Ingmar Steinhart, Günther Wienberg: Rundum ambulant
Rezensiert von Prof. Dr. Stefan Godehardt-Bestmann, 07.08.2017
Ingmar Steinhart, Günther Wienberg: Rundum ambulant. Funktionales Basismodell psychiatrischer Versorgung in der Gemeinde. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2016. 319 Seiten. ISBN 978-3-88414-670-5. D: 39,95 EUR, A: 41,20 EUR.
Thema
Die professionsethische Leitlinie psycho-sozialer Arbeit liegt nach dem Konzept der Lebensweltorientierung in der Ermöglichung eines selbstbestimmteren und gelingenderen Alltags der Adressaten (vgl. Thiersch, 1986). Diese partizipativ und sozialraumbezogene Alltagsorientierung in der Wechselwirkung von ‚Fall und Feld‘ impliziert eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Komplexität (vgl. Kleve, 2016). Damit werden die Akzeptanz von Nichtwissen, relationalen Wechselwirkungsprozessen, Selbstbestimmung und Autonomiebestreben sowie die Synergetik von Verhalten und Verhältnissen zu zentralen Herausforderung für das professionelle Versorgungsystem.
Das Funktionale Basismodell psychiatrischer Versorgung fokussiert die komplette Vollversorgung von psychisch erkrankten Menschen in einer maßgeblich ambulanten Ausrichtung, sowohl in akuten Krisen als auch der alltagsbezogenen Unterstützung. Dabei richtet sich die Kompassnadel der professionellen Akteure nicht an den bestehenden Strukturen des Versorgungssystems und der standardisierten Angebotspalette aus, in die sich die Adressat*innen bzw. Patient*innen einpassen müssen. Vielmehr wird die konsequente Orientierung am Menschen und seinen Ressourcen sowie lebensweltlichen Eigenkräften zum zentralen Prinzip einer partizipativ-alltagsorientierten Professionalität. Sie nimmt den Willen und die ernsthaften Interessen der Adressat*innen zum Ausgangspunkt jeglicher sich daraus ableitender Aktivitäten der professionellen Interaktionsaufstellungen.
In diesem Sammelband werden neben den fachlich-konzeptionellen sowie theoriebezogenen Grundlegungen maßgeblich erfolgreich realisierte Praxisbezüge vorgestellt, da dieses Modell kein abstrakt-theoretisches ist sondern über eine praxisbasierte Evidenz verfügt.
Herausgeber
Prof. Dr. Ingmar Steinhart ist diplomierter Psychologe. Er ist als Geschäftsführer des Stiftungsbereichs Bethel.regional tätig. Zudem leitet er als Direktor das Institut für Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. an der Universität Greifswald und ist in diversen fachpolitischen Zirkeln engagiert.
Prof. Dr. Günther Wienberg ist ebenfalls Diplompsychologe. Er ist jahrelanges Mitglied des Vorstands der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel und seit 2015 deren stellvertretender Vorstandsvorsitzender. Zudem hat er eine Honorar-Professur im Fachbereich Sozialwesen an der Hochschule Fulda inne.
Aufbau und Inhalt
Das bei über 300 Seiten zugleich übersichtlich gehaltene Buch ist in drei Kapitel gegliedert. Es sind vier Vorworte der Vertreter*innen aus den die Publikation unterstützenden Fachorganisationen (Dachverband Gemeindepsychiatrie e.V., Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, Institut für Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. sowie Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V.) vorangestellt.
Im ersten Kapitel werden in drei Beiträgen die Grundlagen des Funktionalen Basismodells für die gemeindepsychiatrische Versorgung ausgeführt. Bezugnehmend auf die nunmehr vor gut vierzig Jahren initiierte und in den letzten Jahren eher durch einen „bedrohlichen Reform- und Innovationsstau“ (S. 22) gekennzeichnete Psychiatriereform führen Steinhart und Wienberg zunächst die aktuelle Situation der Psychiatrieversorgung aus, um daran das Funktionale Basismodell grundlegend vorzustellen. „Es beschreibt die für eine bedarfsgerechte Versorgung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen erforderlichen Behandlungs- und Unterstützungsfunktionen und definiert damit einen Mindeststandard für gemeindepsychiatrische Behandlungs- und Teilhabeleistungen.“ (S. 24). Uta Gühne, Thomas Becker und Steffi Riedel-Heller führen im Anschluss in die „evidenzbasierte Psychiatrie im Sozialraum“ (S. 45) ein und beziehen sich dabei auf die sogenannte S3-Leitlinie ‚Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen‘. Es werden entlang der Komponenten des Basismodells sowie der Interventionsformen entsprechende Studienlagen diskutiert. Steffi Koch-Stoecker formuliert in ihrem Beitrag den Stellenwert der Psychiatrischen Institutsambulanzen sowie die Herausforderungen zur Markierung der Entscheidung zwischen einer ambulanten oder stationären Versorgung von psychisch schwer erkrankten Menschen und diskutiert auf dieser Grundlage durchaus mit kritischem Blick das Funktionale Basismodell von Steinhart und Wienberg.
