Katrin Meyer: Macht und Gewalt im Widerstreit
Rezensiert von Arnold Schmieder, 26.01.2017
Katrin Meyer: Macht und Gewalt im Widerstreit. Politisches Denken nach Hannah Arendt. Schwabe Verlag (Basel ) 2016. 120 Seiten. ISBN 978-3-7965-3556-7. 17,50 EUR. CH: 17,50 sFr.
Thema
Über Aufnahme philosophischer, vor allem sozialphilosophischer, und auch sozialwissenschaftlich anrainender Auseinandersetzungen mit den Phänomen Macht und Gewalt im politischen Denken (nicht nur) nach Hannah Arendt konturiert die Verfasserin vor allem „Ermöglichungsmacht“ und „Durchsetzungsmacht“, und zwar in kritischer Rekonstruktion des Arendtschen Verständnisses, um so dessen Aktualität im Hinblick auf nicht nur Theorie, sondern vor allem Praxis hervorzukehren. Mit Arendts Analysen werde der „Blick auf politische Phänomene“ gelenkt, „die in den feministischen Theorien seit den 1990er Jahren zugunsten von subjektzentrierten Perspektiven eher in den Hintergrund getreten sind.“ Vor allem fokussiert Frau Meyer daher auf „feministische politische Theorie“ und sieht in der Machttheorie von Arendt eine unverzichtbare „Wachheit“ gegenüber „gewaltförmige(n) Praktiken“ gefördert, wie sie sich in „Gesellschaft und Politik (…) einnisten“. Diese „Wachheit“ halte zugleich die „politische Vision einer möglichst gewaltfreien Macht aufrecht. In dieser Kombination einer kritisch-analytischen und normativen Perspektive bietet Arendts Philosophie der Macht auch für feministische politische Theorie bis heute wichtige Anregungen“, was am Schluss weiter ausgeführt wird. (S. 167) Hier wird deutlich, dass sich machttheoretisch Arendts Verständnis von Macht „dem Strang eines ‚konsensuellen’ Machtbegriffs zuordnen“ lässt – einer Macht, die „nicht durch die Unterdrückung von Gegnerinnen und Gegnern“ entsteht, „sondern durch die Erlangung von Zustimmung.“ (S. 21) Daher ist „Arendts Konzept der Macht für aktuelle feministische Theorie anschlussfähig“. (S. 19)
Das Buch ist ein überarbeiteter Teil der Habilitationsschrift der Verfasserin, die in anderen Teilen in bereits publizierten Aufsätzen vorliegt, die eigens nachgewiesen und dem Literaturverzeichnis zu entnehmen sind.
Aufbau und Inhalt
Gleich in ihrer Einleitung gibt die Verfasserin einen breiten Überblick über den Inhalt ihres Buches und ihre Argumente, die in Thesen vorgestellt werden. „Macht ist Ausdruck menschlichen Handelns. Machtvolles Handeln macht Mögliches wirklich und ermöglicht, was wirklich werden soll; es gestaltet soziale Verhältnisse und realisiert subjektive Praktiken“, lautet der erste Satz der Einleitung, was zugleich den Blick auf die „alltagssprachliche Bedeutungsspanne des Wortes“ wie die „Unschärfe des Machtbegriffs“ lenkt und die These der Verfasserin ausweist, „dass es möglich ist, anhand des Machtbegriffs geschichtliche Verhältnisse von naturhaften Ereignissen abzugrenzen und dem Verantwortungsbereich des Menschen zu unterstellen. Mit ihm lässt sich unterscheiden, welche sozialen Phänomene ethisch und politisch rechtfertigungsbedürftig sind und welche nicht. Zugleich regelt er, wann das Nachdenken über Widerstand gegen bestehende Verhältnisse überhaupt sinnvoll ist und wann individuelle und kollektive Handlungsmacht an ihre Grenzen stößt.“ (S. 7) In Anlehnung an „Heideggers Frage nach dem Sinn von Sein, die das Verstehen des eigenen Daseins strukturiert“, eröffnet laut Frau Meyer „die Frage nach dem Sinn von Macht eine Perspektive auf das Politische als eine Praxis kollektiver und sinnhafter Selbstverständigung.“ Weitab der Konnotation von „Unterdrückung, Ungleichheit, Herrschaft, Gewalt und Entmündigung“ geht es um Gewinnung der eigenen „Handlungs- und Gestaltungsmacht“ als Bedingung für „Autonomie, Freiheit, Emanzipation und Kreativität“, einer „gegensätzliche(n) Bestimmung des Machtbegriffs“, der in den Debatten des „Feminismus“ besonders deutlich aufscheint. (S. 8) Es geht darum, dem „eigenen Handeln Wirkmacht zu geben und die gesellschaftlichen Verhältnisse zu prägen“, wobei sich eingedenk von „Machtungleichheit“ die Frage stellt, ob eine „menschliche Potenz denkbar“ ist, mittels der es – letzten Endes – möglich ist, „Handlungs- und Wirkungsmacht auszuüben, ohne anderes Handeln einzuschränken“. (S. 12)
