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Jost Schieren (Hrsg.): Handbuch Waldorfpädagogik und Erziehungs­wissenschaft

Rezensiert von Ansgar Martins, 19.04.2017

Cover Jost Schieren (Hrsg.): Handbuch Waldorfpädagogik und Erziehungs­wissenschaft ISBN 978-3-7799-3129-4

Jost Schieren (Hrsg.): Handbuch Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2016. 1016 Seiten. ISBN 978-3-7799-3129-4. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 64,30 sFr.

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Thema

Die Waldorfschulen sind weithin beliebt und doch umstritten: Ihr Ideengeber Rudolf Steiner wollte mit einer übersinnlich-empirischen Wissenschaft, der sog. Anthroposophie, geistige Hintergründe von „Weltenall und Seelengrund“ erschließen. Mit diesem Selbstverständnis verweigerten sich Waldorfschullehrer lange Zeit profanen bildungswissenschaftlichen Einsichten, während sie von deren akademischen Vertretern spöttisch betrachtet wurden. Das Handbuch ist ein Versuch, beide Positionen zu überschreiten und eine Diskussion anthroposophisch-waldorfpädagogischer Aspekte in einem wissenschaftlichen Rahmen vorzunehmen.

Herausgeber

Jost Schieren wurde zur Naturphilosophie Goethes promoviert (vgl. Schieren 1998), unterrichtete an der Rudolf Steiner-Schule Dortmund und ist seit 2008 Professor für Schulpädagogik und Waldorfpädagogik sowie Leiter des Fachbereichs Bildungswissenschaften an der Alanus-Hochschule für Kunst und Gesellschaft (Alfter).

Entstehungshintergrund

Der Einleitung zufolge geht das Buch auf das 2011 durch Schieren und Walter Riethmüller (Pädagogische Forschungsstelle beim „Bund der Freien Waldorfschulen“) initiierte Forschungskolloquium „Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft“ zurück. Dessen Ziel war es, „proaktiv den Dialog der Waldorfpädagogik mit der Erziehungswissenschaft zu befördern.“ Dabei sollte weniger die strittige „grundsätzliche Reflexion über das Wissenschaftsverständnis der Anthroposophie“ Thema sein als die konkrete Vermittlung mit den einzelnen „Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft“. (S. 20) Die Kapitel des Bandes entsprechen den dabei fokussierten Feldern. Durch diese pragmatische Ausrichtung soll aber auch ein „breiter und offener Forschungsdiskurs rund um die Waldorfpädagogik innerhalb der Allgemeinen Erziehungswissenschaft mit angestoßen werden“. (S. 23) Die Beiträge des Handbuchs wurden entsprechend meist von Autoren mit anthroposophischer und wissenschaftlicher Ausbildung verfasst.

Aufbau

Das Handbuch umfasst – neben einer Einleitung des Herausgebers und einem Epilog von Volker Frielingsdorf und Christian Boettger – neun Kapitel mit den Ober-Themen:

  1. Epistemologie
  2. Anthropologie
  3. Entwicklungspsychologie
  4. Lerntheorie
  5. Didaktik
  6. Professionstheorie
  7. Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik/Reformpädagogik
  8. Waldorfpädagogik und Anthroposophie
  9. Einzelthemen

Jedes Kapitel enthält mehrere (zwischen zwei und sechs) einzelne Aufsätze von unterschiedlichen Autoren. Kapitel 1 bis 8 werden durch eine separate Einleitung mit Beitrags-Übersicht eröffnet. Im Ganzen sind das 44 Texte.

