Jörg Später: Siegfried Kracauer. Eine Biographie
Rezensiert von Ansgar Martins, 21.03.2017
Jörg Später: Siegfried Kracauer. Eine Biographie. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2016. 500 Seiten. ISBN 978-3-518-42572-5. D: 36,00 EUR, A: 37,10 EUR, CH: 47,90 sFr.
Autor
Der Historiker Jörg Später ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Freiburg (i. B.).
Thema, Anlass und Einleitung
Das Buch stellt die erste umfassende Biographie des jüdischen Schriftstellers Siegfried Kracauer (1889-1966) dar und erschien anlässlich von dessen 50. Todestag am 26. November 2016. Kracauers Beiträge (längst nicht nur) zur Soziologie, zum Journalismus und zur Literatur der Weimarer Republik oder zur Geschichte und Ästhetik des Films werden heute noch oft genannt, wenn auch im Verhältnis dazu selten zitiert. Wie Später feststellt, ist die sie verbindende „Lebensgeschichte so faszinierend, dass es ein Rätsel ist, warum bislang keine geschrieben wurde.“ (S. 13) Die Lücke füllt das Buch in 40 Kapiteln auf knapp 600 Seiten. In der Einleitung positioniert der Verfasser sich mit einer Sachorientierung, die dem Porträtierten gefallen hätte: Das Buch antworte nicht auf spezifische Forschungsprobleme, es sei „keinem Ansatz verpflichtet (aber vielen Ideen), sondern folgt einfach dem Protagonisten auf seinen vielfältigen Wegen.“ (S. 18)
Aufbau und Inhalt
Auf die Einleitung (Kapitel 1) folgt das zweite Kapitel zur Familiengeschichte sowie zum frühen Werdegang des promovierten Architekten, dessen Jugendschriften die Isoliertheit des modernen Subjekts beklagen und sich nach Anerkennung und irdischer „Heimat“ sehnen.
Im dritten Kapitel wird der Weg Kracauers in die Redaktion der „Frankfurter Zeitung“ sowie die konservative Kulturkritik um 1920 nach dem Ersten Weltkrieg Thema, der seine Texte jener Jahre zuzurechnen sind.
Das vierte, fünfte und siebte Kapitel folgen drei Aufsätzen Kracauers zur „Freundschaft“, die Einblick in die Weiterentwicklung seiner Gedankenwelt geben und prägenden Kontakten zugeordnet werden: Zunächst lernte Kracauer den bald innig geliebten Theodor Wiesengrund (später: W. Adorno) kennen, während er den Messianismus des späteren Freundes Ernst Bloch zurückwies. Auch die Suche nach religiöser Gemeinschaft in der Frankfurter „jüdischen Rennaissance“ um Martin Buber oder Margarete Susman vermochte ihn nicht zu befriedigen.
Im sechsten Kapitel schildert Später Kracauer im Kontext der frühen deutschen Soziologie, zu der er das Buch „Soziologie als Wissenschaft“ (1922) beisteuerte. Seine phänomenologische Weltorientierung mit metaphysisch-kulturpessimistischen Obertönen verschob sich in der Folge gemeinsam mit Adorno zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Kierkegaards Apologie des „Einzelnen“. Es war jedoch die prominent von Kracauers Idol Georg Lukács revitalisierte Verbindung von Marxismus und Philosophie, der er sich letztendlich (aber ebenfalls vorübergehend) verpflichtete.
Im achten Kapitel rekonstruiert Später Inhalt und Rezeption von Lukács´ „Geschichte und Klassenbewusstsein“ (1923) – einer von vielen querschnittartigen Exkursen im Buch, die Einblicke in Theoriegeschichte des 20. Jahrhunderts geben.
Im neunten Kapitel wird die berühmteste Leidenschaft Kracauers gewürdigt und kontextualisiert: sein Interesse an Filmen, deren neueste er regelmäßig in der „Frankfurter Zeitung“ besprach und später immer mehr ideologiekritisch auswertete.
