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Alessandra Lemma, Luigi Caparrotta (Hrsg.): Psychoanalyse im Cyberspace?

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 14.10.2016

Cover Alessandra Lemma, Luigi Caparrotta (Hrsg.): Psychoanalyse im Cyberspace? ISBN 978-3-95558-177-0

Alessandra Lemma, Luigi Caparrotta (Hrsg.): Psychoanalyse im Cyberspace? Psychotherapie im digitalen Zeitalter. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2016. 206 Seiten. ISBN 978-3-95558-177-0. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.

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In einer digitalen Wolke verschwinden?

Der britische, in Berkeley/Kalifornien lebende Politikwissenschaftler, Medienunternehmer und Internet-Kritiker Andrew Keen stellt in seinem Buch „The Cult of the Amateur“ (2007), das 2008 mit dem deutschen Titel „Die Stunde der Stümper“ erschienen ist, das ganze Dilemma der Internet-Nutzung heraus: „Was passiert“, so fragt er, „wenn Unwissen, Egoismus, schlechter Geschmack und Mobregeln zusammenkommen?“, und er gibt darauf die Antwort: „Der Affe übernimmt die Regie“. Ohne Zweifel haben die neuen Technologien längst Alltag und die lokal- und globalgesellschaftlichen Lebensbereiche der Menschen erobert. In der Medien- und Öffentlichkeitsforschung und -kritik bestimmen im wesentlichen zwei kontroverse Auffassungen den Diskurs. Während einerseits beinahe euphorisch den virtuellen Medien und sozialen Netzwerken positive, befreiende, emanzipatorische, partizipative, solidarische, integrierende und sogar psychotherapeutische Potentiale zugeschrieben werden und im Klammersatz die möglichen negativen, hierarchischen, kontrollierenden, unterdrückenden und abhängig machenden Folgen als erkennbar, beherrschbar und vielleicht sogar therapierbar hingestellt werden, wird von den unkontrollierten (und unkontrollierbaren?) Wirkungen gewarnt (Bernhard Pörksen / Hanne Detel, Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13302.php). Der holländische Medientheoretiker Geert Lovink will die virtuellen Medien zwar nicht verdammen, aber mit seiner Warnung – „Wir müssen unsere kritischen Fähigkeiten nutzen und auf das technologische Design und Arbeitsfeld Einfluss nehmen, sonst werden wir in der digitalen Wolke verschwinden“ – auf die Diskrepanz zwischen Cyberspace und Cyberzeit aufmerksam machen (Geert Lovink, Das halbwegs Soziale. Eine Kritik der Vernetzungskultur, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14329.php).

Entstehungshintergrund und Herausgeberteam

Die virtuellen Medien bestimmen längst unseren Alltag und unser individuelles und lokal- und globalgesellschaftliches Leben. Untersuchungen darüber, was die neuen Medien mit den Menschen anrichten können, im Privaten, am Arbeitsplatz, in der Freizeit und im politischen Dasein, verweisen darauf, dass Stressfaktoren die Gesundheit gefährden, sowohl ein freieres, informiertes Leben ermöglichen, wie ebenso Abhängigkeiten und Zwietracht schaffen. Die von Psychologen, Psychoanalytikern, Soziologen und Pädagogen immer öfter ausgesprochenen Mahnungen, Handy, IPhone, Smartphone und Computer gezielt abzuschalten, kann bereits von einer großen Zahl von Nutzern gar nicht mehr befolgt werden. Die allseits umfassende informationstechnische Revolution und Big Data haben uns fest im Griff. Sie haben uns verändert und wandeln unser Leben weiterhin in rapider Brisanz. Wäre es da ein Wunder, wenn mit diesen Prozessen sich nicht auch unser Seelenleben und die Conditio humana verändern?