Von hier aus schlägt die Verfasserin die Brücke zum Machtbegriff nach Hannah Arendt, deren Denken im „weitesten Sinne als Philosophie der Macht bezeichnet werden“ kann, „denn es umkreist die Frage, was Menschen gemeinsam verwirklichen können. In dieses politische Interesse eingeflochten ist auch bei Arendt utopische Hoffnung, dass sich politische und soziale Verhältnisse jenseits von Hierarchien und Gewalt denken lassen“ (S. 13), wo „politische Ungleichheit und Übermacht eliminiert“ sind. (S. 15) Das führt zur „Leitfrage“ des Buches, „wie weit Arendts Konzept einer gemeinsamen Macht als Grundlage für ein Verständnis einer nicht gewaltsamen, nicht herrschaftlichen Praxis tragfähig ist.“ Zeigen will die Verfasserin, „dass Arendts Machttheorie diesen Anspruch in vielen Hinsichten einlöst“, wobei sich das „Spannungsfeld von Macht und Gewalt“ durch ihr gesamtes Werk zieht. (S. 17 f.) Doch hilft diese Diskussion, die „Fallstricke feministischer Identitätspolitik“ zu vermeiden und darüber hinaus „Kriterien“ für die Inspiration politischen Denkens in Richtung eines „radikaldemokratische(n) Republikanismus“ zu gewinnen, „das die Demokratisierung der Macht in allen Bereichen der Gesellschaft, zu der auch die Ökonomie und die Familie gehören, einfordert“, „einer gemeinsamen Macht jenseits von Gewalt“. Die auf ihrer Analyse aufsattelnde These von Frau Meyer lautet, „dass sich dieses Jenseits von Gewalt nur dann am Horizont abzeichnet, wenn der Bezug zwischen Macht und Gewalt nie aus dem Blick gerät.“ (S. 20)
Nach dieser ausholenden Einleitung stellt die Verfasserin im ersten Kapitel Arendts „Vision sinnhafter Praxis“ vor, worin die Frage eröffnet ist, ob und wie Macht von Gewalt abgekoppelt denkbar ist. Der Gewaltbegriff wird stets mit Bezug auf relevante Primär- und Sekundärliteratur und immer mit Blick auf Arendts Werk diskutiert, u.a. „Gewalt als Erzeugung kollektiver Ohnmacht“ (S. 29); aus Arendtscher Sicht ist zu betonen, dass „Gewalt, eben weil sie in der Tat Macht vernichten kann, stets die eigene Macht mitbedroht“. (zit. ebd.) Wo Macht in Form konsensuell-kollektiver Ermächtigung erscheint und wie etwa „Gandhis Marsch durch Indien“ als ‚gut’ gilt (S. 39), ist zu bedenken, „dass jede totalitäre, tyrannische oder despotische Macht auf Elemente“ solcher Ermächtigung zurückgreifen muss. Nimmt man jedoch „Arendts Bestimmung der Macht als gemeinsamen Anfang“, lässt sich mit „Ermöglichungsmacht: gemeinsam anfangen“ eine andere Dimension eröffnen (S. 40 f.), in der u.a. die Offenheit für Andere und Sprechen und Handeln als Konstitutionsbedingungen gemeinsamer Macht und auch eine fragile Pluralität wesentliche Punkte sind. Pluralität, wie sie „zwischen Menschen entsteht, die sich wechselseitig als Differente aufeinander beziehen und als Gleiche anerkennen“ ist in der Praxis „vergänglich“ und verweist auf die Bedeutung des „Ereignischarakter(s) des Anfangs, der für die Bestimmung von Arendts emphatischen Verständnis gemeinsamer Anfänge unverzichtbar ist und der den Schlussstein zur Qualifizierung der Ermöglichungsmacht bildet.“ (S. 59 f.) Die Thematik um Politik und Teilhabe an Macht führt zu Arendts Verständnis des ‚Grundrechts’, das „alles soziale und politische Leben bestimmen soll, (…) also das Recht auf Teilhabe an gemeinsamer Macht“ ist. „Darin impliziert sind die normativ gehaltvollen Vorgaben der Anerkennung der Egalität und Partikularität jedes Menschen. Arendts normatives Machtmodell ist damit für demokratische Politikvorstellungen und die Demokratisierung von Sozialverhältnissen anschlussfähig“, resümiert die Verfasserin und setzt hinzu, dass demnach alles, was auf „menschenverachtende(n), elitäre(n) Machtvorstellungen“ beruht, ausgegrenzt ist. (S. 85 f.)