Das zehnte Kapitel stellt die Redaktion dieser Zeitung vor. Wie Kracauer die Krisen und die Stabilisierungszeiten der Weimarer Republik durchlebte, erfährt man im elften und zwölften Kapitel. Seine theoretischen Reflexionen und ihre Methodik („Primat des Optischen“) in den Romanen und Studien, die er in jenen Jahre verfasste, lernt man im 13. und 14. kennen.
Das 15. Kapitel nimmt ein ständig präsentes Thema explizit auf und beschreibt die enge und konfliktreiche Verbindung Kracauers mit Adorno, Walter Benjamin und Ernst Bloch. Im sechzehnten zeigt sich an Kracauers Berliner Zeit um 1930 seine genaue und illusionslose Beobachtung der fatalen politischen Entwicklung in Deutschland. Später weist dabei etwa auf Kracauers bemerkenswert frühe und wenig beachtete Wahrnehmung des Antisemitismus als eines Zentralbestandteils der nationalsozialistischen Ideologie hin. (vgl. etwa S. 314) 1933 flohen Siegfried und seine Frau Lili (vormals Ehrenreich, 1893-1971) unmittelbar nach dem Reichstagsbrand nach Paris.
Die Kapitel 17-26 widmen sich ihren entbehrungsreichen Jahren in Frankreich, die als emotionale und geistige „Paralysierung“ (S. 297) beschrieben werden. Kracauer beendete verletzt seine Beziehungen nach Nazi-Deutschland, wie das 19. Kapitel rekonstruiert, im 20. und 21. erfährt man mehr über seine intellektuelle Arbeit nach der Flucht. Es entstanden die ersten Überlegungen zur später berühmten Filmästhetik, deren primärer und vergeblicher Zweck zunächst war, ein Stipendium bzw. einen Arbeitsplatz in den USA zu bekommen. Zuvor kam es jedoch über seine „Gesellschaftsbiographie“ des Komponisten Jacques Offenbach (1934) zum entscheidenden Streit mit den Freunden Benjamin und Adorno (Kapitel 24). Das exilierte „Institut für Sozialforschung“ um Max Horkheimer enttäuschte Kracauer, der sich wissenschaftliche und finanzielle Unterstützung erhofft hatte, verschiedentlich.
In seinen Kapiteln zu den Pariser Jahren schildert Später die existenzielle Not des Ehepaars Kracauer, die umso bedrückender scheint, als er ausführlich auf die jüdischen Flüchtlingsströme in Europa und die politischen Hürden eingeht, die sie überall erwarteten. Im 22. Kapitel erfährt man außerdem durch Siegfrieds Briefwechsel mit seiner Mutter und Tante mehr über die verzweifelte Lage der Juden in Frankfurt am Main. Im 26. und 27. Kapitel folgt Später der Flucht der Kracauers über Marseille und Lissabon nach New York, wo sie im April 1941 einreisten. Die Stadt begeisterte beide, die sich rasch als Amerikaner und nicht länger als Deutsche verstanden, auf Anhieb. Zunächst stellte sich Kracauer, hoch verschuldet, aber finanziert durch seine Frau und, schließlich, verschiedene kompliziert zu erreichende Stipendien, mit all seinen Kompetenzen in den Dienst der Feindanalyse, er erforschte wie bereits seit Paris die nationalsozialistische Propaganda und schrieb eine ideologiekritische Geschichte des deutschen Films. Diese Beobachtungen stellt Später in den eindringlichen Kapiteln 28-31 dar: Die Kapitel „Define your enemy: was ist der Nationalsozialismus“ und „Know your enemy: Psychologische Kriegsführung“ führen die intellektuellen Debatten zum Verständnis der nationalsozialistischen Gesellschaftsform aus, gehen ihren institutionellen Verankerungen nach und beschreiben Kracauers Bewegungen in diesem komplexen Umfeld. „Fear your enemy: Deportation und Judenmord“ widmet sich erneut der Korrespondenz mit der in Frankfurt verbliebenen Familie. Kracauers Tante und Mutter konnten trotz aller seiner Bemühungen nicht mehr ausreisen und wurden zu Opfern des nationalsozialistischen Massenmords. „Fuck your enemy: Von Hitler zu Caligari“ schildert Kracauers umstrittene Studie zur autoritären Sehnsucht in den Erzeugnissen des Weimarer Kinos.
