Ruth Deck, Nathalie Glaser-Möller: Bedarfsorientierung und Flexibilisierung in der Rehabilitation
Rezensiert von Dr. Wim Nieuwenboom, 28.07.2017
Ruth Deck, Nathalie Glaser-Möller: Bedarfsorientierung und Flexibilisierung in der Rehabilitation. Verlag Hans Jacobs (Lage) 2016. 134 Seiten. ISBN 978-3-89918-244-6. D: 21,00 EUR, A: 23,00 EUR.
Thema
Verschiedene Studien zeigen, dass sich in der Rehabilitation ganz unterschiedliche Patientinnen und Patienten mit unterschiedlichen Problemprofilen befinden, die von leichten Störungen bis zu schweren körperlichen und psychischen Belastungen reichen. Dadurch werden nicht immer die richtigen Erfordernisse im Hinblick auf den erwarteten Erfolg der Rehabilitation erkannt. Dies führt zu zwei Fragen, die in den Beiträgen in diesem Sammelband im Zentrum stehen: Welche Konsequenzen sollen aus diesen Befunden abgeleitet werden? Wie und mit welcher Intensität soll die Nachsorge bei individuellen Problemlagen gestaltet werden?
Herausgeberinnen
PD Dr. phil. Ruth Beck, Mitherausgeberin und zugleich Autorin, ist Privatdozentin am Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie der Universität Lübeck und in dieser Funktion auch für den Fachbereich der Reha-Forschung zuständig. Zudem leitet sie das wissenschaftliche Sekretariat des Vereins zur Förderung der Rehabilitationsforschung (vffr) in Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein.
Die zweite Mitherausgeberin und Autorin, Dr. Nathalie Glaser-Möller, ist Geschäftsführerin des vffr und bei der Deutschen Rentenversicherung Nord in Lübeck tätig.
Entstehungshintergrund
Die Beiträge in diesem Sammelband entstammen einem gleichnamigen Reha-Symposium, welches vom Verein zur Förderung der Rehabilitationsforschung in Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein (vffr) gemeinsam mit der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) sowie der Deutschen Rentenversicherung Nord (DRV-Nord) in Lübeck veranstaltet wurde. Die vorliegende Publikation richtet sich primär an alle wissenschaftlich interessierten Klinikerinnen und Kliniker des Reha- und des Akutbereichs sowie an Mitarbeitende von Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation, von Kostenträgern und Gesundheitsbehörden sowie Betriebsärztinnen und niedergelassene Ärzte.
Aufbau
Die verschiedenen Beiträge sind drei Teilen zugeordnet:
- Der erste Themenblock umfasst eine thematische Einführung mit Überblicksreferaten,
- danach folgen im zweiten Themenblock drei Beiträge unter dem Titel „Flexibilisierung in der medizinischen Rehabilitation“,
- und der dritte Themenblock umfasst drei Beiträge unter dem Titel „Flexibilisierung in der Versorgungskette“.
Eine Zusammenfassung mit Ausblick der beiden Herausgeberinnen rundet das Sammelwerk ab.
Inhalt
Nach einem einführenden Überblick der beiden Herausgeberinnen geben im zweiten Beitrag Ingrid Künzler und Nathalie Glaser-Müller eine Einführung ins Thema. Grundsätzlich decken sich die Interessen der Versicherten an einem möglichst langen, beschwerdefreien und erfüllenden Berufsleben und das Interesse der Rentenversicherung (DRV Nord) an einer stabilen Beitragsfähigkeit. Die Reha-Forschung soll Wege erkunden um dieses Ziel zu erreichen. Der Bedarf an Flexibilisierung ergibt sich aus der demographischen Wandel: Es gibt heute mehr ältere Versicherte als vor einigen Jahren, der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund oder jener aus prekären Lebensverhältnissen wächst, und am Arbeitsplatz treten erhöhte psychische Belastungen gegenüber den körperlichen mehr in den Vordergrund. Die DRV möchte die erforderliche Flexibilisierung durch einen Ausbau der Zusammenarbeit mit allen wichtigen Akteuren erreichen.