Im zweiten Kapitel folgen nun dreizehn (!) Beiträge über realisierte Praxisbeispiele, die hier nicht im Einzelnen ausgeführt werden. Im Fokus der einzelnen Beiträge stehen beispielsweise Erfahrungswerte zur Arbeitsweise multiprofessioneller Teams, den Herausforderungen bei der Überwindung von Sektorengrenzen zur integrierten Versorgung, den Übergangsformen von stationär und ambulant, präventiven Untersützungsformen und Erfahrungen aus Früherkennungsambulanzen, Praxiserfahrungen mit sogenannter fallunspezifischer Sozialraumarbeit als professionell unterstützte Befähigung der alltagsbezogenen Strukturen in einem Gemeinwesen bis hin zum wesentlichen Thema der beruflichen Teilhabe als auch der Wahlfreiheit beim Wohnen.
Das dritte Kapitel rundet dieses Fachbuch einerseits durch einen wesentlichen Beitrag zu Strategien der regionalen Umsetzung des Funktionalen Basismodells als Regelversorgung ab. Hierbei werden neben den fachlich-konzeptionell notwendigen handlungsmethodischen Verfahrensweisen nunmehr maßgeblich die Bedingungsebenen der Organisationsstruktur, die Steuerungslogik sowie die Finanzierungssystematik fokussiert und entsprechende Mindeststandards formuliert.
Andererseits wird der Capabilities-Approach als theoretischer Bezugsrahmen für das Funktionale Basismodell der psychiatrischen Versorgung diskutiert.
Fazit
Dieses Fachbuch überzeugt durch seine wissenschaftlich fundierte Tiefe und die differenzierte Darlegung einer hochanspruchsvollen Praxisevidenz. Die Verbindung fachkonzeptioneller Modellierungen, evidenzbasierter kritischer Reflexionen sowie praxisbasierten Erfahrungswerten und wegweisenden Qualitätsweiterentwicklungen in diesem wesentlichen Handlungsfeld werden ausgezeichnet gewährleistet. Zudem sind die sprachlichen und visuellen Darlegungen der Beiträge ausgesprochen zugänglich gestaltet.
Das Buch kann uneingeschränkt sowohl für Studierende, Lehrende, Forschende und zudem für Handlungspraktiker*innen nicht nur in Arbeitsbezügen der psychiatrischen Versorgung empfohlen werden. Aufgrund der grundsätzlichen Thematik einer alltagsorientierten Versorgung und Unterstützung sollte dieses Fachbuch in keiner Bibliothek der Sozialen Arbeit fehlen, um in Seminaren den Zugang zum besseren Verständnis einer Notwendigkeit der Selbstbestimmungskategorie als Grundlegung Sozialer Arbeit dienlich zu werden. Allein ob der Capability-Approach unbedingt al theoretischer Bezugsrahmen nutzbar werden muss, kann kritisch betrachtet werden.
Die Lektüre dieses Büchleins ermutigt und fundiert zugleich. Zudem wirkt es auf die trägen Strukturen der ‚Versorgungsindustrie‘ sehr provokant, weil es konkret aufzeigt, was in handlungspraktischen Umsetzung längst möglich ist. Die hinderliche Umsetzung erscheint folglich nicht als durch einen Mangel an konzeptionellen, evidenzbasierten sowie praktischen Fundierungen gekennzeichnet sondern vielmehr durch eine Melange aus fachpolitischen, professions-traditionellen sowie durchaus institutionell-ökonomischen Interessen bedingt.
Literatur
- Kleve, H. (2016): Komplexität gestalten: Soziale Arbeit und Case-Management mit unsicheren Systemen. Heidelberg
- Thiersch, Hans (1986): Die Erfahrung der Wirklichkeit. Perspektiven einer alltagsorientierten Sozialpädagogik. Weinheim und München
Rezension von
Prof. Dr. Stefan Godehardt-Bestmann
Professor für Soziale Arbeit im Fernstudium an der IU Internationale Hochschule und Studiengangleiter sowie seit 2000 in freier Praxis als Sozialarbeitsforscher, Praxisberater und Trainer tätig.
Schwerpunkte: Sozialraumorientierte Soziale Arbeit, Inklusion, Partizipation, Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen, Lösungsfokussierter Beratungsansatz, Inklusion, Partizipation, Organisationsentwicklung, Personalentwicklungsmaßnahmen in Organisationen Sozialer Arbeit, Gestaltung von Qualitätsmanagementprozessen, partizipative Praxisforschungen und Evaluationen.
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Es gibt 32 Rezensionen von Stefan Godehardt-Bestmann.
Zitiervorschlag
Stefan Godehardt-Bestmann. Rezension vom 07.08.2017 zu:
Ingmar Steinhart, Günther Wienberg: Rundum ambulant. Funktionales Basismodell psychiatrischer Versorgung in der Gemeinde. Psychiatrie Verlag GmbH
(Köln) 2016.
ISBN 978-3-88414-670-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21825.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
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