Diese Frage stellt der Psychoanalytiker, Mitglied der British Academy und Sigmund-Freud-Lehrstuhlinhaber für Psychoanalyse am Londoner University College, Peter Fonagy, in dem Vorwort, mit dem er auf das Buch „Psychoanalyse im Cyberspace?“ verweist. Das Herausgeberteam des im psychoanalytischen Diskurs erstmals in deutscher Sprache vorgelegten Sammelbandes, der sich insbesondere mit der Frage auseinandersetzt, „unter Rückgriff auf das Wissen um die nicht nur bewussten, sondern auch unbewussten Schichten der Subjektivität herauszufinden, welche Verbindung menschliche Triebe und Informationstechnologie eingehen können“, die Psychologin und Psychoanalytikerin, Mitglied der British Psychoanalytical Society, Alessandra Lemma, und der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeut Luigi Caparrotta, rütteln mit weiteren Expertinnen und Experten an dem (scheinbaren wie tatsächlichen) Tabu in der Psychoanalyse und bei Kommunikations- und Therapieprozessen das reale Gegenüber von Therapeuten und Patienten durch Online-Interventionen ersetzen oder zumindest ergänzen zu wollen. In dieser Situation scheint sich eine Kluft aufzutun zwischen den Analytikern, die eine virtuelle (Skype, Teleanalyse) Kommunikation grundsätzlich ablehnen, und denen, die (anscheinend) zwar gelegentlich neue Medien bei Interventionen und Therapien benutzen, jedoch dies eher nicht als neue, grundlegende Methoden und Werkzeuge reflektieren, und sich eher nicht theoretisch und praktisch damit auseinandersetzen. Kommunikation aber, sowohl als natürliches Mittel der Verständigung, als auch bei gestörten Verhältnissen, ist ein unverzichtbarer Mittel für ein friedliches und humanes Zusammenleben der Menschen. Die Verwendung von neuen Technologien in der psychoanalytischen und -therapeutischen Praxis kann und soll kein ausschließliches Mittel sein. Therapien machen immer (auch) persönliche Kontakte notwendig. Diese professionelle Gewissheit jedoch schließt nicht aus, dass auch virtuelle Mittel als Methoden und Werkzeug benutzt werden. Jeder Psychoanalytiker, wie übrigens auch jeder Kommunikator bei individuellen und beruflichen Gesprächen, hat die Erfahrung gemacht, dass „sich psychische Probleme und Konflikte oder auch vermeintliche Gefährdungen der Übertragungsbeziehung durch zuviel Intimität sehr wohl mit Hilfe technologischer Neuerungen bewältigen (lassen)“.

Die Autorinnen und Autoren verstehen ihre Reflexionen und Erfahrungsberichte über Online-Interventionen als einen ersten, zaghaften wie innovativen Versuch, den Cyberspace als „virtuelle Realität“ in die therapeutische Arbeit einzubringen, und zwar nicht als etwas sensationell Neues, sondern als ein virtuell-reales Anderes zu definieren: „Virtuelle Realität ist eine auf Distanz und körperlosem Selbst aufgebaute Form der Kommunikation“.

Aufbau und Inhalt

Neben der Einführung in das Cyberspace-Wagnis durch Luigi Caparrotta und Alessandra Lemma, wird der Sammelband in sieben Kapitel gegliedert.

  1. Im ersten setzt sich der Londoner Psychoanalytiker Andrea Sabbadini mit „Neue Technologien und psychoanalytisches Setting“ auseinander;
  2. im zweiten reflektiert der US-amerikanische Psychiater Glen Gabbard „Cyberpassion – E-rotische Übertragung und Internet“;
  3. im dritten informiert die Washingtoner Supervisionsanalytikerin Jill Savage Scharff über „Klinische Probleme bei Telefon- und Internetanalyse“;
  4. im vierten diskutiert die französische Psychoanalytikerin Florence Guignard über „Psychische Entwicklung in einer digitalen Welt“;
  5. im fünften analysiert Alessandra Lemma „Eine Ordnung der reinen Dezision. Aufwachsen in einer virtuellen Welt – das Körpererleben des Jugendlichen“;
  6. im sechsten macht der italienische Lehr- und Supervisionsanalytiker Vincenzo Bonaminio mit seinem Beitrag „‚Eine vollkommene Welt – aber wie wenig vollkommen‘. Klinisch-psychoanalytische Anmerkungen zu Adoleszenz und virtueller Realität“;
  7. und im siebten Kapitel schließlich berichtet die Londoner klinische Psychologin Heather Wood über „Internet-Straftäter aus Schuldbewusstsein“.