Im 32. Kapitel kehrt man zur nach wie vor unsicheren finanziellen Situation von Lili und Siegfried Kracauer zurück. Erstere finanzierte das Paar zunächst durch eine Stelle in der US-amerikanischen Flüchtlingshilfe, während ihr Mann sich als „Klinkenputzer“ im Sinne seiner Sache betätigte.
Im 33 und 37. Kapitel wird die Ausarbeitung und Publikation seiner „Theorie des Films“ (1960) dargestellt, die seinen theoretischen Bruch mit der deutschen Sozialphilosophie am deutlichsten markiert. Dem stellt Später im 34. und 36. Kapitel Konfrontationen mit der Vergangenheit gegenüber: In Paris fanden sich verloren geglaubte Texte Kracauers wieder und es entwickelten sich – allerdings von Misstrauen begleitete – ausgewählte Korrespondenzen nach Deutschland. Kapitel 35 macht auf einen verhältnismäßig wenig beachteten Kontext Kracauers, seine Arbeit im Gebiet der empirischen Sozialforschung, aufmerksam.
Kapitel 38 widmet sich erneut den konflikthaften Beziehungen nach Deutschland, vor allem Kracauers zum Ende wieder intensiveren Kontakt zu Adorno und Bloch, wobei insbesondere mit ersterem manche theoretische Kontroverse andauerte. Das vorletzte, 39. Kapitel, schildert den Weg zum letzten, posthum veröffentlichten Werk Kracauers, eine Studie zur historischen Epistemologie, und behandelt seinen Kontakt mit der deutschen Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“.
Im letzten Kapitel beschreibt Später die Abwicklung des Nachlasses und die Situation von Lili „nach Kracauers Tod“.
Diskussion
Im Jahr 1930 kritisierte Kracauer die damals beliebte Gattung der literarischen Biographien „als neubürgerliche Kunstform“: als „Flucht“ bzw. „Ausflucht“ vor der Auseinandersetzung mit der politisch-gesellschaftlichen Realität. Je fataler das („bürgerliche“) Individuum unter die Räder seiner Vergesellschaftung gerate, desto eiliger würden namhafte Persönlichkeiten der Vergangenheit zu Erbauungs- und Kompensationszwecken wieder aufbereitet. Hilfreich seien Biographien letztlich nur da, wo sie genau diese Gegenwartslage „enthüll[t]en“ statt von ihr abzulenken. (vgl. Kracauer 2011a, S. 267f.) Dass der Autor dieser These keine hundert Jahre später selbst zum Gegenstand einer umfangreichen Biographie geworden ist, hieße in diesem Sinne wohl nichts Gutes für die Gegenwart. Schon die bleibende Beliebtheit des biographischen Genres zeigt aber, dass der Theoretiker der ideologischen „Obdachlosigkeit“ nach wie vor Aufmerksamkeit verdient. So ist es sehr begrüßenswert, dass er endlich eine biographische Würdigung erfährt – und begrüßenswert ist auch Späters kenntnisreiche und umsichtige Studie im speziellen. Wer Kracauers Texte kennt, wird vor allem seine Arbeitskontexte kennenlernen und von der Einordnung des Schriftstellers in seine heterogenen und flüchtigen intellektuellen Netzwerke profitieren. Später trägt dazu viel Material aus Kracauers unveröffentlichten Korrespondenzen und seiner Nachlassbibliothek (Deutsches Literatur-Archiv, Marbach) zusammen. Abgesehen von zwei knappen biographischen Dokumentationen (vgl. Marbacher Magazin 47/ 1988; Brodersen 2001) stellt das Buch damit die vorerst maßgebliche Referenz zur Lebensgeschichte – und durchaus auch Ideenentwicklung – Kracauers dar.