Inhalt

Schieren erinnert in der Einleitung an die Rezeptionsgeschichte der Waldorfpädagogik: weltweiter Erfolg, (erziehungs-)wissenschaftliche Polemik gegen die anthroposophischen Grundlagen sowie die neuere „empirische Wende“ (S. 13), in deren Rahmen die pragmatischen Perspektiven sozialwissenschaftlicher Befragungsstudien die Grundsatzdebatten über die Esoterik Rudolf Steiners ablösten und den Schulen „ein relativ gutes Zeugnis“ (S. 14) ausstellten. Dabei bemängelt Schieren, dass die Waldorf- als Privatschulen vielfach einer „bourgeoisen Inselwelt“ (S. 15) entsprächen, und beschreibt die Versuche einer Öffnung für wissenschaftliche Perspektiven – unter anderem (aber längst nicht nur) im Umfeld der Alanus-Hochschule. Vorher habe „die Waldorfschule über Jahrzehnte in einer Art esoterischen Schmuddelecke existiert[…]“. 2011 habe überdies der Wissenschaftsrat eine Hochschulakkreditierung der Mannheimer Waldorflehrerausbildung abgelehnt, weil er die Verabsolutierung einer „außerwissenschaftlichen Erziehungslehre“ ablehnte. Dieses Anerkennungsproblem der Waldorfinstitutionen sei „durchaus auch selbstverursacht.“ (S. 18) Damit plädiert Schieren für die im Aufbau befindlichen Versuche, den „Selbstvergewisserungscharakter“ der Waldorf-Praxis für Einsichten aus dem bildungswissenschaftlichen „Fachdiskurs“ zu öffnen (S. 19) und formuliert nochmals die Hoffnung, damit auch eine akademische Akzeptanz dieser Pädagogik zu befördern.

Das erste Kapitel – Epistemologie – enthält nach einer Einleitung von Schieren zwei Beiträge von Johannes Wagemann und Marcelo Da Veiga. Wagemanns Aufsatz „Erkenntnisgrundlagen der Waldorfpädagogik“ argumentiert für deren Plausibilität aufgrund ihres umfassenden Charakters: Im Gegensatz zu selbst gesetzten Begrenzungen der akademischen Wissenschaften könne man in der anthroposophischen Pädagogik sogar die esoterischsten Termini Steiners konsequent aus den Grundlagen seiner Erkenntnistheorie erschließen. Da Veiga geht gegenüber diesem integralen Anspruch eher in Einzelheiten. Er vergleicht die anthroposophischen „Fragestellungen“ – unter Abgrenzung von einer metaphysischen Steiner-Lesart – mit einer phänomenologischen Perspektive sowie dem Wahrheitsanspruch der analytischen Philosophie. Alle drei sieht er „im Gegensatz zu bloß historisierend hermeneutischen Tendenzen der kontinentalen Philosophie“. (S. 111)

Kapitel 2 – Anthropologie – wird ebenfalls von Schieren eingeleitet, der in seinem Aufsatz „Freiheit als anthropologische Perspektive“ dafür plädiert, das normative pädagogische Menschenbild der Waldorfschulen phänomenologisch zu entwickeln, durchaus aber dabei einer anthropologisch enthaltsamen Erziehungswissenschaft entgegenzustellen. Im ersten Aufsatz des Kapitels versucht Christian Rittelmeyer, die jüngere Wiederentdeckung der „Sinnlichkeit“ mit Waldorf-Grundsätzen zu ergänzen. Albert Schmelzer geht exemplarisch mit einem Waldorfkollegium die Übersetzung konkreter „menschenkundlicher“ Thesen Steiners in die methodisch-didaktische Praxis nach, wo sie sich als „Quelle von Orientierung und Inspiration“ (S. 178) bewährten.

Kapitel 3 – Entwicklungspsychologie – umfasst die meisten Beiträge und wird von Schmelzer eingeleitet, der an die waldorfpädagogisch grundlegende Maxime einer Entwicklung in Sieben-Jahres-Schritten erinnert, mit denen zusammenhängend sich „physischer Leib“, „Ätherleib“, „Astralleib“ und „Ich“ herausbildeten. Im ersten Aufsatz weist Christian Rittelmeyer erziehungswissenschaftliche Kritik daran zurück, indem er an die ungebrochene Bedeutung von Entwicklungspsychologie erinnert. Dabei erwiesen kognitionswissenschaftliche, psychoanalytische und biologische Theorie-Ansätze sich als einseitig, wogegen wiederum die umfassenden Perspektiven der Anthroposophie hilfreich sein könnten. Auch ein Beitrag von Albert Schmelzer rekonstruiert Kritik am anthroposophischen Entwicklungskonzept und arbeitet deren sachliche Kernmotive heraus, bevor er eine eindrucksvolle Reihe von möglichen Quellen für Steiners Entwicklungsbegriff aufzählt. Peter Loebell nennt akademisch anerkannte Ansätze, die Steiners Konzept strukturell ähnelten und beschreibt, Steiner sei es trotz seiner schematisch wirkenden Theorie besonders um die individuelle Entwicklung gegangen. Außerdem habe es seine praktischen Vorteile, die Reifungsstadien so spät anzusetzen und den Lernenden dadurch Zeit in einer sicheren Atmosphäre zu schaffen. Walter Riethmüller nähert sich dem Thema am Beispiel der frühen Kindheit, Axel-Föller Mancini und Bettina Berger bearbeiten die Bedeutung der Steinerschen „Rubikon“-Phase (um das neunte Lebensjahr) in der Waldorf-Theorie. Anhand des „Jugendalter[s]“ plädiert im letzten Aufsatz des Kapitels Wenzel M. Götte für einen Dialog der Waldorfpädagogik mit Befunden der Hirnforschung.

