Gerald Lembke: Im digitalen Hamsterrad
Rezensiert von Prof. Dr. sc.hum. Nina Fleischmann, 22.12.2016
Gerald Lembke: Im digitalen Hamsterrad. Ein Plädoyer für den gesunden Umgang mit Smartphone & Co. medhochzwei Verlag GmbH (Heidelberg) 2016. 180 Seiten. ISBN 978-3-86216-302-1. D: 19,99 EUR, A: 20,60 EUR.
Thema
Der ARD-ZDF-Onlinestudie 2016 zufolge sind 84% der Deutschen online, hauptsächlich für Kommunikation und Mediennutzung. Dieses Buch von Gerald Lembke versteht sich selbst als „digitales Manifest“ und regt zum Nachdenken über das digitale Hamsterrad ein. Dieses Buch von Gerald Lembke versteht sich selbst als „digitales Manifest“ und regt zum Nachdenken über das digitale Hamsterrad ein.
Autor
Gerald Lembke hat eine Professur für digitale Medien und Medienmanagement an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg inne. Er wird als einer der digitalen Pioniere bezeichnet und befasst sich seit 25 Jahren mit diesem Thema.
Aufbau
Dieses Buch beinhaltet 15 Kapitel auf 158 Seiten. Von „Abfüllanlagen im Taschenformat – wie Smartphones Angst und Neid füllen“ über „Arbeiten im Unterbrechungsmodus – Digitale Produktivitätskiller“ bis hin zu „Always on – Wischen auf dem Klo“. Jedem Kapitel ist ein Zitat von Schriftstellern, Philosophen, Musikern oder weiteren Personen der Alt- und Neuzeit vorangestellt.
Inhalt
Nach einer Einführung mit einigen Alltagsbeobachtungen zur Smartphone-Nutzung, die sicher viele kennen, steigt Lembke mit der digitalen Revolution und ihren Folgen in das Thema ein. Er beobachtet die steigenden Nutzungszahlen, aber auch den gleichzeitigen Bedarf an Handlungsempfehlungen für einen gesünderen Umgang. Über neurowissenschaftliche Grundlagen und Studien zeigt er, wie Smartphone-Nutzung und z.B. Depressionen zusammenhängen. Im nächsten Abschnitt geht er auf das Kommunikationstool WhatsApp ein und hier vor allem auf den „Gruppen-Wahnsinn“ und schlägt „Distanz bis zum Abschalten“ vor. Er plädiert für mehr Widerstandsfähigkeit und mehr Kontrolle über das digitale Handeln.
Im Arbeitsleben führt die wiederholte Unterbrechung auf dem Smartphone zu sinkender Konzentration, Produktivität und Zielerreichung. Anekdotisch berichtet der Autor von seinen eigenen Erfahrungen aus einem „Digital-Detox-Seminar“, ein Wochenende ohne Smartphone, dafür mit Meditation und Tanz. Ihm habe es zu innerer Ruhe verholfen.
Im Alltag ist es zu beobachten: 17% der Menschen laufen mit gesenktem Blick durch die Gegend, laufen gegen Laternen oder Bürotüren, sind unfallgefährdet abgelenkt – und die Einrichtung von Bodenampeln in einer deutschen Stadt ist eine Reaktion darauf. Neben dem Appell an die Selbstverantwortung, hier im wahrsten Sinne des Wortes abzuschalten, schreibt der Autor auch Arbeitgebern, Verbänden im Gesundheitswesen und Krankenkassen eine Vorbildfunktion zu.
Ein weiteres Thema im Buch ist die digitale Partnersuche. Neben Zahlen über die Nutzung von Dating-Portalen wie Tinder und Parship steht hier auch die Erkenntnis, dass der Aufwand für Sichten, Auswählen und Kommunizieren in Dating-Portalen den vergleichbaren Aufwand außerhalb des Internets um ein Vielfaches übersteigt und das Liebe im Netz weitaus schwerer zu finden ist als im realen Leben.
