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Jörn Ahrens, Paul Fleming et al. (Hrsg.): (...) Beiträge zum Werk Siegfried Kracauers

Rezensiert von Ansgar Martins, 04.12.2017

Cover Jörn Ahrens, Paul Fleming et al. (Hrsg.): (...) Beiträge zum Werk Siegfried Kracauers ISBN 978-3-658-13238-5

Jörn Ahrens, Paul Fleming, Susanne Martin, Ulrike Vedder (Hrsg.): "Doch ist das Wirkliche auch vergessen, so ist es darum nicht getilgt“. Beiträge zum Werk Siegfried Kracauers. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2016. 390 Seiten. ISBN 978-3-658-13238-5. D: 59,99 EUR, A: 35,97 EUR, CH: 44,00 sFr.

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Herausgeberinnen und Herausgeber

  • Jörn Ahrens ist Professor für Kulturwissenschaft an der Universität Gießen.
  • Paul Fleming ist Professor für German Studies an der Cornell University New York.
  • Susanne Martin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Gießen.
  • Ulrike Vedder ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität Berlin.

Thema und Einleitung

Siegfried Kracauer war nie im engeren Sinne universitär angebunden und hat überdies ein widersprüchliches Werk hinterlassen, das sich schlecht in getrennte universitäre Disziplinen und Fachdiskurse aufteilen lässt – unter anderem mit Beiträgen zu Literatur, Journalismus, theoretischer Soziologie, empirischer Sozialforschung, Filmkritik, -geschichte und -ästhetik, Geschichts- und Kulturphilosophie.

In der Einleitung weisen die Herausgeber auf die daraus resultierende selektive Rezeption Kracauers hin und schildern sie die paradoxe Situation, dass er weitgehend als Randfigur der Kritischen Theorie wahrgenommen und in diesem Rahmen auf bestimmte bekannte Texte und Topoi reduziert wird, während ihm so aber immerhin bis heute eine kontinuierliche Leserschaft seitens der deutschen „Suhrkamp-Kultur“ (George Steiner) sichergestellt ist.

Gerade die innere Heterogenität des Werks soll dagegen der vorliegende Sammelband als Chance erschließen und Kracauer damit als „Wegbereiter“ eines „genuin interdisziplinäre[n] Denken[s] und Arbeiten[s]“ wiederentdecken, „wie es in dieser Form erst Jahrzehnte später im Zuge des sogenannten Cultural Turn wieder aktuell und in den Geistes- und Sozialwissenschaften breit diskutiert werden sollte […].“ (S. 11) Dabei formulieren die Herausgeber weniger das Ziel, zu archivieren, als zu aktualisieren: „[E]inen Wegweiser zur Moderne“ (S. 12) vorzulegen. Zugleich soll der Band ein „Kracauer-Kompendium“ (S. 12) mit Übersichtsbeiträgen zu seinen wichtigsten Themen und Texten darstellen. Denn nachdem der postmoderne Versuch, „die Moderne zu überwinden und herauszufordern“ (S. 13), leer- und heißgelaufen ist, „scheinen“ „Kracauer und die Moderne heute aktueller […] denn je.“ (ebd.)

Aufbau

Neben der Einleitung enthält das Buch 18 deutsch- und englischsprachige Texte in sechs thematischen „Blöcken“:

  1. „Gegenwart im Feuilleton“,
  2. „Literatur und Sprache“,
  3. „Gesellschaft als Mosaik“,
  4. „Musik“ („ein weniger bekanntes Arbeitsfeld Kracauers“, S. 12),
  5. „Fotografie und Film“ – die mit fünf Beiträgen umfangreichste Sektion – und
  6. „Philosophie und Geschichte“.

Zu 1

Gegenwart im Feuilleton

Anhand von „Kracauers feuilletonistische[n] Städtebilder[n]“ führt Claudia Öhlschläger in seine Zeitdiagnose um 1930 ein. Kracauer beobachtete die Physiognomie von Straßenzügen und Gebäuden. Deren Geschichte – bis in die Verzierung von Fassaden – werde unter dem Zwang kapitalistischer Funktionalisierung mehr und mehr unsichtbar, was einem Erfahrungs- und Erinnerungsverlust der Menschen entspreche. Gegen diese ideologischen Veränderungen versuche Kracauer, die Lücken und Diskontinuitäten in den sich verändernden Städten und Straßen sichtbar zu machen und daran die Charakteristika des sich vollziehenden Wandels zu beschreiben. Hinter dem selbstvergessenen Rausch der zunehmend städtischen (bzw. Berliner) Kultur der Weimarer Ära finde Kracauer bereits vor 1933 soziopsychologische Angstzustände, in denen sich die Flucht vor der vergessenen Vergangenheit zur drohenden Zukunft des Nationalsozialismus abzeichne.