Dabei stehen die unterschiedlichen Lebensstationen deutlich im Vordergrund. Die Werke entwickelt Später eher wie nebenbei und in Rückbindung an die biographischen Erfahrungen. Als Quellen ebenso unzuverlässig wie unvermeidbar sind für die kaum dokumentierten frühen Jahre Kracauers autobiographische Romane „Ginster“ (1928) und „Georg“ (bis 1934, beide in: Kracauer 2004). Knapp, aber auf Höhe der Debatten – und das will schon etwas heißen – führt Später auch noch in die Werke Benjamins, Blochs, Adornos oder die Entwicklung der US-amerikanischen Sozialforschung nach 1945 ein. Vor allem Kracauers steter Streit mit Adorno ist (nah an Claussen 2003) erhellend dargestellt. Dagegen bleiben andere Figuren wie Leo Löwenthal oder (im weiteren Umfeld) Max Horkheimer und sein Projekt der „kritischen Theorie“ eher blass. Das gilt sowohl für historische Details, wie wenn die „F-Skala“ fälschlich dem „Gruppenexperiment“ zugeordnet wird, (vgl. S. 505) als auch für manches theoretische. Wenn es etwa heißt, Kracauers Aufsatz „Das Ornament der Masse“ (1927) nehme „das zentrale Motiv von Horkheimer [sic] und Adornos ‚Dialektik der Aufklärung‘ (1944) vorweg“ (S. 194), ist das zwar eine in der Kracauer-Forschung gängige Annahme. Sie verfehlt aber das Proprium beider Texte: Während Horkheimer und Adorno angesichts des Nationalsozialismus den Umschlag von Emanzipation in Barbarei, von Aufklärung in Mythos konstatieren, weist Kracauer zwar auf die „getrübte“ kapitalistische Ratio hin, lässt aber keinen Zweifel daran, dass es sich dabei um eine defizitäre handle, keineswegs identisch mit der „Ankunft des Menschen […], der aus der Vernunft ist“. (Kracauer 2011b, S. 619) Zwar könne diese „Ankunft“ scheitern, allerdings steht im zitierten Text ein identifizierbarer positiver Impuls dem ökonomisch präformierten „Massenornament“ entgegen – und die Möglichkeit dieser Trennung wäre nach der „Dialektik der Aufklärung“ eben zu bezweifeln. Kracauers Aufklärungsoptimismus lässt bereits seine spätere Wendung gegen den Negativismus der Kritischen Theorie erahnen, die Später wiederum mit aller Deutlichkeit herausarbeitet. Diesseits aller Debatten zur Ideengeschichte des Horkheimer-Kreises (und mit Horkheimer selbst hatte Kracauer ohnehin kaum zu tun) ist festzuhalten: Zur Konstellation Benjamin-Bloch-Kracauer-Adorno hat Später eine der bisher instruktivsten Studien überhaupt vorgelegt. Selbst in der „Negativen Dialektik“ Adornos werden philologisch Anspielungen auf zeitnahe mündliche Diskussionen mit dem früheren Mentor nachgewiesen. (vgl. S. 547) Sogar Kracauers bisher beinahe unbekannter Kontakt mit den deutschen Adorno-Schülern erfährt eine luzide Darstellung – unschätzbar ist etwa der Hinweis auf seine Begeisterung für Karl Heinz Haags Aufsatz „Das Unwiederholbare“. (S. 552, vgl. Haag 2012)
In der Einleitung schreibt Später, seine Kracauer-Biographie sei eine „soziale“, die „versucht, die historisch-sozialen Kontexte zu beleuchten, innerhalb deren Kracauer handelte.“ (S. 16f.) Das sind viele, und sie alle werden treffend eingefangen. „Sozial“ meine aber auch Kracauers „Lebenswelt“, die Existenzsicherung, „die über weite Strecken prekär war“, sowie seine sozialen Kontakte und Freundschaften. (ebd.) Ausführlich wird beispielsweise die Korrespondenz mit seiner Familie einbezogen, durch deren gut dokumentierte Leidensjahre in Nazideutschland man Kracauers feindseligen Blick auf dieses Land verstehen lernt. Nach dem Krieg kehrte er nicht zurück und weigerte sich fortan, in deutscher Sprache zu publizieren.