Im zweiten Kapitel wird das Thema „Machtteilung: Ambivalenzen der Macht“ vorgestellt; es beginnt mit dem nochmaligen Hinweis: „Das Paradigma dieser Macht ist das sich Versammeln der Verschiedenen.“ (S. 87) Dabei geht es um Durchsetzungsmacht und die Macht der Mehrheit, wobei die Anfangsvoraussetzung bleibt, dass alle Beteiligten „in das Bezugsgewebe eingreifen und ihren eigenen Faden in die Textur gesellschaftlicher Interaktionen einflechten können.“ (S. 92) Zugespitzt wird dies bis zu Arendts Zustimmung zu Montesquieus Einsicht, „dass auch ein Übermaß von Vernunft nicht wünschenswert sei“. (zit. S. 103) Das führt die Verfasserin weiter, die Vernunft bleibe „Teil des Streites“ und sei diesem „nicht übergeordnet oder ihn fundierend“, wobei der Versuch, „eine Meinung als vernünftig zu plausibilisieren“, ein „wichtiger Zug in einem deliberativen Prozess“ sei, „der aber den Streit nicht beendet, da es möglich ist, verschiedene Perspektiven, partikulare Interessen, Leidenschaften und Werte in den Prozess des Abwägens einzuspeisen, ohne dass diese in einer und nur einer Position des Vernünftigen aufgehen müssen.“ (S. 103 f.) Dem korrespondiert eine Einschätzung Arendts, wonach die „falsche Demokratie (…) jene (ist), die sich als überparteiliche ausgibt und vorgibt, als Teil das Ganze repräsentieren zu können“. (S. 117, Anm. 43) Es widerspricht der unauflösbaren Verbindung von Ermöglichungsmacht und Durchsetzungsmacht im Modell gemeinsamen Handelns, das Arendt „in einem Raum der Öffentlichkeit situiert.“ Sie benutze da die Bühnenmetapher, meine aber eher einen „dynamischen Wettkampf“ (S. 114 f.), was Frau Meyer (genereller) im Agon-Begriff und seiner antagonistischen Bedrohungen aufnimmt. Gewalt, bleibe festzuhalten, rangiert als „staatliche Schutzfunktion des Politischen“, wenn sich „politische Gemeinschaften ‚antagonistisch’, das heißt mit Krieg, Sanktionen und Gewalt gegen jene Kräfte wenden, die die Grundprinzipien des politischen Agon bedrohen.“ Eine zweite „gerechtfertigte Funktion der Gewalt liegt in ihrem Effekt der Befreiung.“ (S. 127 f.) Wichtig ist da Arendts These, „Gewalt könne höchstens reformerisch, nie aber revolutionär wirken“; Gewalt könne „die Freiheit in Form der Rebellion vorbereiten, aber nicht ersetzen. Die wahre revolutionäre Macht ist nach Arendt letztlich immer gewaltlos.“ (S. 131 ff.)
Im dritten Kapitel geht es um politisches Denken nach Hannah Arendt, die, wie Frau Meyer herausgearbeitet hat, mit ihrer Machtheorie „eine normative Präzisierung des ontologisch weiten Machtbegriffs“ ermöglicht hat, „indem sie dessen politische Qualität auf die Ermöglichung gemeinsamer politischer Initiativen zuspitzt.“ (S. 135) Nimmt man den Schlusssatz vorweg: „Das Konzept der Machtteilung kann in dieser Hinsicht eine Brücke bilden, die feministische Theorie und demokratische Praxis verbindet“ (eine Brücke, die sich allerdings weiterempfiehlt), wird einmal mehr plausibel, warum sie für ihre Argumentation um wesentlich auch „Selbstermächtigung“ (S. 141) auf Nietzsche und Foucaults Definition von Macht und Gewalt in kritischer Aufnahme zu sprechen kommt und auch auf den Punkt der „Verdinglichung von (kollektiver) Praxis“. (S. 156) Ausgehend von Hobbes und einer ‚power to’ und ‚power over’ wird ‚power to’ mit Göhler als diejenige Macht bestimmt, „die in einem reflexiven Selbstbezug aufgeht“ und ein Beispiel für Arendts Verständnis abgeben könnte; das sei aber, soweit in die Begriffe ‚transitive’ und ‚intransitive Machtformen’ übersetzt, nicht hinlänglich „trennscharf“. Das wiederum führt zu der Frage (welcher sie ausgehend von Nietzsche nachgeht), ob die „Figur der individuellen oder existenziellen Selbstermächtigung eine Möglichkeit“ wäre, „Macht im Sinne der potentia herrschaftsfrei zu denken, das heißt, ohne sie als Unterwerfungsstruktur oder als Macht zur Durchsetzung eines Willens gegen andere zu konzipieren“, kurzum: „Ist Selbstermächtigung eine potentia ohne potestas?“ (S. 141 f.)