David Wachter konzentriert seine Analyse Kracauerscher Feuilletons auf zwei Texte: „Der verbotene Blick“ (1925) und „Weihnachtlicher Budenzauber“ (1932), von denen der erste noch stärker religiös-kulturpessimistisch, der zweite stärker „materialistisch“ geprägt ist. Das anarchische Gewimmel der Warenwelt („Puppen, Gehäuse, Fabeltiere“) kennzeichne Kracauer immer wieder mit dem Attribut des „Dämonischen“. Dieser Begriff bezeichnet Übergänge und Zweideutigkeiten im kulturellen Spektakel: In der ideologischen Dynamik der modernen „Entzauberung“, die selbst wie mythische Gewalt erscheine, würden auch Residuen von Glück und Zukunftsverheißungen aufbewahrt.

Zu 2.

Literatur und Sprache

Wie Kracauer in seinen Romanen „Georg“ und „Ginster“ „die Stellung des Einzelnen in der zeitgenössischen Gesellschaft thematisiert“ (S. 59), zeigt Sven Kramer anhand der Vergesellschaftung ihrer gleichnamigen Protagonisten „in der Sprache“. Georg und Ginster zeigten sich höchstens in sehr eingeschränktem Sinne als Subjekte: Sie ließen sich kaum von ihren kommunikativen Umfeldern und Handlungskontexten unterscheiden und würden von diesen erst in eine bestimmte Position geschoben. Das „Sich-Aussprechen“ des Journalisten Georg – den es an die Öffentlichkeit drängt, dessen Intention beim Schreiben aber so gut wie stets mit der Wirkung der Texte auf andere nichts zu tun hat – sei immer „zugleich ein Sich-Einpassen“. (S. 77)

Kracauers „Raumbild“ der „Hotelhalle“ interpretiert Ulrike Vedder als (Un-)Ort zwischen dem Glanz und der Anonymität der Großstädte. Besondere Aufmerksamkeit erfährt dieser Topos als Handlungsschauplatz in Kracauers metaphysischer Studie über die triviale Gattung der Detektivromane: In den Kriminalgeschichten erscheine die Hotelhalle als ‚negative‘ Kirche der ‚entwurzelten‘ Moderne. Vedder weist neben dieser vielzitierten Interpretation aber auch auf ganz andere Verwendungen dieses Motivs in Kracauers frühen Texten hin, die weitergehende kulturphilosophische Deutungen erlauben.

Dorothee Kimmich schreibt über „Kracauers Traum vom guten Englisch“ nach der Emigration, verbunden mit seiner Entscheidung, nicht mehr auf Deutsch zu publizieren. Sie bezieht dazu auch neuere Forschungsdebatten über Mehrsprachigkeit ein. Schon vor der Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland habe Kracauers „Entfremdungsphilosophie“ sich mit dem Phänomen Emigration im weiteren Sinne beschäftigt: So in der soziologischen Epistemologie des „Fremden“ (Simmel) als klarsehendem Beobachter von außen, dessen Entsubjektivierung seiner Annäherung ans Objekt entspreche. Im Gegensatz zu diesem Programm sei das Schreiben auf Englisch für Kracauer nach der Emigration aber eher „mit der schmerzlichen Erfahrung der Unzulänglichkeit“ (S. 110) verknüpft gewesen.

Zu 3.