Kapitel 4 – Lerntheorie – beginnt mit einer Einleitung von Peter Loebell. Im Anschluss gibt Wolfgang Nieke einen breit gefächerten Überblick zum „Lernen aus bildungswissenschaftlicher Sicht“ und nennt Sinn, Gesundheit und Individualität als Ergebnisdimensionen von Lernprozessen. Peter Loebell stellt unterschiedliche Befunde der „Lernforschung“ der anthroposophischen Sichtweise gegenüber. Auch ein weiterer Beitrag von Schieren reflektiert Grundprinzipien des Lernens, wobei er besonders darum bemüht ist, diese kohärent von der anthroposophischen Erkenntnistheorie – neben Steiner wird Herbert Witzenmann genannt – bis zu einzelnen Praxisbeispielen zu entwickeln. Anhand ihrer besonderen Zeugnisse entwirft und evaluiert Philipp Marzog die Waldorf- als Feedback-Kultur. Er arbeitet aber auch spezielle Rückwirkungen der waldorfpädagogischen Ansätze auf die Kriterien der „Feedbackkompetenz“ heraus.

Kapitel 5 – Didaktik – leitet Wilfried Sommer ein, der auch den ersten Beitrag verfasst hat: Es geht um die „Rolle der Allgemeinen Didaktik in der Waldorfpädagogik“. Didaktik wird dabei von einer bildungstheoretischen und einer praktischen, „erkenntnis-übende[n]“ (S. 476) Seite her verstanden. Über eine Rekonstruktion und Kritik Wolfgang Klafkis legitimiert Sommer dann die Anliegen der Waldorfpädagogik. Am Beispiel des „Epochenunterrichts“ zeigt er, wie Schülern Begrifflich-Allgemeines als „ontologisches Partizipationserlebnis“ (S. 488) am Konkreten aufgeschlossen werde. Angelika Wiehl schreitet aus den waldorfpädagogischen Grundannahmen über Lernen und Lehren phänomenologisch zur didaktischen Praxis fort und entwickelt so beide als Einheit. Schließlich diskutiert sie dies insbesondere am Gebiet der Entwicklungspsychologie. Letzteres Motiv vertieft Michael Zech, widmet sich dem systematischen Konflikt des genetisch-evolutiv angelegten Lehrplans mit dem gleichzeitigen Ideal einer besonderen Eigenverantwortlichkeit der Lehrkraft gegenüber ihren Zöglingen und entwickelt dafür die interne logische Architektur des Curriculums, die er mehr als Orientierungsstütze denn verbindliche Vorgabe interpretiert. Walter Riethmüller nimmt ein weiteres Beispiel in Augenschein: „Methodisch-didaktische Hinweise Rudolf Steiners zum Deutschunterricht der späten Klassenlehrer-Zeit“.

Kapitel 6 – Professionstheorie – beginnt mit einer Einleitung und einem weiteren Aufsatz von Riethmüller. Er rekonstruiert unter Berücksichtigung der empirischen Waldorf-Forschung die besondere Figur des „Klassenlehrers“ mit speziellen Tugenden und einer „Autorität“ jenseits bloß autoritären Zugriffs. Dieses Modell sei nach wie vor zeitgemäß. Auch Jürgen Peters verbindet die empirische Forschung zu Waldorf-Lehrern mit Steiners „Lehrertugenden“. Dabei widmet er sich insbesondere Zusammenhängen zwischen Erfolgserlebnissen und Gesundheit der Waldorflehrer. Albert Schmelzer entwickelt die anthroposophischen Thesen in Auseinandersetzung mit einer buddhistisch inspirierten „Pädagogik der Achtsamkeit“ weiter, die eine intensive Begegnung mit dem individuellen Schüler zum Ziel habe, aber auch „salutogenetisch“ und in der Sozialkompetenz spürbare Folgen zeige. Die Übung einer solchen achtsamen Wahrnehmung versteht Schmelzer auch als spirituelle Denk-Praxis.

