Konstantin Kehl: Sozialinvestive Pflegepolitik in Deutschland
Rezensiert von Dr. phil. Andreas Meusch, 02.10.2017

Konstantin Kehl: Sozialinvestive Pflegepolitik in Deutschland. Familiäre und zivilgesellschaftliche Potenziale im Abseits wohlfahrtsstaatlichen Handelns. Springer VS (Wiesbaden) 2016. 356 Seiten. ISBN 978-3-658-12080-1. D: 49,99 EUR, A: 51,39 EUR, CH: 51,50 sFr.
Thema
Das Buch will erklären, weshalb es trotz Reformbedarfs und langjähriger Debatten bisher nicht gelungen ist, die Versorgungsstrukturen für pflege- und unterstützungsbedürftige Menschen im Sinne einer sozialinvestiven Politik weiterzuentwickeln, die die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf verbessert und zivilgesellschaftliche Strukturen fördert (S. 14).
Autor
Konstantin Kehl war Leiter der Transfer- & Beratungsaktivitäten des Centrums für soziale Investitionen und Innovationen (CSI) der Universität Heidelberg. Er wurde mit dieser Arbeit bei Prof. Manfred G. Schmidt an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften promoviert. Seit 2017 ist er Dozent am Institut für Sozialmanagement der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
Entstehungshintergrund
Der Autor sieht die soziale Pflegeversicherung unter zunehmendem Finanzierungs- und Legitimationsdruck und konstatiert, dass die Förderung der informellen Pflege „immer kleinere Erfolge zeitigte“, wofür er „offenbar unzureichende politische Anreize“ verantwortlich macht (S. 14).
Aufbau und ausgewählte Inhalte
Das Buch ist in fünf Kapitel unterteilt.
Die Einleitung gibt zunächst einen kurzen Überblick über diePflegeversicherung und erläutert die Vorgehensweise der Arbeit. Der Autor bringt das Ziel seiner Arbeit auf den Punkt: "Es geht demzufolge auch um das bislang vergleichsweise wenig erforschte "Scheitern" von Politik" (S. 19).
Im zweiten Kapitel wird ein „alternatives Problemverständnis“ erarbeitet, das aus drei Bausteinen besteht:
- Dem soziodemographischen Problem. Hier werden die wichtigsten Organisationsprinzipien und Probleme der Pflege skizziert und die Chancen einer Förderung der informellen Pflege herausgearbeitet;
- Als politisches Problem wird anschließend die Reformdiskurse zur Finanzierung und zu den Leistungen der Pflegeversicherung diskutiert sowie die bisherigen Reformaktivitäten im Lichte theoretischer und empirischer Befunde erörtert;
- Die begrenzte Wirkung von monetären Anreizen wird anschließend als motivationales Problem diskutiert. Für den Autor folgt aus dieser Darstellung, dass das "gesellschaftliche Problem bisher unzureichend gelöst wurde" (S. 21). und die Erkenntnis, dass „die Pflegerische Versorgung in Deutschland vor Herausforderungen (steht), die zu meistern gelingen kann, wenn die Förderung der informellen Pflege gestärkt wird“ (S. 87).
Auf gut 100 Seiten folgt dann das Kapitel über Theorie und Methode, das deshalb so umfangreich ausfällt, weil Forschungsansätze zur Anwendung kommen, die in der Policy-Analyse noch wenig verankert sind.
Im vierten Kapitel schließt sich die Policy-Analyse zu Einführung der Pflegestützpunkte und Familienpflegezeit an, die der Autor als magere Reformen bewertet, „die die Pfadabhängigkeitsthese im Großen und Ganzen eher unterstützt, als ihr zu widersprechen“ (S. 298). Als Ergebnis schlussfolgert er aus methodischer Sicht, "diskursive und netzwerkanalytische Ansätze um traditionelle Konzepte der Policy-Analyse zu erweitern". Im Sinne der Politikberatung empfiehlt er, dass Akteure, die auf Veränderung der vorherrschenden Politikansätze zielen, in ihr Wirken stärker Problemlösungen einzubeziehen sollten, die im Politikfeld anerkannt sind (S. 299).
Im fünften Kapitel geht es um zwei Beispiele zu Reformen im Sinne einer sozialinvestiven Pflegepolitik, der Einführung von Pflegestützpunkten und der Familienpflegezeit mit der Schlussfolgerung, dass große Finanzierungsreformen „an Machtverhältnissen und institutionellen Entscheidungsregeln“ scheitern und das Potenzial „der – tendenziell kostensenkenden – informellen Pflege“ nur unzureichend gewürdigt wird (S. 305). Als Ursachen sieht er nicht nur die Pfadabhängigkeit des Politikfeldes an, sondern auch, dass die SPD, der er machpolitisch eine Schlüsselposition beimisst, eine im Vergleich zu den Jahrzehnten zuvor "relative Schwäche" im Parteiensystem habe und die Kräfte der politischen Linken es nicht geschafft hätten, sich mit Verbänden zu "einer einflussreichen (Verhandlungs-)Koalition zu einen" (S. 304). Das sind zentrale Befunde, die der Autor im Kapitel Fazit und Schlussfolgerungen darlegt.
Diskussion
Ausgangspunkt der Arbeit ist eine Defizitanalyse: Es ist bisher nicht gelungen, die Versorgungsstrukturen für pflege- und unterstützungsbedrüftige Menschen zu einer sozialinvestiven Politik weiterzuentwickeln. Schuld daran sind für den Autor Koalitionen öffentlicher und privater Akteure zur Beeinflussung von Entscheidungen in der Verhandlungsdemokratie. Diese Policy-Analyse bestätigt eine Vielzahl von Untersuchungen, die sich mit der Pfadabhängigkeit gesundheitspolitischer Entscheidungen in Deutschland und die Bedeutung von Veto-Playern in diesem Kontext beschäftigen. Der Autor tritt damit für eine grundsätzlichen Politikwechsels ein und beschreibt die Mühen der Ebene der deutschen Verhandlungsdemokratie mit ihren Politikverflechtungsfallen und Aushandlungsritualen an zwei konkreten Beispielen. Für ihn ist das Glas fast leer, wo die Verfechter des piecemeals engineerings mit guten Gründen und mit Blick auf das Erreichte das Glas auch halb voll sehen könnten.
Fazit
Das Buch bietet ein Plädoyer für einen Politikwechsel in der Pflegepolitik, die stärker auf die Nutzung der zivilgesellschaftlichen Potenziale setzt. Der Autor liefert eine gelungene Policy-Analyse, die erklären soll, woran es bisher gescheitert ist.
Rezension von
Dr. phil. Andreas Meusch
Lehrbeauftragter an der Fakultät Wirtschaft und Soziales der Hochschule für Angewandte Wissenshaften (HAW), Hamburg,
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