Gesellschaft als Mosaik

Leif Weatherby expliziert und interpretiert theoriegeschichtliche Hintergründe und Nachbarschaften von Kracauers Frühwerk „Soziologie als Wissenschaft“ (1922): „[F]rom a neo-Kantian sociology to a post-Hegelian search for and critique of form“. (S. 124) Die metaphysische Form, die dabei zunächst in Betracht kommt, ist „zweite Natur“ als Ebene zwischen Subjekt und Objekt, die eine Eigendynamik gegenüber beiden annimmt. Dabei wird vor allem auf Kracauers an Georg Lukács geschulte Konzepte von zweiter Natur bzw. „transzendentaler Obdachlosigkeit“ hingewiesen. Als Antwort auf die Frage, wie zweite Natur konzipiert und beschrieben werden könne, sei Kracauers berühmte Forderung zu verstehen, dass Wirklichkeit als erzählerische Montage, als „Konstruktion“ dargestellt werden müsse. Die letztere Aussage findet sich in Kracauers Studien über „Die Angestellten“.

Diese 1929/30 publizierte Aufsatzfolge liest im Anschluss Tilman Reitz als Soziologie der Mittelschicht(en). Diese Mittelschichten zeichne Kracauer als „Klasse ohne Eigenschaften“, weniger als statische soziale Gruppe denn als konjunkturabhängige, politisch und kulturell „prinzipienlose“ Masse, die sich durch Prekarisierung (bzw. asymptotische Proletarisierung) auszeichne. Reitz stellt weitreichende Bezüge zur jüngeren Soziologie der „Massenkultur“ her und untersucht die von Kracauer in späteren Aufsätzen weitergeführte These, dass die ökonomisch haltlosen Mittelschichten zum Faschismus tendierten.

Christine Resch wendet sich nochmals der erzählerischen Struktur von Kracauers Texten, vor allem seinem Einsatz von Metaphern zu, den sie gegen Adornos kritische Begriffsphilosophie als Versuch absetzt, nah an den alltäglichen Phänomenen zu bleiben und „verschiedene Theorietraditionen“ in solche zu „übersetzen“. (vgl. S. 163) Zugleich ziehe Kracauer die Leser durch seine sprachlichen Bilder in die selbstreflexive Ironie seiner Darstellungen hinein. So entstehe aus seiner Montagen-Methode mit ihrer „starken Leserführung“ ein „ideologiekritisch ‚geschliffen[es]‘“ Kaleidoskop (S. 167).

Zu 4.

Musik

Den in einem „Kracauer-Kompendium“ vielleicht überraschendsten Teil beginnt Ethel Matala de Mazza mit Reflexionen über die umstrittene Studie „Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit“ (1937). Die Autorin betont, dass „Kracauer in musikalischen Fragen völlig unbeschlagen“ (S. 177) war: In dem Buch über Offenbach wollte er anhand einer für beispielhaft gehaltenen Lebensgeschichte das Second Empire „als […] historisches Interim“ soziohistorisch durchleuchten. Vor allem drei Aspekte der „Gesellschaftsbiographie“ werden in dem Beitrag untersucht: Form und Funktion des biographischen Genres, Kracauers Strukturvergleich von Operette und Journalismus, sowie die Deutung Offenbachs als Anwalt des „Kleinsten“.

René Michaelsens Beitrag unternimmt den „Versuch, aus verschiedenen über das Gesamtwerk verstreuten Belegstellen eine Art Musikästhetik Kracauers herauszupräparieren“ (S. 197) und wendet sich nach einer Diskussion einschlägiger früher Feuilletons (etwa zu Schlager und Tanz) erneut der Offenbach-Interpretation zu. Insbesondere in diesem Buch komme nämlich Musik als „eine Form des ästhetischen Erlebens“ zur Geltung, „in der die Polarität zwischen Nähe und Ferne aufgehoben ist.“ (S. 214) Michaelsen verteidigt Kracauer nicht nur gegen die polemische Kritik seines Meisterschülers Adorno, er zeigt sogar, dass beide in der Beschreibung Offenbachs als eines Künstlers, der mit verfremdenden „Konventionstrümmern“ und Übertreibungen arbeite, wenigstens in manchen Details übereinkommen. Kracauers Verzicht auf Notenbeispiele wird als bewusste Verweigerung gegenüber den festgelegten Verfahren der rein innermusikalischen Analyse interpretiert.

Zu 5.

Fotografie und Film

Die längste Sektion beginnt Maria Zinfert mit einer historischen Analyse von Bildern Siegfried Kracauers zwischen 1947 und 1955. Dabei tritt seine Frau Elisabeth (geb. Ehrenreich) als die selten genannte Fotografin in Erscheinung. Deren langjährige fotografische Praxis und die Fotografie-Theorie ihres Mannes unterzieht Zinfert einem kongenialen Vergleich. So zeigt sie die Konzepte und Inszenierungen auf und hinter den bekanntesten Bildern Kracauers.