Die Autorin nimmt dabei Bezug auf die „Herausbildung des modernen, männlichen Subjekts“ nach Interpretation von Maihofer (Geschlecht als Existenzweise). Auf der Folie dieser ‚geschlechtsspezifischen’ Lesart der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno (S. 144, Anm. 19) wirft sie die Frage auf „nach dem ‚Leiden’, das sich Menschen selbst antun (müssen), um zu autonomen und selbstkontrollierten Subjekten zu werden. Von der Einsicht in die relationale Struktur des Aktes der Selbstermächtigung ist es nur ein kleiner Schritt zur Erkenntnis, dass die Unterwerfung des eigenen Selbst nicht unverbunden mit den Strukturen der Gesellschaft gedacht werden kann, und dass sich in der Beherrschung des eigenen Willens immer auch soziale Herrschaftsformen niederschlagen. Diese normative Ambivalenz der Subjektkonstitution wird im Begriff des ‚asujettissement’, der über Louis Althusser, Michel Foucault und Judith Butler zu einem zentralen Topos marxistischer feministischer Machtkonzeptionen geworden ist, deutlich.“ Da sich „Subjektivierung (…) zwischen Praktiken der Befähigung und der Unterwerfung“ situiere, blieben o.g. Unterscheidungen „unscharf hinsichtlich der Ungleichheiten, die das Leben der Menschen bestimmen und die auch jene, die gewillt sind, zusammen und nicht gegeneinander zu handeln, mit Erfahrungen von Ohnmacht, Abhängigkeit und Zwängen konfrontiert.“ (S. 144 f.)
Herrschaft ist ein Begriff, der in dieser Diskussion nicht unter den Tisch fallen darf. Frau Meyer zieht hinsichtlich einer kritischen Erörterung der Erklärungsreichweite seines Herrschaftsbegriffs Foucault heran und legt die Elle von Arendts Auseinandersetzung mit den Begriffen Macht und Gewalt an; demnach ist dessen Verständnis von Herrschaft in dem „hier entwickelten Sinn als Macht der Gewalt“ zu sehen. Deutlich wird, dass die „Verhältnisse dadurch gekennzeichnet sind, dass sie Menschen handlungsfähig lassen, ihre Handlungsfähigkeit aber auf die Reproduktion bestehender Ungleichheits- und Gewaltverhältnisse zurichten.“ (S. 162) Die These Foucaults, Macht bezöge sich nur auf nicht determiniertes, freies Handeln, will die Autorin insoweit enger fassen, als zu dieser ‚Freiheit’ spezifisch jene ‚Freiheiten’ gehören, „die sich auf Praktiken des Widerstandes beziehen, die in einem Machtverhältnis wirksam werden und die Verhältnisse von Herrschaft und Knechtschaft tatsächlich umkehren können.“ (S. 161) Ob „Macht zur Gewalt“, in der sich „eine Praxis adressatenbezogen als Macht- oder als Gewaltverhältnis manifestieren kann und gerade dadurch eine Gesellschaft spaltet“ (S. 160), oder „Macht der Gewalt“, welche die „Verstetigung der Gewalt im Leben von Gewaltbetroffenen und in den sozialen Strukturen einer Gesellschaft“ bedeutet (S. 162), sie sollten „als zwei historisch ineinander verzahnte, aber logisch nicht identische und aufeinander reduzierbare Formationen von Macht unterschieden werden, um zu vermeiden, dass sich die Analyse sozialer und politischer Macht in eine Metaphysik der ewigen Wiederkehr der Gewalt verkehrt.“ Das gelte auch darum, weil im „Konzept des Zirkels von Macht und Gewalt“ verschiedenste Interruptionen der Auflösung „gewaltförmiger Machtverhältnisse nicht ausgeschlossen“ sind. (S. 166) Die Frage, „wer gehorchen muss – wer also durch Gewalt dazu gezwungen wird – und wer ein System freiwillig durch eigenes Handeln unterstützt“, sei nicht immer eindeutig zu unterscheiden. (S. 169)