Kapitel 7 – Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik/Reformpädagogik – leitet erneut Peter Loebell (mit einer knappen Übersicht zur Reformpädagogik) ein. In den folgenden Beiträgen wird insbesondere diskutiert, wie sinnvoll es sei, Waldorf- als Reformpädagogik einzustufen. Alle Autoren arbeiten in dieser Frage Parallelen heraus, kommen aber insgesamt zu einem kritischen Fazit. Wolfgang Nieke widmet sich dabei der Bewertung der Waldorfschule in der bildungswissenschaftlichen Diskussion, insbesondere dem Verhältnis von Anthroposophie und Unterrichtspraxis. Volker Frielingsdorf hebt die Frage detailsicher auf eine systematische Ebene. Er nennt dabei fünf Gemeinsamkeiten von Waldorfpädagogik und Reformpädagogik und ebenso viele Unterschiede. Peter Loebell wiederum stellt drei gemeinsame Themen der beiden Phänomene auf, spezifiziert aber den anthroposophischen Charakter der Steinerschen Erziehungslehre und betont abschließend noch einmal die Entwicklungsoffenheit des Waldorf-Konzepts.

Kapitel 8 – Waldorfpädagogik und Anthroposophie – leitet Wenzel M. Götte mit den Worten ein, es untersuche, „wie das Verhältnis Anthroposophie und Waldorfpädagogik zu sehen ist, wie es sein sollte oder sein könnte, wie es nicht sein sollte und ob es überhaupt sein dürfe.“ (S. 768) Er stellt heraus, die Autoren des Kapitels argumentierten aus zwei Perspektiven: Mit dem Anliegen, die „Hermetik“ der anthroposophischen Pädagogik „diskursfähig“ zu machen, oder aus einer sympathisierenden Außenperspektive. Eingangs führt Wolfgang Nieke seine Auseinandersetzung über die erziehungswissenschaftliche Kritik der Waldorfpädagogik weiter. Trotz einer Waldorf-befürwortenden Sicht bekräftigt er die Kritik im Hinblick auf den religiös-weltanschaulichen Charakter. Dem stellt er allerdings historische Beispiele von Rousseau bis Husserl zur Seite, denen die waldorfpädagogischen Ideale entsprächen. Johannes Kiersch reflektiert auf Steiners Weltanschauung, sofern sie Esoterik dem Wortsinn nach ist: eine geheime Lehre, die Grenzen der öffentlichen Besprechbarkeit beansprucht. Er spricht sich für das Recht der Schulen auf einen „Geheimnisraum“ aus. Jost Schieren stellt der wissenschaftlichen Anthroposophie-Kritik und einem traditionellen waldorfpädagogischen Hang zur selbstreferentiellen Introspektion eine klar umgrenzte Interpretation der Steinerschen esoterischen Erfahrungen als eines phänomenologischen Programms gegenüber. Dies führt zur Relativierung starker metaphysisch-ontologischer Annahmen und sucht Evidenz auf Ebene der Anregungen zu gewinnen, die anthroposophische Annahmen in der Praxis böten. Michael Zech rekonstruiert und kontextualisiert verschiedene Facetten von Steiners Geschichtsbegriff und geht dessen Problemfeldern und waldorfpädagogischen Konsequenzen nach. Das Evolutions- und Reinkarnationsverständnis der Anthroposophie bespricht Wolfgang Schad unter Einbezug insbesondere der Chronobiologie und des philosophischen Problems der Zeit. Daraus leitet er auch skizzenhaft das anthroposophische Erziehungsverständnis ab.

Kapitel 9 – Einzelthemen – enthält vier Stellungnahmen zu aktuellen Auseinandersetzungfeldern der anthroposophischen Pädagogik. Albert Schmelzer untersucht die Beziehung von Waldorf- und trans- bzw. interkultureller Pädagogik. Der Autor versteht dabei den anthroposophischen Beitrag als einen „zum Umgang mit dem Fremden aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive“. (S. 897). Schmelzer geht auch auf die von ihm mit betreute Interkulturelle Waldorfschule Mannheim ein, an der sich die praktische Relevanz seiner Überlegungen zeigt. Carlo Willmann stellt zeitgenössische religionspädgogische Diskussionsfelder vor und durchleuchtet die waldorfpädagogische Sonderstellung des Religionsunterrichts vor diesem Hintergrund. Den Konflikt von Anthroposophie und Medienpädagogik schildert Edwin Hübner, legt aber auch einen Versuch vor, den Umgang mit Medien in das anthroposophische Verständnis von Entwicklungspsychologie zu integrieren und somit einen Platz dafür im Waldorf-Curriculum zu schaffen. Michael Zech arbeitet die zentrale Funktion der „Selbstverwaltung“ der Schulen durch das Lehrerkollegium heraus.