Matthew Handelman wendet sich unter dem Titel „Physical Redemption“ (die im Untertitel von Kracauers später Filmtheorie versprochen wird) unveröffentlichten Reflexionen aus Kracauers frühen Notizbüchern zu. Der Autor zeigt, wie prägend Kracauers Beschäftigung mit der historischen Disziplin der Psychophysik metaphorisch, lebens- und naturphilosophisch zu einer zentralen Hintergrundevidenz seines weiteren Werks aufstieg. Epistemologische und messianische Implikationen dieser emphatischen Konzeption von „Physical Reality“ werden ausbuchstabiert.

Diese theorieästhetische Grundfeste verfolgt Antonio Somaini filmtheoretisch anhand der von Kracauer, André Bazin und Sergei Eisenstein geteilten These weiter, dass Ursprung, Geschichte und Zukunft des Kinos in einer Art von „media anthropology“ (S. 259) gefunden werden müssten.

Nicholas Baer wendet sich Kracauers umstrittenster Schrift zu: „From Caligari to Hitler“ (1947). Er verteidigt das von Kracauer als eskapistisch-präfaschistisch demontierte deutsche Genre der „Bergfilme“ gegen diese Kritik: Auf reflektierte Weise behandelten diese Filme die scheinbare Festigkeit und Vergänglichkeit der alpinen Welt als dialektisch und thematisierten so die martialischen, aber brüchigen Grenzen von Mensch und Natur. Diese Auseinandersetzung gleiche Adornos Konzepten der „Naturgeschichte“ und der „Negativen Dialektik“ und gemahne an die heutigen ökologischen Nöte.

Gegen Kracauers scharfe Kritik der deutschen Filmgeschichte argumentiert auch Johannes von Moltke, der zunächst detailliert auf die skeptische Rezensionsphase und Rezeptionsgeschichte des Buches eingeht. Die anthropologisch-konstruktive „Theory of Film“ (1957) mit ihrem Fokus auf sinnliche Realität sei aber bereits in Kracauers Entwürfen aus der Zeit des französischen Exils und in „Caligari“ selbst angelegt.

Zu 6.

Philosophie und Geschichte

Gerhard Schweppenhäuser diskutiert „philosophische Aspekte des Realismus in Kracauers Bildtheorie“ und differenziert verschiedene epistemologische, symbol- und repräsentanztheoretische Implikationen und Anschlussstellen von Kracauers soziologischen Essays aus. Unter Rekurs auf Kracauers frühe gesellschaftskritische Texte (etwa zur ideologischen Funktion der „Kino-Wochenschauen“) wird dabei ein „konstruktiver Realismus“ freigelegt, den Schweppenhäuser auch noch der späten Filmtheorie unterstellt – im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Lesart als „ontologische[m] Realismus“ (vgl. Koch 1996, S. 125 ff.).

Kracauers Theorie (und Praxis) der Historiographie rekonstruiert Detlev Schöttker „als multimediales Verfahren“. Der Autor weist er auf die durchgängige Präsenz des Themas seit Kracauers kunstgeschichtlicher Dissertation hin, gibt eine konzise Inhaltsangabe zu dessen posthum veröffentlichten Spätwerk „History“ (1969) und stellt die Frage, wieso das Buch kaum je rezipiert wurde.

Dass „Kracauers Nachdenken über Geschichte“ um sein Verständnis von Aufklärung und kosmopolitischem Judentum zentriert ist, zeigt Birgit R. Erdle. Dabei geht sie insbesondere auf sein „Plädoyer für die ‚Unangepassten‘“ (S. 372), aber auch auf die utopischen Spuren in seinem Denken ein. Kracauers Versuche, die naive Konzeption von Zeit als homogenem Fluss zu zerstören, setzt Edle besonders zu Erich Auerbach und seinem Buch „Mimesis“ (1946) in Verbindung.

Zum Schluss fängt die Autorin das Proprium von Kracauers Ansatz mit einer autobiographischen Szene aus seinem Roman „Ginster“ ein: Sein Onkel (Isidor Kracauer) arbeitet an seiner „Geschichte der Frankfurter Juden“, indem er verschiedene Textstücke zusammenklebt.