Einen zweiten Zugang zum Thema eröffnet Jörg Schudmann. Er weist auf die Entwicklung von Steuerungsprozessen und infrastrukturellen Voraussetzungen hin. Einerseits geht es dabei um die Konzeption und Implementierung eines sogenannten „Reha-Managements“ seitens der Unfallversicherungen, das nach bestimmten Standards eine umfassende Koordination und Planung einer individuellen Rehabilitation sichern soll, andererseits um den Zusammenschluss aller Akut- und Rehakliniken in einer unternehmerisch geführten Gesellschaft. Der Autor stellt fest, dass es trotz dieser Bemühungen schwierig bleibt, für den Einzelfall die passende Rehabilitation zu realisieren. Eine weitere Frage, nach welchen Kriterien und Verfahren die Bereitstellung von Behandlungsangeboten priorisiert werden soll, wird von Sabine Bossert aufgegriffen. In Anlehnung an das schwedische „nationale Modell für die transparente Priorisierung in der Gesundheitsversorgung“ wurde in Lübeck eine Priorisierungsleitlinie für die Anschlussrehabilitation nach einem akuten Koronarsyndrom entwickelt. Der Artikel enthält keine Wirksamkeitsstudien, denn solche fehlen weitgehend, was auch die Autorin in ihrer Schlussdiskussion bemängelt. Hingegen gibt es im nächsten Beitrag von Matthias Bettge empirische Daten, konkret zur innovativen MBOR (Medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation). Aufgrund einer Metaanalyse bescheinigt der Autor diesem Programm einen moderaten Vorteil gegenüber der herkömmlichen Herangehensweise der „medizinischen Rehabilitation“: Es gelingt besser, eine stabile Beschäftigung zu finden und Arbeitsunfähigkeit zu verringern. Als zentrale Herausforderungen für die Weiterentwicklung rehabilitativer Versorgung sieht der Autor die Entwicklung funktionierender Schnittstellen an den Arbeitsplätzen, eine koordinierte Durchführung der Leistungen und die Realisierung einer gemeinsamen Strategie der beteiligten Akteure.
Eine weitere Frage, ob Flexibilisierung der Rehabilitation und Qualitätssicherung zusammenpassen, wird in einem kritischen Beitrag von Eike Hoberg anhand des Beispiels einer Reha-Klinik zunächst verneint. Für eine Flexibilisierung ist ein hoher organisatorischer Aufwand erforderlich, der zurzeit weder von den Krankenkassen noch von den Rentenversicherungen finanziell honoriert wird. Ein weiterer wichtiger Grund sei jedoch in den Qualitätssicherungsinstrumenten selbst zu finden. Es gibt mittlerweile Softwareprogramme, die kontinuierlich darüber eine Rückmeldung geben, inwieweit therapeutische Leistungen mit den Vorgaben der Qualitätssicherung abgeglichen sind. Wenn nun unter „Qualität“ eine Normierung verstanden wird, welche impliziert, dass eine Institution zur Erreichung der höchsten Qualitätspunktzahl die Vorgaben bezüglich Leistungsmenge und -dauer möglichst genau erfüllen sollte und Abweichungen nach oben oder nach unten unerwünscht sind, so besteht nach Überzeugung des Autors die Gefahr, dass nicht so sehr die Bedürfnisse der Rehabilitanden, sondern eher die Hinweise der Software die ärztlichen Verordnungen bestimmen.
Die nächsten zwei Beiträge thematisieren die Flexibilisierung in Bezug auf die Inanspruchnahme durch verschiedene Bevölkerungsgruppen. Betje Schwarz identifiziert in einer qualitativen Studie sieben verschiedene Problemlagen eines ausdifferenzierten Behandlungsangebots in der orthopädischen Rehabilitation der DRV. Als Strukturierungsraster dient dabei das psychosoziale Modell funktionaler Gesundheit der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF), in Kombination mit den drei Behandlungsangeboten „Orthopädische Rehabilitation“ (OR), „Medizinisch-berufliche Rehabilitation“ (MBOR) und „Verhaltensmedizinische Orthopädie“ (VMO). Die Ergebnisse könnten hilfreich für das Zuweisungs- und Behandlungsmanagement sein, sollten aber noch mit quantitativen Studien erhärtet werden. Der Begriff „Problemlage“ wird hier relativ eng gefasst und vor allem im Sinne einer gesundheitlichen Beeinträchtigung und eines bestimmten Rehabilitationsangebots verstanden. Stärker bevölkerungsbezogen ist der Beitrag von Oliver Razum und Patrick Brzoska. Unter dem Titel „Migration und Rehabilitation“ wird hier die Flexibilisierung in Bezug auf Migrantinnen und Migranten thematisiert. Menschen mit Migrationshintergrund haben ein höheres Risiko für Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten als die Mehrheitsbevölkerung, sie nutzen jedoch die Rehabilitationsangebote weniger und erzielen weniger Erfolg in der Rehabilitation. Die Autoren folgern, dass sich Barrieren zu diesem Versorgungsbereich nicht in erster Linie mittels migrationsspezifischer Angebote (wie z.B. ein Reha-Klinik für Türkischstämmige), sondern vielmehr durch eine interkulturelle Öffnung und über Aushandlungsprozesse gemäss dem „Diversity Management“ (einem strukturierten Umgang mit Vielfalt) beseitigen lassen.
