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Wilhelm Körner, Ullrich Bauer et al.: Prävention von sexualisierter Gewalt in der Primarstufe

Rezensiert von Dr. Miriam Damrow, 12.10.2017

Cover Wilhelm Körner, Ullrich Bauer et al.: Prävention von sexualisierter Gewalt in der Primarstufe ISBN 978-3-7799-3600-8

Wilhelm Körner, Ullrich Bauer, Ina Kreuz: Prävention von sexualisierter Gewalt in der Primarstufe. Manual für Lehrerinnen und Lehrer. Das IGEL Programm. Mit Online-Materialien. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2016. 184 Seiten. ISBN 978-3-7799-3600-8. D: 24,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,10 sFr.

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Thema

Der Band stellt das evaluierte Präventionsprogramm IGEL für den Einsatz in Grundschulen vor.

Aufbau

Die Autor*innen stellen das Präventionsprogramm in sieben Kapiteln vor.

  1. Nach dem Vorwort (S. 9) und der Einleitung (S. 11-15) werden im ersten Kapitel Basis-Informationen vermittelt (S. 16-55).
  2. Im zweiten Kapitel wird das IGEL Programm im Unterricht thematisiert (S. 56-81).
  3. Das 3. Kapitel stellt die Checkliste für die Lehrkräfte vor (S. 82-88).
  4. Das 4. Kapitel ist Elterninformationen und Elterngesprächen gewidmet (S. 89-107).
  5. Im 5. Kapitel sind Zusatzinformationen (z.B. zu sexuellem Kindesmissbrauch) versammelt (S. 108-155).
  6. Das 6. Kapitel informiert über bisherige Präventionsprogramme) (S. 156-168).
  7. Das 7. Kapitel stellt die Evaluationsergebnisse zum IGEL Programm vor (S. 169-175).

Das Literaturverzeichnis beschließt den Band (S. 176-183).

Inhalt

Im ersten Kapitel werden in sieben Unterkapiteln Basisinformationen zu sexueller Gewalt an Kindern vermittelt.

  • Im ersten Unterkapitel folgen unter dem Titel Grundwissen Informationen u.a. zu begrifflichen Ebenen und Definitionen, Täterstrategien, Folgen und Schule als Schauplatz sexueller Gewalt.
  • Im 2. Unterkapitel wird die Prävention für Schüler*innen thematisiert. Darin finden sich Informationen sowohl zu dem, was in Präventionsprogrammen gemacht wird (mit einer eher theoretisch basierten Erklärung, z.B. zur Verhaltensprävention und inhaltlichen Elementen), Kritik an bisherigen Präventionsprogrammen (mit der Unterscheidung der Gefühle), Anforderungen an good practice im Bereich der Prävention und einem konkreten Beispiel von good practice im Bereich der schulischen Prävention. Das Unterkapitel schließt mit den Empfehlungen des Runden Tisches der Bundesregierung.
  • Das dritte Unterkapitel widmet sich einer Kultur der Aufmerksamkeit, in der insbesondere die Schule als potenzieller Tatort in den Mittelpunkt gerückt wird.
  • Im vierten Unterkapitel wird auf zentrale Aspekte beim Umgang mit Vermutungen und dem Verdacht auf sexuellen Missbrauch rekurriert – hier stehen insbesondere der Umgang mit Aufdeckungen und Berichten, Schweigen und Gespräche mit Betroffenen im Vordergrund.
  • Im fünften Unterkapitel werden Einwände gegen die Klärung durch Lehrkräfte vorgebracht, die sich im Wesentlichen auf eigene Erfahrungen (der Programmdurchführenden) stützt.
  • Das sechste Unterkapitel widmet sich dem Klärungsprozess, während
  • das 7. Unterkapitel eine Skizze zur Entwicklung von Schutzkonzepten für Grundschulen beinhaltet.

Im 2. Kapitel wird das IGEL Programm im Unterricht vorgestellt. In fünf Unterkapiteln wird darauf eingegangen, welche Präventionsprinzipien als relevant erachtet werden, was es vor der Durchführung zu beachten gilt, aber auch, warum Selbstreflexion der Lehrkräfte einen großen Stellenwert einnimmt (inklusive einiger Reflexionsanregungen). Zudem werden Materialien und deren Beschaffungsmöglichkeit vorgestellt, bevor im 5. Unterkapitel in das eigentliche Programm eingeführt wird. Konzipiert als Lehrstundenprogramm, unterteilt es sich in 7 Stunden. Im Anschluss an die Stundenkonzeptionen werden einige der Materialien genauer vorgestellt (der IGEL Rap, die IGEL Schülermappe etc.)

Das dritte Kapitel beinhaltet eine Checkliste für Lehrerinnen und Lehrer zur Klärung eines Verdachtes auf sexualisierte Gewalt, die als Notfallplan diskutiert wird. In 18 Paragraphen werden Fragen vorgestellt, die den Umgang mit auftretenden Krisen moderieren. Einige dieser Fragen werden kurz angerissen:

  • „Weiß ich, wie ich mit Krisen während des IGEL Trainings umgehe?“,
  • „Sind mir Klärungshindernisse bewusst?“,
  • „Habe ich mein Gesprächsverhalten trainiert?“,
  • „Habe ich mich informiert, wie die Expertinnen und Experten zur Stellung einer Strafanzeige stehen und wie sie die Aussagen von Kindern dokumentieren?“.