Um Kracauer in der Überschneidung all dieser privaten, politischen, journalistischen und wissenschaftlichen Kontexte und Kontakte zu beschreiben, folgt Später erklärtermaßen dessen eigener, an Kameraeinstellungen und Filmschnitttechniken angelehnter Historiographie: „close-ups“ und „long-shots“ wechseln sich ab, man findet dichte Beschreibungen und lange historische Exkurse. Die „Lebenswelt“-Orientierung ist aber nicht nur eine methodische Perspektive, sondern hängt (wie der Umstand zeigt, dass der von Husserl geprägte Lebenswelt-Begriff bei Kracauer selbst in wichtiger Funktion auftaucht) auch aufs innigste mit der Werkbiographie zusammen. Der „Einbruch“ der persönlichen und historischen Erfahrung in die Theorie ist, besonders in Kracauers Generation der deutsch-jüdischen Intellektuellen, offenkundig ein wichtiges Thema. Dabei tritt das grundsätzliche Problem auf, wie man die persönlichen zugleich als gesellschaftliche Erfahrungen versteht und so Theorie und Literatur als deren sachliche Reflexion aufschließt, ohne sie biographistisch zu verkürzen. (vgl. dazu etwa Martin 2013, S. 14f.) Ob die Abfassung einer solchen „Gesellschaftsbiographie“ – die Integration aller Gesichtspunkte, die sie anführen müsste, in ein nicht trivialisierendes Narrativ – aber überhaupt möglich ist, war bereits zwischen Benjamin, Adorno und Kracauer in den dreißiger Jahren strittig.
Zwei naheliegende Gefahren sind hier die apologetische Deutung des Lebens als „theoretische[r] Fingerübung“ des Autors sowie die reduktionistische Interpretation der Theorie „als Ausdruck privater Lebensnot oder -lust oder -kunst“. (vgl. Thomä/Kaufmann/Vincent 2015, S. 8, zu Kracauer ebd., S. 60-75) Späters politische Kontextualisierung entgeht beiden Kurzschlüssen. Hauptsächlich der erzählende Stil der Rekonstruktion suggeriert aber hin und wieder Biographie-Theorie-Querschüsse der zweiten Art: So wird beispielsweise Kracauers Enttäuschung über die „Frankfurter Zeitung“, die sich nach 1933 schnell und in vorauseilendem Gehorsam des jüdischen Redakteurs entledigte, tendenziell eher seinem nervösen Temperament als den Verantwortlichen zur Last gelegt (vgl. etwa S. 301): Dass Kracauer nach jahrlanger Tätigkeit „fallengelassen wurde, war für ihn eine tiefe Kränkung und eine Quelle großen Hasses, der zum Teil auch seinen Blick für die Realitäten trübte.“ (S. 310) Zu der Frage, warum sich während des Kalten Kriegs „Marxisten wie [Otto] Kirchheimer, Löwenthal und [Herbert] Marcuse […] anstandslos auf die Seite des Westens stellten“, heißt es zunächst: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.“ Hiernach erfolgen allerdings politische Klarstellungen, etwa dass der sowjetische Marxismus niemals derjenige der genannten gewesen war. (vgl. S. 498f.) Das gilt erst recht für Kracauer, dessen fragwürdige Marx-Exegese, theologische Hintergrundüberzeugungen und existenzphilosophische Anthropologie sich weitab von der Politik Kirchheimers oder Marcuses bewegten, während die Identifikation mit dem Marxismus zur Zeit des Kalten Krieges bereits recht weit gehend verblasst war.