Ein aphoristischer Epilog von Volker Frielingsdorf und Christian Boettger fordert nochmals eine Öffnung der Waldorfpädagogik ein, zu der die Weichen bereits gestellt seien. Die Autoren argumentieren unter Rekurs auf Goethe ebenfalls für eine pragmatische Akzeptanz der Waldorfpädagogik durch die Erziehungswissenschaft.

Diskussion

Die ganz unterschiedlichen Beiträge zusammenfassend zu diskutieren, ist nicht einmal asymptotisch möglich und verdeckt die Vielfalt der angeschnittenen Themen. An dieser Stelle mag es deshalb hilfreicher sein, die – durchaus bemerkenswerte – Position des Sammelbands in der zerklüfteten Diskussion um die anthroposophische „Erziehungskunst“ auszuloten.

Eine jüngere Stellungnahme zur Geschichtsschreibung der Steiner-Schulen arbeitet als Problem der Forschung insgesamt den untrennbaren Zusammenhang der spezifischen pädagogischen Praktiken mit einem durch Institutionen vertretenen anthroposophischen Deutungsmonopol heraus. Die Legierung von Methoden, Institutionen und Weltanschauung habe bisher eine Entmythologisierung Steiners und seiner Konzepte verhindert. „Whereas a school can transform itself from one day to the other, for instance, into a Freinet school, this is absolutely not the case for Waldorf schools. In order to receive the permission to call itself a Steiner or Waldorf school, the school has to pass a procedure of recognition. As a result, and somewhat unavoidably, some kind of polarisation emerges. One belongs to the camp of adherents or critics, and not only with regard to education, but also with regard to what concerns other anthroposophically inspired fields, such as medicine or agriculture.“ (Dhondt/van de Vijver/Verstraete 2015, S. 641) Die institutionell-weltanschaulichen Interessen geraten unweigerlich in Konflikt mit den weniger festgelegten Wissenschaften, wo diese abweichend oder kritisch Position beziehen. Demgegenüber versuchen viele Waldorf-Vertreter, die Widerspruchsfreiheit von Anthroposophie, Wissenschaft und Welt diskursiv durchzusetzen, idealisieren dabei Steiner und marginalisieren die real existierenden Probleme der Schulen. Die meisten Autoren der vorliegenden Publikation (hauptsächlich mit Ausnahme von Nieke) positionieren sich ebenfalls eindeutig und einseitig zugunsten der „Wissenschaftlichkeit“ der Anthroposophie.

Aber hier beginnen die Differenzen zur klassischen Waldorf-Literatur: Im vorliegenden Band bleiben die waldorfspezifischen Probleme in Theorie und Praxis keineswegs unsichtbar – im Gegenteil. Es wird versucht, diese klar zu beschreiben und auszuräumen, wozu mannigfaltige theoretische Ansätze erschlossen werden. Einige Autoren diskutieren die Esoterik Steiners überdies auf transparente Art und Weise. Auch Anthroposophie-externe Leser können daher aus dem Buch ungewöhnlich viel lernen. Man hat die um äußerste Klarheit bemühte Selbstverständigung eines akademisch orientierten waldorfpädagogischen Spektrums vor sich, keine rein apologetische oder hermetische Binnendiskussion. Dabei handelt es sich weitgehend um eine bewusstseinsphilosophische (und eben: phänomenologische) Re-Interpretation von Steiners metaphysisch-esoterischem Realismus. Es geht eher um die Beschreibung von „Prozessen“ als die Mitteilung von höheren Weisheiten. Manche Autoren knüpfen dafür an epistemologisch anspruchsvolle anthroposophische Positionen (etwa Herbert Witzenmanns) sowie außerhalb an ein breites Spektrum wissenschaftstheoretischer Ansätze an. Unterwegs findet man anregende hypothetische Systematisierungsvorschläge Steinerscher Betrachtungen. Exemplarisch seien die Beiträge zu Steiners Geschichtsbegriff oder zur religiösen Erziehung empfohlen, in denen anthroposophische Grundthesen eine aufschlussreiche Interpretation und Anordnung erfahren.