Lenke man mit Arendt den Blick auf „politische Phänomene“, die in der Frauenbewegung lange „zugunsten von subjektzentrierten Perspektiven“ in den Hintergrund getreten seien (S. 167), sei zu erkennen, dass auch patriarchale „Erzwingung von Gehorsam“ nur da und in dieser Erscheinungsform möglich ist, wo „die Voraussetzungen oder Bedingungen des Gehorchen-Müssens immer wieder gewaltförmig hergestellt und strukturell abgesichert werden.“ (S. 170 f.) Allerdings sei die „Macht der Geschlechternormen als Ausdruck allgemeiner Herrschaftsstrukturen“ in vielen „subjektzentrierte(n) Machtanalysen“ ausgewiesen. Doch auch in den Analysen von Judith Butler (im Näheren im Frühwerk) würden kapitalistische Ökonomie und Nationalstaat als „politische und gesellschaftliche Herrschaftsinstitutionen“ unterbelichtet bleiben. In den von Butler inspirierten „feministischen Subjektivierungstheorien“ sei eine weitere Leerstelle auszumachen und mit Arendt zu füllen, nämlich der „Fokus auf kollektives widerständiges Handeln.“ (S. 168) Eine gemeinsame Praxis zu entwickeln würde meist an die „Bedingungen einer feministischen Identität“ geknüpft, oft gleichgesetzt mit einem „falschen Universalismus westlicher, weißer Feministinnen aus der Mittelschicht“. Demgegenüber gelte es auch hier zu beachten (so mit Cohen), dass sich „marginalisierte Gruppen (…) zu politischen Identitäten formieren“ müssten, „die nicht nach objektiven oder wesentlichen Identitätsmerkmalen, sondern nach Unterdrückungserfahrungen ausgerichtet sind, und sie müssten dabei die Unterschiede der Beteiligten im Blick behalten.“ (S. 176 f.) Das plausibilisiert die Verfasserin an Beispielen, um nochmals auf Arendts „emphatisches Verständnis politischer Macht“ zu verweisen, „das als Ermöglichungsmacht mit Aktualität, Pluralität und Offenheit verknüpft ist.“ (S. 178) Aus feministischer Sicht geht es demnach darum, „aus der verworfenen Identität eine kollektive Handlungsmächtigkeit zu gewinnen“, wobei sich das „Trennende“ – laut Lorde - „dann nicht bemerkbar macht, wenn sie die Trennungen thematisieren“, und zwar ganz in Arendts Sinne auf „unterschiedliche Machtverhältnisse und Gewalterfahrungen“ beziehen, „die durch Identitätszuschreibungen begründet sind und als solche thematisiert werden müssen.“ (S. 182 f.) Politisierung (und darin die Frage der ‚Machtteilung’, „die sich in alle politischen Zusammenhänge hineintragen lässt“) sollte mit und nach Arendt das Ziel verfolgen, „dass sich die diskriminierten Menschen politisch in die Welt einschalten und mit anderen, die dasselbe Ziel verfolgen, zusammenschließen können, so dass sich im Vollzug dieser Praxis in actu eine Form demokratischer Öffentlichkeit ereignet“, wobei sich zuvörderst „alle diese Dimensionen ineinander verschränken“ und dabei „intersektionale Machtteilung“ dann als „adäquate politische Antwort“ verstanden werden muss, „um auf die vielfältigen Spaltungslogiken einer Gesellschaft politisch handelnd und ‚anfänglich’ zu reagieren.“ (S. 183 f.)