Häufiger als die politischen werden die frühen religiösen Interessen Kracauers bei Später psychologierend aufgelöst: So führt er die intellektuelle und geschichtsphilosophische Zeitdiagnose der „transzendentalen Obdachlosigkeit“, die Kracauer mit Lukács´ (2009) „Theorie des Romans“ beschrieb, vor allem auf dessen andauernde Lebenskrise zurück. (vgl. S. 100f.) Ähnlich liest Später Kracauers Fehleinschätzung der Rudolf Steiner-Bewegung – wenn der Kulturphilosoph 1925 das rasche Ende der „Anthroposophie“ prophezeite, wird dies nicht als falsche sozialphilosophische Diagnose, sondern als abnehmendes Interesse Kracauers an „Sinn“-Fragen behandelt. (vgl. S. 130f.) An gleicher Stelle erscheint Kracauers vermeintliche Abwendung vom Religiösen um 1925 als Nebenprodukt seiner Beziehungskrise mit dem jungen Wiesengrund-Adorno, der zu Alban Berg nach Wien gegangen war. (vgl. ebd., S. 129f.) Kracauers weltanschauliche Wandlungen lassen sich aus seinen Texten sehr viel kohärenter herleiten. Dennoch ist unbestreitbar, wie tief die unterschiedlichen theoretischen Wege Kracauers und Adornos durch ihre differenten Lebenswege geprägt wurden. Später zeigt das prägnant – und stellt damit die philosophische Frage, wie man den argumentativen Fortgang Kracauers inhaltlich stimmig zu konstruieren hätte, vor neue Herausforderungen.
So wird vor allem der Wandel in Kracauers Denken durch die historisch-chronologisch fortschreitende Rekonstruktion in bisher unbekannter Detailliertheit nachvollziehbar. Die immer wieder aufgestellte Behauptung einer Einheitlichkeit von Kracauers Ideen über die Jahre (etwa bei Steinmeyer 2008) lässt sich angesichts dessen nicht halten. Während seine marxistische Orientierung Mitte der zwanziger Jahre bereits viel thematisiert wurde, weist Später darüber hinaus besonders eindringlich auf die liberalen Neujustierungen in Kracauers Politik- und Gesellschaftsbild nach 1945 hin, die zu einem „neuen Humanismus“ führten. (S. 575, vgl. Von Moltke 2016, S. 169-185) So zieht Später die vom späten Kracauer stipulierte Einheit von dessen Denken in Zweifel: Seine „These von der Kontinuität seines Vorraum-Denkens überging, dass es durchaus qualitativ verschiedenartige Phasen in seinem intellektuellen Leben gegeben hatte.“ (S. 601) Kracauer scheint das sogar bewusst gewesen zu sein, wie sein zweiter autobiographischer Roman, „Georg“, offenlegt. Hier stehen die weltanschaulichen Wandlungen bis 1934 im Zentrum und wird damit die spätere Kontinuitätsthese bereits illusionslos unterlaufen. In „Georg“ erscheint die ideelle Entwicklung als „Auszug“ aus einer Philosophie der „Innerlichkeit“ zugunsten der wenn auch wechselhaften „Wirklichkeit“. (vgl. Oschmann 1999) Aber sie erscheint auch als plötzliche und unerwartete Anpassung an immer neue Umfelder, in denen sich Georg wiederfindet. Diese Konstruktion legt die Frage nahe, ob es das einheitliche Subjekt, das von außen an Kontexte heranträte, überhaupt gibt. (vgl. Kramer 2016) Kracauers Kritik der „Innerlichkeit“ kommt einer Verneinung dieser Frage gleich: Das Ich finde sich nur in der emphatischen Hingabe an sein Objekt, in der Fähigkeit, anderes wahrzunehmen (hier zeigt nicht nur Kracauers Lehrer Georg Simmel, sondern auch seine frühe Auseinandersetzung mit der dialogischen Philosophie Martin Bubers ihre Spuren). In „Georg“ wird das Problem der diskontinuierlichen Biographie und Selbsterfahrung mit einem nonchalanten Achselzucken gelöst. Der junge Fred – das literarische Pendant Adornos – trägt dem Protagonisten im letzten Kapitel nach: „[I]ch erinnere mich, daß du zu einer Zeit stark religiös warst. Später bist du, glaube ich, vom Religiösen abgekommen, und wahrscheinlich hältst du heute wieder wo anders. Du hast dich immer rasch gewandelt, mein Freund […].