Zwei zentrale Schlagworte des Bandes lauten „phänomenologisch“ und „pragmatisch“. Durch diese methodische Beschränkung zwecks Gegenstandsorientierung können Theorie und Praxis der Waldorfpädagogik ausschnitthaft als Einheit rekonstruiert und bildungswissenschaftlichen Perspektiven angenähert werden. Der Aufsatz von Schad entspricht weitgehend dem traditionellen anthroposophischen Dozieren. In der Mehrzahl der Beiträge führt dagegen der Versuch, die Resultate der Esoterik Steiners heuristisch zu systematisieren, deren Wissenschaftsanspruch auf vielfältige und zum Teil überraschende Weise fort, so etwa wenn Da Veiga die analytische Philosophie als Parallele deutet. Der Wert der Diskussionen – nicht nur in Kapitel 9 – liegt dabei in den Einzelfall-Analysen: wo anthroposophische Annahmen und (breit) ausgewählte Praxisbeispiele konkret zueinander in Beziehung gesetzt werden. Den Beiträgen von Schmelzer und Schieren (um nur zwei zu nennen) gelingt es so etwa auf sehr klare Weise, das Verhältnis von anthroposophischen Motiven und konkretem Schulunterricht darzustellen. Der Band beherbergt im Resultat vielleicht einige der avanciertesten anthroposophischen Grundsatzreflexionen zur Waldorfpädagogik und zu Konzepten Steiners überhaupt. Diese kommen aber keineswegs plötzlich oder unerwartet, das Handbuch bündelt vielmehr eine Reihe bereits existenter Ansätze.

Insbesondere Schieren argumentiert für einen „methodische[n]“ „Anthroposophie-Verzicht“. (S. 805) Dieser soll nicht nur hinsichtlich der Wissensvermittlung geübt, sondern auch dem Versuch vorgeschaltet werden, Schüler nach dogmatisierten Schemata verstehen zu wollen. Hilfreich sei Anthroposophie da, wo sie Zugang zum „jeweiligen Erkenntnisobjekt“ (S. 806) ermögliche, statt ihn dogmatisch zu verstellen. Genau dieser „phänomenologische“ Zugang gilt jedoch freilich bereits als die Intention Steiners und keinesfalls als Korrektur. Die Mehrzahl der Autoren behandelt die Anthroposophie als Vertiefung und Erweiterung der einzelwissenschaftlichen Problemstellungen. Im Gegensatz zu Schierens einleitenden Bemerkungen hinsichtlich einer Beschränkung auf Teildisziplinen wird deren Selbstverständnis als Wissenschaft in den Beiträgen über etliche Seiten aufs Grundsätzlichste diskutiert und ausgelegt. Sie gilt weitgehend als das, was sie schon für Steiner war: die Integration einzelwissenschaftlicher Annahmen in ein idealistisch-monistisches, entwicklungsorientiertes Paradigma, dessen Reichweite sich von den Fundamenten der Erkenntnistheorie und Anthropologie bis in die alltäglichsten Details erstreckt. Bildungswissenschaftliche Kritik der Waldorfpädagogik wird ebenfalls diskutiert, aber meist als Missverständnis ihrer Möglichkeiten zurückgewiesen. Viele Autoren kritisieren zusätzlich eine orthodoxe waldorfpädagogische Haltung der Vergangenheit (und Gegenwart) als verkürzte Rezeption. Sie wird allerdings nicht als Problem der – selbst beanspruchten – wahren Anthroposophie betrachtet. So bleibt die Argumentation letztendlich oft zirkulär. Der Diskurs wird jedoch, wie gesagt, in steter Auseinandersetzung mit aktuellen oder grundsätzlichen Problemen der angeschnittenen Wissenschaftskontexte geführt. Hier greift dann Schierens pragmatisches Argument: Im Hinblick auf konkrete Fragen wird der Zirkel anthroposophischer Selbstreferenz durchbrochen. So bleibt zwar fraglich, ob das Buch, wie gewünscht, auf die nichtanthroposophische Diskussion um die Waldorfschulen Einfluss hat. Es lässt sich jedoch nicht genug betonen, dass die hier versammelten Positionen unbedingt berücksichtigt werden müssen, soll diese Diskussion ihren Gegenstandsbezug nicht verlieren.