Diskussion

Die Kracauer-Forschung darf sich über ein gewichtiges Zwischenfazit freuen. Eine der größten Stärken des Buchs ist ohne Zweifel die gelungene Balance zwischen originellen Forschungsbeiträgen und grundsätzlichen Einführungen in Kracauers Themen. Wer sich mit Kracauer näher beschäftigt, findet im Band nicht nur die Essentials dargestellt, sondern vor allem auch eine ganze Reihe neuer Interpretationen. Wer das „Kracauer-Kompendium“ eher auf der Suche nach Orientierungsliteratur konsultiert, ist vielleicht am besten mit der ersten thematischen Sektion („Gegenwart im Feuilletion“) beraten – und möge sich dann für einzelne seiner Monografien an die Texte von Matala de Mazza (zum Offenbach-Buch), Schöttker (zum Geschichts-Buch) und Reitz (zu den „Angestellten“) halten. Reitz‘ Rekonstruktion der „Klasse ohne Eigenschaften“ geht vielleicht auch hinsichtlich einer Aktualisierung Kracauers am weitesten, indem er die Diskussion auf autoritäre politische Tendenzen in den „Mittelschichten“ der Gegenwart lenkt. Als Desiderat könnte man in diesem Sinne auf Kracauers Propaganda-Studien hinweisen. Da Kriterien wie enzyklopädische Vollständigkeit im Fall Kracauer aber ohnehin nicht allzu strenggenommen werden dürfen, sei im Folgenden der Versuch unternommen, einige charakteristische Kracauer-Zugänge zusammenzufassen, soweit sie im Band deutlich werden.

Obwohl die Feststellung, dass Kracauer vergleichsweise wenig und einseitig rezipiert wird, sich bis heute durch die Literatur zieht, zeigt das Vorliegen eines derart ‚runden‘ Übersichtsbuches und zeigt die Nuanciertheit der einzelnen Sachdiskussionen, dass die Forschung in den 2010er Jahren eine neue Phase erreicht hat. Das vielschichtige Werk ist sehr weitgehend ediert, zumindest annähernd bekannt und einschätzbar geworden. Verschiedene Lesarten und Zugriffsweisen haben sich etabliert.

Erstens prägt das strittige Verhältnis Kracauers zur Kritischen Theorie der Forschung anscheinend zuverlässig noch da den Stempel auf, wo es als strittig problematisiert wird. Während es historiographisch überfällig ist, ihn stärker vom Mythos „Frankfurter Schule“ zu lösen, diskutieren viele der im Buch versammelten Autoren seine Texte in explizitem Vergleich zu (oder impliziter Verteidigungshaltung gegen) Adorno. Am produktivsten ist hier vielleicht Reschs eindringliche Rekonstruktion von Kracauers „kaleidoskopischem“ Kritikmodus: Der Text im Buch, der am meisten dazu anregt, seine Texte für die kritische Gesellschaftsanalyse aufzugreifen.

Zweitens sind unterschiedliche weitere Versuche zu nennen, Kracauers zum Teil idiosynkratische Texte einer philosophischen Re-Systematisierung zu unterziehen. Theoriegeschichtlich entspricht das wiederum dem Reflexionsschritt, der Adorno in den dreißiger Jahren mit Horkheimer von seinen vormaligen Lehrern Kracauer und Walter Benjamin wegführte: Von der Mikrologie zur Dialektik. Begrifflich-argumentativ entstehen so lohnende Zugänge, die wohl am ehesten auf irgendeine aktuelle Relevanz (über die Kracauer-Forschung hinaus) hoffen dürfen: Kracauer wird von seinen philosophischen Interpreten nicht nur ausgeschärft, sondern zum Teil überhaupt erst aufgeschlossen. Seine magisch-intuitionistische Objektbindung und seine Ideologiekritik, die man beide nicht als akademische Praxis missverstehen darf, erfahren dabei jedoch entscheidende Relativierungen. Das bedeutet zunächst, dass Kracauer sich nur indirekt an heutige philosophische Probleme anschließen lässt und vorab auf seine historisch konkreten Objekte hin gelesen werden muss.