Diskussion
Man kann sich trefflich über den Macht- und Gewaltbegriff bei Hannah Arendt habilitieren, wie es Frau Meyer allein mit diesem in Buchform vorliegenden Teil ihrer Schrift beeindruckend unter Beweis stellt. Eine philosophisch-innerdisziplinäre Engführung der Thematik wird von der Autorin durch den Ausweis der Relevanz für politisch-emanzipatorische Praxis überwunden, hier im Hinblick auf feministische Theorie und Praxis. Wohl kaum ist an der Aufnahme des Werkes von Hannah Arendt nebst kritischen Anmerkungen und Weiterführungen in zentralen Punkten einzuhaken; die Einschätzungen von etwa Foucault oder Butler und auch Habermas dürften Einreden provozieren, was sicherlich nicht müßig ist, aber im Resultat die Argumentation von Frau Meyer und ihre Thesen nicht essentiell berührt. Wünschenswert wären allerdings da kritischere Reflexionen, wo Arendt „in loser Form Heideggersche Motive“ aufnimmt. Zwar lasse ihre Lesart erkennen, dass sie „dessen Abkehr von Sein und Zeit aufgreift und heterodox weiterführt.“ Es ging Arendt, was die Verfasserin betont und breit ausführt, um das „Verständnis des gemeinsamen Anfangens“, warum sich immer wieder „neu eine singuläre Form eines pluralen Beisammenseins realisieren kann und damit Neues entsteht.“ (S. 60 ff.) Arendt habe versucht, „Spontaneität in Heideggers späten Ereignis-Begriff zu integrieren.“ (S. 63, Anm. 54) Nicht erst mit den ‚Schwarzen Heften’ Heideggers und dank der von den Herausgeberinnen Marion Heinz und Sidonie Kellerer (2016) jüngst vorgelegten philosophisch-politischen Beweisführung in ihrem Sammelband zu den ‚Schwarzen Heften’ ist nicht mehr von der Hand zu weisen, dass Heideggers aktive Parteinahme für den Nationalsozialismus mit einer Haltung, für die der Begriff der Menschenverachtung fast zu schwach ist, bereits seiner Philosophie zu entnehmen ist (s. dazu die Rezension von Sabine Hollewedde). Davon kann man auch in der Analyse dessen, was sich in jenem ‚gemeinsamen Anfangen’ Geltung verschafft, nicht absehen. Darauf geht die Verfasserin nicht ein und muss es auch zunächst nicht, wo es lediglich um zu referierende Anregungen für Arendts Theorie geht. Wenn die Verfasserin darüber hinaus festhält, dass „trotz“ der an Heidegger anschließenden Terminologie „(d)as ‚Beisammensein’ und ‚anfängliche Versammeln’ (…) die Beschreibung einer genuin politischen Praxis (ist), in der sich überhaupt erst das Politische und politische Gemeinschaften konstituieren und entwickeln können“ (S. 66), dann mag man solcher Verallgemeinerung erst einmal folgen. Implizit drängt sich damit allerdings eine weitergehende Frage auf, ob die „Anlehnung an Martin Heideggers Frage nach dem Sinn von Sein“ (eine bei Heidegger mit ‚prekärer’ Tendenz aufgeworfenen Frage), „die das Verstehen des eigenen Daseins strukturiert“ (in praktisch-politischer Übersetzung bei Heidegger recht eindeutig), nicht zumindest ein Warnsignal hinsichtlich ‚emphatischer Überfrachtung’ eines so verstandenen ‚anfänglichen Versammelns’ sein kann gemäß dem hier (zunächst) auf Heidegger zu beziehenden Motto: „Wehret den Anfängen!“
Wesentlicher für die Verfasserin ist jedoch, dass über Arendts Anlehnung an Heideggers Frage nach dem „Sinn von Sein“ mit seiner Strukturierungsfähigkeit im Hinblick auf „das Verstehen des eigenen Daseins“ die höchst relevante „Frage nach dem Sinn von Macht eine Perspektive auf das Politische als eine Praxis kollektiver und sinnhafter Selbstverständigung“ eröffnet. (S. 8) Auf einer ahistorischen philosophischen Ebene mag man auch da folgen, auf einer ‚praktisch philosophischen’ oder gar philosophisch politischen bleibt die unkommentierte Referenz fragwürdig. Mehr noch ist gerade unter diesem kritischen Bezug zu reflektieren, ob und wie nicht jedes ‚Versammeln’ von ggf. diffusen Motiven provoziert ist, die dem ‚Beisammensein’ ein Gepränge geben, das die Entwicklung gemeinschaftlichen Handelns und die Zielorientierung strukturiert – worauf es, politisch gesehen, ankommt und was dann eben ‚von Anfang an’ nicht außen vor bleiben darf. Im Hinblick darauf und auf das Werk von Hannah Arendt werden sich ggf. kritische PhilosophInnen und SoziologInnen auf Spurensuche machen. Die Skepsis gegenüber dem ‚Anfänglichen’ als Hypostase in Kantischem Sinne und die Reklamation wirklicher Entsprechung des Gedanklichen wird allerdings durch die Verfasserin insbesondere da ausgehebelt, wo sie dieses ‚Anfängliche’ im Hinblick auf einen ‚praktisch’ werdenden Feminismus konkretisiert und da sinnvolle Handreichung entwickelt, warum und wie handlungslähmende Differenzen theoretisch angeleitet praktisch zu überwinden sind.