Zu allen 18 Paragraphen werden entweder Hinweise gegeben oder die Mindeststandards aufgeführt.

Im vierten Kapitel wird auf Elterninformation und Elterngespräche rekurriert. In drei Abschnitten wird sowohl allgemein in Elternbildung eingeführt, es werden Strukturierungsvorschläge zur Gestaltung von Elternabenden unterbreitet und Vorschläge für Elternbriefe gemacht.

Das 5. Kapitel informiert noch einmal zusätzlich über sexuellen Kindesmissbrauch, Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Darin werden vertiefende Informationen zu Formen von Gewaltanwendungen, Häufigkeiten, Folgen, aber auch zu alltäglicher und sexualisierter Gewalt in der Schule gegeben.

Im 6. Kapitel wird ein Überblick über bisherige Präventionsprogramme vermittelt. Darin wird „… über Konzipierung, Wirksamkeit und Evidenz nationaler und internationaler schulbasierter Präventionsprogramme von sexualisierter Gewalt“ informiert (S. 156).

Evaluationsergebnisse zum IGEL Programm werden im 7. Kapitel vorgestellt, wobei nach Prozess- und Ergebnisevaluation unterschieden wird.

Ein Verzeichnis der Literatur beschließt den Band.

Diskussion

Das ausführliche und weitgehende 1. Kapitel gibt einen weitreichenden Überblick. Auf rund 40 Seiten werden Basisinformationen gegeben, die ein Themenspektrum von Grundwissen über Prävention, Achtsamkeitskultur etc. abdecken. Neben den solide dargestellten Fakten fällt jedoch auf, dass mehrfach auf Klärungsprozesse (auch und gerade durch Lehrkräfte) verwiesen wird. So wird zwar im Unterkapitel 1.5 auf Einwände gegen die Klärung durch LehrerInnen eingegangen und diese Einwände auch dargestellt, das darauffolgende Unterkapitel stellt jedoch den Klärungsprozess in den Mittelpunkt. Begründet wird dies mit dem gefühlten Handlungsdruck der Opfer, sich jetzt (sofort) ihren Lehrkräften anzuvertrauen (auch nach dem Hinweis auf Informationsweitergabe). Insofern wäre es hier weitaus sinnvoller gewesen, das Unterkapitel nicht mit Klärungsprozess zu betiteln, sondern eher auf Möglichkeiten des Umgangs und der Gesprächsführung hinzuweisen.

Das zweite Kapitel beinhaltet das IGEl-Programm. Auf weniger als 30 Seiten wird das Programm vorgestellt. Kurz werden auf Seite 58 die Besonderheiten umrissen, die im Wesentlichen auf kindgerechte Inhalte, keine externen Fachleute, modularen Aufbau fokussieren und in 7 Unterrichtsstunden bzw. -einheiten vermittelt werden. Zusätzlich werden Materialien mit eingebunden (IGEL Rap, Kopierblätter etc.). Innerhalb der 7 Stunden wird in der 1. Stunde in das Thema eingeführt, in der 2. Stunde sexueller Missbrauch thematisiert, in der dritten Stunde Körperwissen erarbeitet, in der 4. Stunde das Thema Berührungen angesprochen, in der 5. Stunde das Thema Geheimnisse, in der 6. Stunde das Erkennen (und Bewerten) von Grenzsituationen und die 7. Stunde ist das Zusammentragen / die Reflexion der Themen angedacht. Äußerst kritisch (und in dieser Zusammenstellung nicht logisch nachvollziehbar) ist eine Thematisierung sexueller / sexualisierter Gewalt zu sehen, wenn erst danach auf Körperwissen rekurriert wird. Es drängt sich der Verdacht auf, dass nach dieser Themenzusammenstellung sexueller Kindesmissbrauch außerhalb des Körpers (und des Körperwissens) geschieht.

Das dritte Kapitel fokussiert eine Checkliste mit Fragen, die von Lehrkräften bejaht werden sollten (S. 83-85). In dieser Checkliste sind sowohl Fragen zum eigenen Verhalten als auch zur strukturellen Verankerung enthalten. Problematisch erscheinen jedoch Fragen, die im Wesentlichen auf eine Ja-/Nein-Antwort zielen, z.B. „Habe ich mein Gesprächsverhalten trainiert?“. Auch die darunter aufgeführten Mindeststandards, z.B. „ich stelle kurze Fragen, ich vermeide suggestive Fragen“ etc. und die zitierten Empfehlungen von Deegener verstärken den Eindruck, es sei DOCH (mindestens implizit) Aufgabe der Lehrkräfte, erste Ermittlungshinweise zu finden / zu vertiefen – ganz abgesehen davon, dass einige selbstverständlich sein sollten, z.B. eigene Gefühle nicht auf das Kind zu übertragen.