“ Der Angesprochene „versuchte der Änderung auf die Spur zu kommen, und stellte fest, daß er heute zum mindesten wußte, wohin er gehörte.“ (Kracauer 2004, S. 510f.) Auch angesichts dieser (Selbst-)Einschätzung wäre zu diskutieren, wie weit es sich bei Kracauers offenbar wissentlich widersprüchlichen Bruch- und Konsistenzbehauptungen um strategische Inszenierung, mithin geistespolitische Praxis (vgl. Martin 2013) handelt: Erst in dieser wäre die reflexive Verbindung von Lebens- und Theoriegeschichte gefunden. Der späte Kracauer jedoch hätte die Möglichkeit einer solchen „Gesellschaftsbiographie“ wohl selbst bestritten. Das ist auch Späters Standpunkt: „Kracauer hat nicht gelebt, um eine Sonde für irgendetwas zu sein“, auch wenn „wir es hier mit einem besonderen Zeitgenossen zu tun haben, über den mehr zu berichten ist als ein privater Lebenslauf.“ (S. 13)
Fazit
Jörg Später hat eine sachlich aufschlussreiche, vor allem aber eine würdige Biographie geschrieben, die ihrem Gegenstand gerecht wird. Die Verdienste des Buchs weisen über die intimen Personenporträts von Elisabeth und Siegfried Kracauer sogar weit hinaus, man wird über Film- und Propaganda-, Zeitungs- oder Soziologie-Geschichte des 20. Jahrhunderts belehrt. Speziell für Kracauers Kontakte Benjamin, Bloch und besonders Adorno ist die Biographie äußerst erhellend. Wie üblich kann man über die Gewichtung einzelner Aspekte und die Deutung konkreter Kontexte (etwa des Buber- oder Horkheimer-Kreises) streiten – vor allem aber kommt bis auf weiteres kein Streit zu Kracauers „emphatischer Theorie“ (S. 604) um Späters Studie herum.
Literatur
- Brodersen, Momme (2001): Siegfried Kracauer, Reinbek.
- Claussen, Detlev (2003): Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie, Frankfurt a.M.
- Haag, Karl Heinz (2012): Das Unwiederholbare (1963), in: Ders.: Kritische Philosophie, München, S. 97-107.
- Kracauer (2004): Romane und Erzählungen, Werke, Bd. 7, Berlin.
- Kracauer, Siegfried (2011a): Die Biographie als neubürgerliche Kunstform (1930), in: Werke, Bd. 5.3, Berlin, S. 264-269.
- Kracauer, Siegfried (2011b): Das Ornament der Masse (1927), in: Werke, Bd. 5.2, Berlin, S. 612-624.
- Kramer, Sven (2016): Vergesellschaftung durch Sprache. Zu Kracauers Romanen Georg und Ginster, in: Jörn Ahrens, Paul Fleming, Susanne Martin, Ulrike Vedder (Hrsg.): „Doch ist das Wirkliche auch vergessen, so ist es darum nicht getilgt“ Beiträge zum Werk Siegfried Kracauers, Wiesbaden, S. 59-80.
- Lukács, Georg (2009): Die Theorie des Romans, Bielefeld.
- Marbacher Magazin (47/1988): Siegfried Kracauer 1989-1966, bearbeitet v. Ingrid Belke u. Irina Renz.
- Martin, Susanne (2013): Denken im Widerspruch. Theorie und Praxis nonkonformistischer Intellektueller, Münster.
- Von Moltke, Johannes (2016): The Curious Humanist. Siegfried Kracauer in America, Oakland.
- Oschmann, Dirk (1999): Auszug aus der Innerlichkeit. Das literarische Werk Siegfried Kracauers, Heidelberg.
- Steinmeyer, Georg (2008): Siegfried Kracauer als Denker des Pluralismus. Eine Annäherung im Spiegel Hannah Arendts, Berlin.
- Thomä, Dieter/Kaufmann, Vincent/Schmid, Ulrich (2015): Der Einfall des Lebens. Theorie als geheime Autobiographie, München.
Rezension von
Ansgar Martins
M.A. Religionsphilosophie
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Es gibt 7 Rezensionen von Ansgar Martins.
Zitiervorschlag
Ansgar Martins. Rezension vom 21.03.2017 zu:
Jörg Später: Siegfried Kracauer. Eine Biographie. Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2016.
ISBN 978-3-518-42572-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21813.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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