Im letzten Teil des Bandes steht die Flexibilisierung in der Versorgungskette im Zentrum. Anna Levke Brütt, Julia Magaard, Jasmin Niedrich und Holger Schulz schlagen ein risikoorientiertes Behandlungskonzept für die psychosomatische Rehabilitation vor. Die von ihnen entwickelte Risiko- und Ressourcenliste (RiRes-20) soll eine frühzeitige Identifikation jener Patientinnen und Patienten ermöglichen, die einem erhöhten Risiko einer Beeinträchtigung der Aktivitäten und der Teilhabe nach stationärer psychosomatischer Rehabilitation ausgesetzt sind. Dieser innovative Ansatz thematisiert Möglichkeiten der Früherkennung von Risiken innerhalb der Versorgungskette und will ihnen begegnen. Allerdings zeigen die Analysen, dass das entwickelte Instrument nur 53 bis 66 Prozent der Risikopersonen korrekt identifiziert. Die Schlussfolgerung der Autorinnen und Autoren über die Vorhersagekraft des Instrumentes scheint daher etwas voreilig.
Marco Streibelt und Wolfgang Bürger thematisieren die Indikation für eine „Stufenweise Wiedereingliederung“ (STW). Mit Hilfe eines prospektiven Längsschnittdesigns werden mittels „Propensity Score Matching“ zwei Gruppen verglichen: Eine Gruppe mit und eine ohne STW nach der Rehabilitation. Die Hauptergebnisse: Versicherte mit einer STW erleben weniger Fehlzeiten und eine höhere berufliche Teilhabe; dabei profitieren vor allem diejenigen Versicherten mit hohen Fehlzeiten und einem hohen Erwerbsminderungsrisiko. Diese Ergebnisse stehen im Widerspruch zur bisherigen Verordnungspraxis, weil in der Stichprobe gerade die Inanspruchnahme eines STW bei Versicherten mit dem höchsten Erwerbsminderungsrisiko am geringsten ist.
Schliesslich wird im letzten Beitrag von Pierre Noster und Jörg Barlsen anhand des Integrationsnetzwerks Niedersachsen exemplarisch auf regionale Aspekte eingegangen. Dieses Netzwerk ermöglicht sehr individuelle und vielfältige Rehabilitationsverläufe für Personen, die nicht an den Arbeitsplatz zurückkehren und Trainings bzw. Umschulungen brauchen.
Diskussion
Dass es sich bei der der Bedarfsorientierung und Flexibilisierung um eine vielfältige und komplexe Thematik handelt kommt in diesem Band gut zum Ausdruck. Die verschiedenen Beiträge beleuchten das Thema aus ganz unterschiedlichen Blinkwinkeln, sind dennoch gut aufeinander abgestimmt, und der „rote Faden“ ist klar erkennbar. Die Einleitung und die Zusammenfassung der Herausgeberinnen erweisen sich dabei als sehr hilfreich und stellen auch einen guten Praxisbezug her. Besonders erfreulich ist, dass in diesem Band auch die Bedürfnisse von einigen verletzlichen Gruppen wie etwa Migrantinnen und Migranten sowie die Herausforderungen, die sich daraus für die Rehabilitation ergeben, angesprochen werden. Aus den Beiträgen geht deutlich hervor, dass zum Teil zur Realisierung einer Flexibilisierung widersprüchliche Anforderungen gemeistert werden müssen.
Im Forschungsbereich besteht nach wie vor ein grosser Bedarf an quantitativen prospektiven Studien, möglichst mit einem randomisiert-kontrollierten Design. Solche Studien stehen vor der Herausforderung, die Interessen von einzelnen Individuen bzw. von verletzlichen Gruppen gegenüber den Interessen der Kostenträger zu thematisieren. Dabei sollten auch Themen und Gruppen berücksichtigt werden, die im vorliegenden Band nur am Rande behandelt wurden, wie etwa Menschen in prekären Lebenslagen. In diesem Zusammenhang ist es etwas bedauerlich, dass nicht konsequent eine geschlechtergerechte Sprache (wie etwa: „Patientinnen und Patienten“) verwendet wurde. Insbesondere mit Blick auf die Flexibilisierungsthematik zeigt sich, dass auch zu den Genderdifferenzen weitere Forschung notwendig ist.
Fazit
Dieses Buch kann dem anvisierten Publikum sehr empfohlen werden. Es bietet einen guten Einblick in die aktuellen Veränderungen, die in Deutschland in der Rehabilitation stattfinden. Die Darlegung von innovativen Ansätzen (insbesondere das MBOR) unter Bezugnahme auf konkrete Beispiele erlaubt auch Vergleiche mit anderen Systemen und gibt eine Orientierung für die Entwicklung im In- und Ausland. Die am Ende des Bandes aufgeworfenen Fragen können dabei als Forschungsleitfaden dienen.
Rezension von
Dr. Wim Nieuwenboom
Fachhochschule Nordwestschweiz
Hochschule für Soziale Arbeit
Institut Soziale Arbeit und Gesundheit
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Es gibt 2 Rezensionen von Wim Nieuwenboom.
Zitiervorschlag
Wim Nieuwenboom. Rezension vom 28.07.2017 zu:
Ruth Deck, Nathalie Glaser-Möller: Bedarfsorientierung und Flexibilisierung in der Rehabilitation. Verlag Hans Jacobs
(Lage) 2016.
ISBN 978-3-89918-244-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21732.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
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