Der nächste Aspekt, dem sich Lembke widmet, ist die Digitalisierung in Schulen und Kitas. Er leitet her, wie Unterricht durch digitale Medien nicht besser wird, sondern eher zu unmotivierteren Lehrern, schwachen Schülern und Routineunterricht führt. Für digitale Medienkompetenz fordert er ein anderes Verständnis als wischen zu können. Er sieht zudem mit Sorge, wie sich immer mehr analoge Lebensbereiche technisiert werden, vom Sex- bis zum Health-Roboter. Doch digitale Geschöpfe befriedigen nicht die tatsächlichen Bedürfnisse von Menschen und Einsamkeit kann nicht durch Technologie aufgelöst werden. Dem Grenznutzen zwischen Robotereinsatz und Wohlbefinden im privaten Umfeld stehen industrielle Interessen und Umsatzpotentiale entgegen.
Auch die Gruppe der Selbstoptimierer bekommen ein eigenes Kapitel. Likes werden für gutes Aussehen, neue Laufstrecken, Selfies vor Schlafzimmerspiegeln verteilt und mit dem Hawthorne-Effekt erklärt: wenn mich jemand beobachtet, strenge ich mich mehr an. Allerdings verschwinden die meisten Tracking-Geräte nach der Anfangseuphorie und im Schnitt vier Monaten in der Schublade.
Ein weiteres Stichwort ist Big Data – komplexe Technologien, die große Datenmengen sammeln und auswerten. Hierzu gehört ein für viele selbstverständliches Alltagstool, nämlich die Suchmaschine Google. Die Unwissenheit, Risikobereitschaft und Egal-Mentalität macht es der digitalen Wirtschaft besonders leicht aus den bereitwillig gelieferten Daten zielgerichtete Werbung abzuleiten. Lembkes Botschaft ist der Ruf nach einem digitales Bewusstsein: einen besonderen Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustand, verbunden mit einem achtsamen Handeln im Digitalen als charakterliche Eigenschaft für jedermann, gar als Schulfach bereits.
Zum Schluss hält das Buch noch 27 Tipps zum Start aus dem digitalen Hamsterrad hinaus parat. Ein Beispiel: „Legen Sie sich wieder eine Armbanduhr zu. So reduzieren sie viele Aktivierungen und Ablenkungen durch den Time-Wisch auf ihrem Smartphone“.
Diskussion
Ein interessantes Buch mit vielen Denkanstößen rund um die Digitalisierung. Der Autor ist kritisch-provozierend und sein Schreibstil unterhaltsam. In der Gesamtbetrachtung fehlen mir jedoch die Graustufen zwischen der Schwarz-Weiß-Einordnung zwischen Ablehnung jeglicher digitaler Inhalte und vollster unkritischer Unterstützung der Entwicklungen. Viele Fakten und Literatur zum Weitervertiefen können den Leser aber unterstützen, sich eigene Position abzuleiten. Ganz am Ende gibt es eine Liste an Strategien, dem digitalen Hamsterrad zu entkommen. Für die Nutzung eines alten Handys für bestimmte Situationen oder smartphonefreie Wochenenden wie vorgeschlagen sollten pragmatische Ansätze ergänzt werden, etwa wie man die Nutzung mehrerer Sim-Karten verschiedener Größen kostengünstig löst. Ergänzt werden könnten auch Tipps, wie die angesprochenen App´s und Seiten eine achtsame Nutzung zulassen (z.B. der Hinweis, wie man WhatsApp-Gruppen stumm schaltet).
Fazit
Das Digitale verdrängt das Soziale und die empathischen Fähigkeiten nehmen in einer technisierten Zukunft ab – so sind die Kernbotschaften des Autors in dieser kritischen Schrift zur Digitalisierung.
Rezension von
Prof. Dr. sc.hum. Nina Fleischmann
Hochschule Hannover Fakultät V - Diakonie, Gesundheit und Soziales
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Zitiervorschlag
Nina Fleischmann. Rezension vom 22.12.2016 zu:
Gerald Lembke: Im digitalen Hamsterrad. Ein Plädoyer für den gesunden Umgang mit Smartphone & Co. medhochzwei Verlag GmbH
(Heidelberg) 2016.
ISBN 978-3-86216-302-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21770.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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