Diskussionswürdig scheint vor allem, was Frau Meyer auf der Folie ihrer überzeugenden Aufnahme der Gedanken Hannah Arendts und des politischen Denkens nach dieser Philosophin in die feministisch-politische Debatte einspeist. „Spaltungslogiken“ sind ein Stichwort am Ende des Buches (s.o.) und sie gehen sicher nicht auf in der außenpolitischen Maxime des alten Rom: „Teile und herrsche, stifte Unfrieden unter deinen Feinden, um sie zu beherrschen.“ Angeblich soll sich Ludwig XI, man nannte ihn auch die „Spinne“, diesen Leitsatz zu Eigen gemacht und gut machiavellistisch um den Hinweis erweitert haben: „Wer nicht heucheln kann, kann auch nicht herrschen.“ Von solcherlei historischen Reminiszenzen ist das Alltagsbewusstsein im Hinblick auf Macht und Herrschaft und Gewalt affiziert. Wenn dabei Gewalt weniger als direkte oder persönlich und mehr als kulturelle und strukturelle nach der Definition Galtungs durchgesetzt wird, wird ihre Adressierung schwieriger, weil niemand unmittelbar auftritt oder bloß als ‚Scherge’ und so letzten Endes durch etwas gedeckt, dessen Sinn immer schon vorausgesetzt ist – im System. Gewalt ist so als strukturelle in das System eingebaut und äußert sich da in ungleichen Machtverhältnissen und daraus folgenden ungleichen Lebenschancen. Ganz allgemein verdichtet sich solcher Blick auf Machtverhältnisse in dem inzwischen zum geflügelten Wort herabgesunkenen Satz des Kulturhistorikers und Philosophen Jacob Burckhardt in seinen ‚weltgeschichtlichen Betrachtungen’ aus dem Jahre 1905: „Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muß also andere unglücklich machen.“ Davon gilt es sich zu befreien: Von der Vorstellung, dass Macht „an sich böse“ ist, was nicht so sein muss, wenn man sie mit Arendt anders definiert und praktisch werden lässt, sie im Sinne von Ermöglichung und Durchsetzung ihre emanzipatorische Legitimität erhält; von der strukturellen Gewalt und ihrer Funktion, die dem System immanente ‚Spaltungslogik’ ggf. durch Variationen auf Dauer zu stellen, nicht zuletzt durch „Heuchelei“, die auf Nebenkriegsschauplätze leitet. Da gehört dann das „Trennende“ thematisiert (s.o.), um es aufzuheben.
Vormals – so ein Déjà-vu, – wurde das im Sinne von Internationalisierung von (nicht nur) Marx reklamiert, und zwar als Erkennung der objektiv gleichen Lage unter womöglich verschiedenen Erscheinungsformen. Nur zu unterstreichen ist, dass (auch Frauen) „nicht einfach gesellschaftliche Identitätszuschreibungen“ übernehmen und reproduzieren, sondern „aus der verworfenen Identität eine kollektive Handlungsmächtigkeit“ gewinnen. (S. 182) ‚Frauen aller Länder vereinigt euch’, ist da kein ironisierendes Einsprengsel und ebenfalls mit Marx die Warnung ernst zu nehmen, nicht „die Geister der Vergangenheit“ herauf zu beschwören, nicht, wo man sich den „Geist der neuen Sprache“ aneignen will, „zurück in seine Muttersprache“ zu übersetzen, kurzum auszuscheren daraus, dass die „Tradition aller toten Geschlechter (…) wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“ lastet, wie Marx in heute vielleicht blumig anmutenden Worten vermerkte. Was sich „Menschen selbst antun (müssen), um zu autonomen und selbstkontrollierten Subjekten zu werden“, ist nicht nur Problem des „männlichen Subjekts“. (S. 144 sowie Anm. 19 ebd.) Man mag erst einmal beiseite lassen, wie Marcuse in „Konterrevolution und Revolte“ sich über das „männliche Prinzip“ ausgelassen hat und begründend meinte, „eine freie Gesellschaft“ wäre „die ‚bestimmte Negation’ dieses Prinzips – sie wäre eine weibliche Gesellschaft“, wofür er sich viel linke Häme eingefangen hat. Gleichwohl bleibt es in diesem Diskussionszusammenhang erwähnenswert.