Fraglich bleibt in diesem Rahmen auch, wie das Verhältnis dieser komplexen Perspektiven zur bestehenden Waldorf-Praxis aussieht, also ob das Handbuch eine bestehende Realität darstellt oder idealistische Perspektiven formuliert. Da viele Autoren an der Waldorf-Ausbildung beteiligt sind, darf die Vermittlung an neue Lehrergenerationen als sicher gelten. Bislang herrscht allerdings eher ein Selbstverständnis als verkannte wahrhafte Pädagogik vor. Ein Rezensent der Verbandszeitschrift „Erziehungskunst“ behandelte das Handbuch vorrangig als Dokument einer „von Anfang an“ (vgl. Weiss 2017) gegebenen waldorfpädagogischen Offenheit, die es akademisch zu rehabilitieren gelte, und kaum, sofern es selbstkritische Reflexion und Aufbruch darstellt. So ist anzunehmen, dass zwischen der Realität an den einzelnen Schulen und den im Band vorliegenden Stellungnahmen einige Unterschiede bestehen. Dazu ein (in aller Kürze greifbares) Detail: Michael Zech schreibt hinsichtlich der Rolle von Steiners Atlantis-Vorstellungen, es habe „sich inzwischen, von peinlichen Ausnahmen abgesehen, die Haltung durchgesetzt, das Atlantis-Thema im Gegensatz zu einer bis in die siebziger Jahre festzustellenden naiven Eingliederung in kulturgeschichtliche Unterrichtsdarstellungen, entweder gar nicht oder dezidiert als Mythos zu behandeln“. (S. 829) Im von Zech verfassten Eintrag zum Geschichtsunterricht im jüngsten Waldorf-Lehrplan ist von Atlantis auch nicht die Rede. (vgl. Zech, in: Richter 2016, S. 288f.) Die (digitale) Literaturliste enthält aber durchaus Bücher, die Atlantis als historisch-evolutionäre Realität behandeln. (etwa Heyer 1984) Die von Zech abgelehnte „naive Eingliederung“ wurde über die siebziger Jahre hinaus von offizieller Seite vertreten (vgl. etwa Pädagogische Sektion/Pädagogische Forschungsstelle 1996, S. 137ff.) und dürfte durchaus wirksam sein. Die Webseite „Waldorf-Ideen Pool“, auf der Waldorflehrer für Waldorflehrer Anregungen und Muster-Schulhefte zur Verfügung stellen, zeigt heute noch das klassische Programm: verschiedene Sintflut-Mythen, die auf Atlantis hin interpretiert werden, sodann theosophische Entwicklungsstufen wie „Ur-Indien“, denen Prophetenfiguren mit spezifischen Kulturleistungen zugeordnet sind. (www.waldorf-ideen-pool.de/faecher/geschichte/klasse-5, Abruf am 28.3.2017) Zech dagegen schreibt, die Kinder sollten lernen, „zwischen mythischen Selbstdarstellungen (‚so erklärten sich die Griechen ihre Herkunft‘) und historischen Beschreibungen, die auf heutigen Entdeckungen beruhen, [zu] unterscheiden.“ (in: Richter 2016, S. 288) Diese Ungleichzeitigkeit der Standpunkte im Waldorf-Milieu mag sich mittelfristig auflösen. Bevor aber der historisch gewachsene, folkloristische Waldorf-Kanon mit Inhalten wie „Ur-Indien“ (Iwan 2007, S. 28f., nennt diese Folklore das „Prinzip Kochlöffel“) nicht kritisch ins Bewusstsein gehoben ist, bleibt die retrospektive Legitimation der Waldorf-Praxis durch eine wie auch immer innovativ interpretierte Anthroposophie nach wie vor Apologetik. Eine akademisch orientierte neuere Waldorfpädagogik müsste sich durch eine eindeutig alternativen Praxis in den einzelnen Klassenzimmern bewähren und durch eine Literatur, welche die weiterwirkende Dogmatik offensiver zum Thema macht.

Es bleibt ein hoffnungsloses Bemühen, Kritik am okkulten Wissenschaftsanspruch der Anthroposophie durch dessen nochmalige Artikulation auf neuem Niveau zurückweisen zu wollen. Aber es kann auch nicht darum gehen, zu fordern, Waldorf möge sich einfach dem öffentlichen Schulsystem angleichen (das vielmehr gleichfalls Grundsatzkritik verdient) – und nicht darum, „die“ Bildungswissenschaft für eine fehlerfreie Instanz zu erklären, der alternative Schulen sich gefälligst fügen sollten. Denn die Waldorf-Praxis funktioniert nicht nur, sondern bringt auch einige bedenkenswerte Resultate hervor. Um diese weiterzuentwickeln, müsste es darum gehen, eine besonnene Distanz zum akademischen wie zum anthroposophischen Konformismus zu gewinnen, die erst das Motto „Erziehung zur Freiheit“ verdiente.