Schon die Vielfalt der Themenstellungen macht deutlich, dass sich hier ein runder Tisch zusammengefunden hat, an dem die unterschiedlichen, in der therapeutischen Theorie und Praxis auftretenden Phänomene einer „virtuellen Realität“ diskutiert werden. Es sind Fragen, die nicht von vornherein auch Antworten und Lösungsvorschläge parat haben, wie etwa die von Andrea Sabbadini, „ob die gleichzeitige Anwesenheit der analytischen Dyade im selben physikalischen Raum als conditio sine qua non für den Ablauf des psychoanalytischen Prozesses gelten muss“.

Es sind die Erfahrungen aus dem klinischen Fallbeispiel von Glenn Gabbard, dass „das Tippen der E-Mail-Nachrichten (der Patientin, JS).. einen Übertragungsraum für das Spiel mit neuen Varianten ihrer selbst (eröffnete)“. Jill Savage Scharff zeigt Möglichkeiten der Nutzung von Teleanalysen auf, „ob sie ein funktionales Pendant zur persönlichen Analyse ist, soweit es um die Anregung zum Träumen, um die Förderung von freier Assoziation, Widerstand und Übertragungs-Gegenübertragungs-Erleben geht“.

Florence Guignard stellt realistisch fest: „Wir können nur so verfahren, wie wir es tun – nie werden wir aufhören, die Innenwelt des Psychischen zu besetzen, denn sie bildet das Material, auf dem unsere Arbeit aufbaut“; Alessandra Lemma erkennt, „dass sich die Verschmelzung von Körper und Maschine zwecks Zugang zum Cyberspace bei gefährdeten Jugendlichen negativ auf den Verlauf der Adoleszenz und speziell auf die Fähigkeit, die Realität des Körpers in die Selbstrepräsentanz einzubeziehen, auswirken kann“; Vincenzo Bonaminio analysiert: „Tritt eine bestimmte, weitgehend an Familienkreis und Schriftkultur gebundene Akkulturation ab zugunsten einer neuen, die auf audiovisuellen Medien aufbaut … , dann steht ein ‚unvorbereitetes Denken‘ vor der mühseligen, traumatisierenden Aufgabe, die Verbindungen zu festigen, die diese neue Akkumulation scheinbar mit sich bringt, während sie eigentlich … gar nicht da sind“.; und Heather Wood analysiert bei seiner therapeutischen Arbeit mit masochistischen Patienten: „Das eigene illegale Verhalten empfanden sie überdies als Hilferuf, als Signal, das die Gefahr anzeigte, in der sie sich vermeintlich befanden“.

Fazit

Die Analysen der Diskrepanzen zwischen Cyberspace und Cyberzeit sind wichtige Erkenntnismomente beim Einsatz von virtuellen Medien (nicht nur) in der Psychoanalyse. Wenn es richtig ist, dass in den therapeutischen Praxen sporadisch, zufällig und ungeplant, wie auch regelmäßig und gezielt virtuelle Methoden eingesetzt werden, braucht es der theoretischen Vergewisserung darüber, was der Cyberspace mit den Menschen macht. Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes „Psychoanalyse im Cyberspace“ setzen den Titel mit einem Fragezeichen. Für Professionelle ist auch ein Ausrufezeichen notwendig, nämlich sich der Vor- und Nachteile, der Möglichkeiten und Zufälligkeiten der „virtuellen Realität“ bewusst zu sein!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 14.10.2016 zu: Alessandra Lemma, Luigi Caparrotta (Hrsg.): Psychoanalyse im Cyberspace? Psychotherapie im digitalen Zeitalter. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2016. ISBN 978-3-95558-177-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21772.php, Datum des Zugriffs 10.10.2024.


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