Drittens ist diese unvermeidliche Historisierung denn auch längst als ergiebiger Zugang zu dem ideell wandelbaren Kracauer erschlossen: Nicht nur auf anekdotisch-‚biographistischer‘ Ebene, wie das Vorurteil lautet, sondern Philosophie und Lebensgeschichte als systematisch relevanter Zusammenhang. Vor allem der Bruch der Emigration und die Beurteilung des Nationalsozialismus zeichneten sich seiner Theorie ein.

Viertens gelten vor allem Kracauers politische Feuilletons aus der Weimarer Ära ungebrochen als methodisch und diagnostisch wegweisend (mit kleiner Konkurrenz seitens der ganz späten Monografien „History“ und „Theory of Film“). Seine berühmten Texte aus der „Frankfurter Zeitung“ werden von den meisten Autoren früher oder später zur Interpretation herangezogen – und zwar zurecht: Unbezweifelbar findet man unter den ‚journalistischen‘ Texten die stilistischen und reflexiven Höhepunkte seines Werks. Kracauers nuancierteste Darstellungen sind eben doch rhapsodisch statt systematisch, Montage statt Argument. Die naheliegende Fokussierung auf die Feuilletons der zwanziger Jahre marginalisiert jedoch seine späteren politischen und philosophischen Revisionen: Diese Blickverengung ist Adornos Kracauer-Kritik (die den Texten nach 1930 wenig Gerechtigkeit widerfahren lässt) ebenso eigen wie vielen seitherigen Interpreten, die Kracauer gegen Adorno stark machen wollen. Auch die amerikanische Rezeption entdeckte trotz seiner englischsprachigen Monografien früh den Weimarer Kracauer als „dritten Weg“ zwischen Derridas „linguistische[m] Monismus“ (Zwarg 2017, 408) und Adornos gesellschaftskritischem Negativismus: Vor allem aufgrund seiner Aufgeschlossenheit für die Populärkultur. (vgl. ebd., 199, 252, 407-409) Den schönen Weimarer Schein kultureller Offenheit, der Kracauers Rezipienten schon immer anzieht, wollte er selbst jedoch in späteren Schriften, vor allem in „From Caligari to Hitler“, als ideologisch enthüllen. Das muss jede heutige Anknüpfung bedenken. „Denn seine späteren Leser haben jenen Schritt, den der Exilant aus wohlerwogenen Gründen gegangen ist, gleichsam wieder rückwärts gemacht und die von ihnen rekonstruierte Figur eines ‚jungen‘ Kracauer selbst in die Mythologie der goldenen Weimarer Jahre an prominenter Stelle platziert.“ (Brecht 2004, 11) „Caligari“ ist auch das einzige Buch, das im vorliegenden Band scharf problematisiert und kritisiert wird. Hier – wie in den meist übergangenen Propaganda-Studien – liegen weniger die spezifischen Lücken des Sammelbands als der Kracauer-Forschung überhaupt.

Neuere Untersuchungen, die gleichfalls im Buch vertreten sind, führen in diesen Fragen weiter: Kracauers Kritik des deutschen „Sonderwegs“ gewinnt bei Erdle vor dem Hintergrund eines aufklärerisch-jüdischen Universalismus an systematischer Präzision. Ihr Text zu Aufklärungs- und Geschichtsverständnis liefert somit politisch-philosophische Koordinaten zu Kracauers Reflexionen über deutsche und US-Kultur nach, (vgl. Kracauer 2012a) die auch Grundannahmen von „Caligari“ sind. Außerdem führt Moltke aus, dass Kracauer auch in diesem viel problematisierten Buch die Ebene leiblich-sinnlicher Evidenz beschwört. Die Frage, wie sich Kracauers realistisch-sensualistisches Grundparadigma im „Caligari“-Kontext darstellt, ist tatsächlich entscheidend: Der Nationalsozialismus erschien Kracauer (unter Berufung auf Max Horkheimer) als barbarische Revolte gegen die naturbeherrschende Zivilisation. Angesichts dessen forderte er ein neues Verhältnis zur äußeren Lebensumwelt ein. (vgl. Kracauer 2012b) In diesem Sinne muss man die späte Filmtheorie („Redemption of Physical Reality“) als Gegenentwurf zur Nazi-Propaganda verstehen, die Kracauer als „tool to destroy the disturbing independence of reality“ (Kracauer 1971, 295) beschreibt.