Fazit

Das Handbuch stellt zentrale Themen der Waldorfpädagogik vor, gehört aber nicht in die Kategorie Einführungsliteratur, sondern dokumentiert eher Standortbestimmungen aus einem produktiven, im Umbruch befindlichen Flügel der Waldorf-Bewegung. Dessen Denkbewegung kann man als pragmatische Wende beschreiben, die über anthroposophische Blickwinkel und Foren hinaus die einzelnen Bildungs- bzw. Erziehungsfragen konsultiert. Durch die Berücksichtigung von Fragestellungen und Theorien der akademischen Wissenschaften soll auch die eigene Praxis evaluiert, methodisch reflektierbar und auf deren Niveau gehoben werden. Daraus resultieren sehr unterschiedliche Studien zu Grundsätzen der anthroposophischen Pädagogik, oft in aufschlussreicher Weise an praktischen Details der Waldorfschulen durchgespielt und meist mit dem Ziel, nebenbei die „Wissenschaftlichkeit“ der Anthroposophie zu beweisen.

Im methodischen Zugriff wie in der faktischen Umdeutung Steinerscher Vorstellungen setzen einige der versammelten Autoren einen neuen Standard in der Waldorfliteratur. Dennoch fallen viele Argumente trotz ambitionierter Anlage in die traditionellen anthroposophischen Selbstdeutungen zurück. Auch die kritische bildungswissenschaftliche Forschung – deren wenige Protagonisten seit Jahrzehnten weitgehend bei der groben Analyse bestimmter anthroposophischer Punkte stehenbleiben (vgl. etwa die Kontinuitäten zwischen Ullrich 1986 und Ullrich 2015) – wird auf solche Positionen antworten müssen. Denn unter den Bedingungen eines postsäkularen, durch die empirische Sozialforschung gestützten Pragmatismus, den sie selbst mit befördert hat, wurde diese kritische Waldorf-Forschung von den anthroposophischen Mitdiskutanten innerakademisch überholt. Eben weil die Wahrheitsfrage einer relativistisch-pragmatistischen Würdigung weicht, kann ein anthroposophischer Standpunkt akademisch ebenso plausibel verteidigt werden wie sein Gegenteil. Die Wahrheit wurde von der Wirklichkeit verdrängt. Das sollte auf allen Seiten gleichermaßen zu Verunsicherung führen.

Literatur

  • Dhondt, Pieter/van de Vijver, Nele/Verstraete, Pieter (2015): The Possibility of an Unbiased History of Steiner/Waldorf-Education?, in: Contemporary European History, Vol. 24, Special Issue 4, S. 639-649.
  • Heyer, Karl (1984): Von der Atlantis bis Rom [Studienmaterialien zur Geschichte des Abendlandes, Bd. I], 4. Aufl., Stuttgart.
  • Iwan, Rüdiger (2007): Die neue Waldorfschule. Ein Erfolgsmodell wird renoviert, Reinbek.
  • Pädagogische Sektion am Goetheanum/Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen ([o. J.] 1996): Zur Unterrichtsgestaltung im 1. bis 8. Schuljahr an Waldorf/Rudolf Steiner-Schulen, Dornach.
  • Richter, Tobias (2016) (Hg.): Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschule, 4. Aufl., Stuttgart.
  • Schieren, Jost (1998): Anschauende Urteilskraft. Methodische und philosophische Grundlagen von Goethes naturwissenschaftlichem Erkennen, Bonn/Düsseldorf.
  • Ullrich, Heiner (1986): Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauung, Weinheim/München.
  • Ullrich, Heiner (2015): Waldorfpädagogik. Eine kritische Einführung, Weinheim/Basel.
  • Weiss, Leonhard (2017): Raus aus der esoterischen Schmuddelecke, in: Erziehungskunst, Februar 2017, www.erziehungskunst.de/artikel/zeichen-der-zeit/raus-aus-der-esoterischen-schmuddelecke/ (Abruf am 27.3.2017)

Rezension von
Ansgar Martins
M.A. Religionsphilosophie
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ISSN 2190-9245