Das vierte Kapitel zur Elterninformation beschreibt Elternabende und Elternbriefe (zur vertiefenden Information der Eltern zuhause), die in leichter Sprache verfasst sind. Praktische Erfahrung vieler Lehrkräfte (und auch vieler päd. Fachkräfte in vorschulischen Einrichtungen) bleibt jedoch eine in der Regel geringe Beteiligung der Eltern. Diese Erfahrung wird auch hier wiedergegeben, gleichzeitig werden Vorschläge zur Beteiligungserhöhung gemacht – ein Vorschlag weist auf Statuserhöhung hin „Um das Interesse der Eltern dafür zu wecken, empfehlen sie [die Lehrkräfte] einen Experten mit Doktortitel einzuladen“ – begleitender Kommentar der AutorInnen des Bandes „Es werden vermutlich eher selten promovierte Fachleute zur Verfügung stehen, insbesondere, wenn die Veranstaltung nichts kosten darf“ (S. 90 / 91).

Im fünften Kapitel werden vertiefende Zusatzinformationen gegeben zu Formen von Gewaltanwendungen, Häufigkeiten, Folgen, aber auch im Zuschnitt auf Schule Informationen zu alltäglicher und sexualisierter Gewalt in der Schule gegeben. Beginnend mit einem Praxisbeispiel-Zitat (S. 133) und einem Fokus auf Machtmissbrauch durch Lehrkräfte, wird in einem eher kursorisch anmutenden kurzen Abschnitt auf sexualisierte Gewalt in der Schule verwiesen. Hier hätte ein ausführlicheres Eingehen auf unterschiedliche Ebenen des Machtmissbrauchs, unterschiedliche Facetten und unterschiedliche Perspektiven Not getan. Es erscheint für viele Lehrkräfte nachvollziehbar schwierig, Verdachtsmomente gegen Kolleg*innen aufrechtzuerhalten, wenn unklar bleibt, wann, wo und in welcher Form sich welche Form sexueller Gewalt zugetragen hat. Diese kollegiale Zerreißprobe wird kaum adressiert – lediglich ein kurzer Halbsatz verweist auf inhärente und implizite Spannungen: „…ist es in anderen Fällen oft schwierig, das Verhalten der Lehrperson einzuschätzen und zu bewerten“ (S. 134). Das von den Autor*innen des Bandes immer wieder an verschiedenen Stellen aufgegriffene eigene Praxisbeispiel [in dem einem bestimmten, als schwierig eingeschätzten Kind als Opfer nicht geglaubt wird] zur Nicht-Glaubwürdigkeit von Opfern hätte hier ausdrücklich noch einmal aufgegriffen und behandelt werden können – es kann, sollte, müsste Opfern sexueller /sexualisierter Gewalt auch dann vertraut werden, wenn sie nicht eigenen Opfervorstellungen (klischeehaft: zierlich, klein, niedlich) entsprechen.

Im sechsten Kapitel wird eine Abgrenzung zu bisherigen und ein Vergleich zum IGEL Präventionsprogramm vorgeschlagen. Die Autor*innen rechtfertigen darin die Verschlankung ihres Programms (Lehrkräfte werden durch den Besuch von 2 Workshops ausreichend für die Präventionsarbeit geschult) auf 7 Stunden und den Verzicht auf die Einbindung externer Fachleute. Damit wird Prävention und Präventionsarbeit unter das Primat der Ökonomisierung gestellt – mal wieder…

Im siebten Kapitel werden Evaluationsergebnisse des IGEL Programms dargelegt: Darin werden sowohl förderliche Faktoren, Hemmnisse, Hindernisse, aber auch Verbesserungspotenziale vorgestellt. Die darin aufgeführten Vorschläge (zeitliches Zusammenziehen von Workshops und Programmdurchführung, Kopplung an Sexualkundeunterricht) lassen es schwierig erscheinen, dem IGEl Programm Nachhaltigkeit zu attestieren. Im Hinblick auf nachhaltige Ergebnisverankerung (Ergebnisevaluation) wird das IGEL Programm als kurz- bis mittelfristig wirksam eingeschätzt – erforderlich in der Präventionsarbeit sind hingegen auch langfristig wirksame Programme.

Fazit

Mit dem IGEl Programm wird ein niedrigschwelliges Präventionsprogramm für den Einsatz in Grundschulen vorgelegt. Eher problematisch erscheinen die Dauer (7 Stunden), die Nichtberücksichtigung bzw. mangelnde Sensibilität gegenüber kulturellen / religiösen Unterschieden.

Rezension von
Dr. Miriam Damrow
Hochschule Magdeburg-Stendal
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Es gibt 48 Rezensionen von Miriam Damrow.

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Zitiervorschlag
Miriam Damrow. Rezension vom 12.10.2017 zu: Wilhelm Körner, Ullrich Bauer, Ina Kreuz: Prävention von sexualisierter Gewalt in der Primarstufe. Manual für Lehrerinnen und Lehrer. Das IGEL Programm. Mit Online-Materialien. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2016. ISBN 978-3-7799-3600-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21773.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.


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