Das eigentümliche Aroma dieses Realismus und Messianismus vertieft Handelmans Beitrag zu Kracauers frühem Studium der „Psychophysik“. Nicht zum ersten Mal zeigt Handelman, dass sowohl die Subjekt- als auch die Realitätskonzeption Kracauers sich bereits in seinen frühesten, unveröffentlichten Aufzeichnungen verankern lassen, die in der Forschung bisher nur kursorisch einbezogen wurden. (vgl. auch Handelman 2015) Diese lebensphilosophischen und erfahrungsgeschichtlichen Hintergrundintuitionen prägen das weitere Werk: Die (von Kracauer als „jüdisch“ eingestufte) Erfahrung konstitutiver sozialer Desintegration und die Hoffnung auf Kompensation durch die Kontaktaufnahme mit der als verstellt erfahrenen physischen Realität, der „Natur“. Eine erste, durchaus neuromantisch verbrämte Zusammenführung dieser Aspekte stellt die frühe Novelle „Die Gnade“ von 1913 dar. (vgl. Kracauer 2004, 563, 573-575) Es ist dieses psychophysikalistische Konzept, das Kracauer im Zweiten Weltkrieg politisiert und seiner späteren „Media Anthropology“ (Somaini) zugrundelegt.

Diese heiklen Reflexionen und Konstruktionen Kracauers sind nicht als blinde Flecken der Rezeptionsgeschichte, sondern als Bruchstellen seiner eigenen (Anti-)Philosophie zu verstehen. Es handelt sich sozusagen um den Preis, den er für seinen weitgehenden Verzicht auf explizite Systematik zahlen muss.

Fazit

In der Einleitung liest man: „Herausgeberwerke wie dieses können letzten Endes immer nur unvollständig sein.“ (S. 12) Diese Sorge ist allerdings unberechtigt: Das Ziel, eine möglichst charakteristische Auswahl von Themen zu einem „Kracauer-Kompendium“ zusammenzustellen, wird eingelöst. Gerade die Spannung der Beiträge untereinander führt ausgezeichnet in die immanenten Brüche der Werk- und Rezeptionsgeschichte ein. Als Sammelsurium von Städtebildern und verzauberten Waren, subjektlosen Beobachtern und Tyrannenfilmen stellt sich Kracauers Werk hier wie ein Archiv des 20. Jahrhunderts dar. Insofern kann man den Band tatsächlich als "Wegweiser" zu einer vergessenen Moderne lesen.

Literatur

  • Brecht, Christoph (2004): Strom der Freiheit und Strudel des Chaos, in: Marbacher Magazin Nr. 105, S. 5-52.
  • Koch, Gertrud (1996): Kracauer zur Einführung, Hamburg.
  • Handelman, Matthew (2015): The Dialectics of Otherness, in Yearbook for European Jewish Studies vol. 2 (1), S. 90-111.
  • Kracauer, Siegfried (2004): Die Gnade, in: ders.: Werke 7, Frankfurt a.M., S. 535-576.
  • Kracauer, Siegfried (1971): From Caligari to Hitler, Princeton.
  • Kracauer, Siegfried (2012[a]): On Jewish Culture, in: Johannes von Moltke, Kristy Rawson (Hrsg.) Siegfried Kracauer´s American Writings, Berkeley, S. 54-56.
  • Kracauer, Siegfried (2012[b]): The Revolt against Rationality, in: Johannes von Moltke, Kristy Rawson (Hrsg.) Siegfried Kracauer´s American Writings, Berkeley, S. 51-54.
  • Zwarg, Robert (2017): Die Kritische Theorie in Amerika, Göttingen.

Rezension von
Ansgar Martins
M.A. Religionsphilosophie
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Es gibt 7 Rezensionen von Ansgar Martins.

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Zitiervorschlag
Ansgar Martins. Rezension vom 04.12.2017 zu: Jörn Ahrens, Paul Fleming, Susanne Martin, Ulrike Vedder (Hrsg.): "Doch ist das Wirkliche auch vergessen, so ist es darum nicht getilgt“. Beiträge zum Werk Siegfried Kracauers. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2016. ISBN 978-3-658-13238-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21829.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.


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