen psychosozialen Belastungen ausgesetzt sind, denen sie häufig mit destruktiven Bewältigungsstrategien begegnen. Daraus ergibt sich ein dringender Handlungsbedarf für Schule und Jugendhilfe mit ihren Erziehungs- und Bildungsaufträgen, doch werden auch hier queere Themen nach wie vor tabuisiert. Als positives Beispiel für queere Bildungsarbeit stellt Nordt den Ansatz der Lebensformenpädagogik der Berliner Einrichtung KomBi unter Benennung der theoretischen Bezüge, zugrundeliegender pädagogischer Ansätze, Methodik und Didaktik sowie erwarteter Wirkungen dar.

In dem letzten Aufsatz Pride-Paraden von LSBT*I*/Q. Möglichkeiten und Grenzen der Politik des Performativen“ befasst sich Lüder Tietz mit Pride- bzw. Christopher Street Day Paraden, unter besonderem Fokus auf vestimentäre Performanzen. Der Begriff meint in etwa „bekleidungsbezogene Inszenierungen“. Dafür greift er auf Ergebnisse seiner ethnografischen Langzeituntersuchung zurück, in der er seit 2001 in teilnehmender Beobachtung entsprechende Veranstaltungen untersucht. Anhand von Fotos verschiedener Inszenierungen auf den Paraden werden hier vestimentäre Performanzen im Zusammenhang mit Repräsentationspolitiken diskutiert. Tietz stellt eine zunehmende Differenzierung dieser Praxen fest.

Diskussion

Der Anspruch, Heteronormativität aus verschiedenen und auch interdisziplinären Perspektiven zu betrachten, kann mit der Zusammenstellung dieser sehr unterschiedlichen Aufsätze, die sich dem Modell aus vielfältigen Perspektiven und Disziplinen nähern, absolut als erfüllt angesehen werden. Ein verbindendes Element der Beiträge ist ein explizit politisches Verständnis von queer, das sich konsequent durch den gesamten Band zieht. Auch sind alle Aufsätze sehr konkret auf präzise bestimmte Elemente von Heteronormativität bezogen. Dass einige von ihnen kompakt spezifische Ergebnisse umfangreicherer Forschungsarbeiten aufbereiten ist in diesem Zusammenhang besonders gewinnbringend. So gibt der Band als ganzes einen sehr guten Überblick über die aktuelle Diskussion von Heteronormativität, insbesondere aus Perspektive queerer Theorie. Gleichzeitig bietet das Werk viele Ausgangspunkte zu einer vertiefenden Auseinandersetzung mit Fragen von Heteronormativität, sowohl im Alltag als auch in der akademischen Diskussion.

Ob der Anspruch, das Verhältnis von akademischem Wissen und Alltagswissen in diesem Band neu oder anders zu gestalten, erfüllt wird, erscheint fraglich. In vielen Beiträge sind Beobachtungen aus dem Alltag Ausgangspunkt der Argumentation, was die Erörterungen anschaulich macht und in sich einen Beleg für die Notwendigkeit der Diskussion darstellt. Dennoch ist das akademische und sprachliche Niveau insgesamt hoch und damit für Fachfremde teils schwer zugänglich – aus Perspektive einer am Thema interessierten Sozialarbeitswissenschaftlerin erscheinen einige Beiträge sehr voraussetzungsvoll. Damit stellt sich auch die Frage, inwiefern ein Transfer des Wissens in den Alltag zurück mit diesem Band möglich ist.

Fazit

Insgesamt legen Paul und Tietz mit diesem Sammelband einen wertvollen Beitrag zur Debatte um Heteronormativität vor, der sowohl interessierten Einsteiger_innen in diesem Thema einen sehr guten Überblick über den Stand der Diskussion gibt und gleichzeitig deren Alltagsrelevanz aufzeigt, als auch für Expert_innen im Thema differenzierte Einsichten in diesem Komplex bietet. Damit scheint das Werk insbesondere für Studierende und Wissenschaftler_innen unterschiedlicher Disziplinen eine abwechslungsreiche, vielseitige, wenn auch nicht immer einfache Lektüre zu sein.

Rezension von
Antje Schürmann
M.A., Hochschule Hannover
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Es gibt 1 Rezension von Antje Schürmann.

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ISSN 2190-9245