Man muss auch nicht unbedingt August Bebel in seiner frühen, marxistisch unterlegten Lösung der „Frauenfrage“ dahin gehend folgen, Frauen müssten qua Erwerbstätigkeit erst ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit sichern; doch aber sollte man sich erinnern, dass er u.a. eine repressive Sexualmoral als Mittel zur Sicherung der bestehenden (Macht-)Verhältnisse identifiziert und darauf bestanden hat, dass die „Lösung der Frauenfrage auch der Weg für die Lösung der Arbeiterfrage sein“ wird. Das bleibt im Grundsatz und zeitgemäß übersetzt sicherlich richtig – und dieses Rad muss (auch) in feministischen Debatten nicht neu erfunden werden. Doch scheint’s längst vergessen auch die Einlassungen von Clara Zetkin zur Frauenfrage und der um Gleichberechtigung, „sie schrumpfe in der Hauptsache zusammen zur Forderung des Rechts der Freiheit zur Berufsarbeit der Frauen“, in den „grausamste(n) Zwang zur Arbeit“, wobei sie zudem in ihrer „Geschichte der proletarischen Frauenbewegung“ festhält, dass die ‚bürgerliche Frauenbewegung’ es bei „einem Sträußlein Interesse für die Lage der Arbeiterinnen“ belasse, „von Mitgefühl für ihre Leiden geschmückt“. Solcher Süffisanz entschlug sich Rosa Luxemburg, die in ihrem „Nachdenken über Widerstand gegen bestehende Verhältnisse“ (s.o.) zwar die geschlechtsspezifische Auswirkung dieser Verhältnisse sah, aber in Widerstand gegen die sozioökonomischen Verhältnisse einband.
Solcherlei Reminiszenzen, theoretische und historische, stellen sich entlang der Wegweiser zu jener mit Arendt auszuschildernder Ermöglichungs- und Durchsetzungsmacht etwa da ein, wo es bei Frau Meyer um die „relationale Struktur der Selbstermächtigung“ und „asujettissement“ geht (s.o.), um ‚Identitätspolitik’ und den „falschen Universalismus westlicher, weißer Feministinnen aus der Mittelschicht“ (S. 176), um Vergrößerung des Kreises „jener, die sich in einer Bewegung engagieren und durch eine Bewegung ermächtigt werden“. (S. 184) Dem historischen Rückblick ist zu entnehmen, dass die „Macht in allen Bereichen der Gesellschaft“ einzufordern ist – „zu der auch die Ökonomie und die Familie gehören“, wie es bei Frau Meyer gleich eingangs heißt. (s.o.) Da waren die altvorderen TheoretikerInnen im Hinblick auf das Gefälle einen Schritt weiter: Sahen sie doch, dass die Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft der Familie und den Geschlechterrollen ihre bestimmte Form gab (und gibt) und wussten, wo allererst Ursachen zu lokalisieren waren, an denen anzusetzen war, um nicht in Werkelein an Symptomen zu verbleiben. Gerade im Hinblick auf Emanzipation durch Widerstand und für die Gewinnung von „Ermöglichungsmacht“ und „Durchsetzungsmacht“ sollten solche historisch längst überkommene (und im Grunde banale) Einsichten nicht unerwähnt bleiben oder gar aus dem Blick geraten, wovon eine ‚an sich böse Macht’ mit ihrer ‚Spaltungslogik’ und ‚Heuchelei’ nur profitierte – indem sie systemisch erzeugte Desintegration für ihre Zwecke immer erneut integriert, „Moral“ so situiert bleibt, dass es zu ihr gehört, „nicht bei sich selber zu Hause zu sein“, dass es so scheint, als gäbe es ein „richtiges Leben im falschen.“ (Adorno)
Gerade angesichts von Ermächtigung und Durchsetzung und der Fragen um Macht, wie sie die Verfasserin elaboriert, drängen sich auch die Problematiken um Gewalt und Moral und die Zweck-Mittel-Relation auf (wie sie von Wallat u.a. ausführlich in die Diskussion eigebracht wurden). Anzuknüpfen ist da bei Arendt, wo sie in „Über die Revolution“ schreibt, „daß nichts vergänglicher und vergeblicher ist als eine Rebellion und eine Befreiung, die unfähig ist, die neu gewonnene Freiheit in angemessenen Institutionen und Verfassungen zu verankern.“ Das klingt ‚vernünftig’ und sicherlich darf man sich nicht weigern, „einen Unterschied zwischen Befreiung und Freiheit anzuerkennen“. (zit. S. 132 f.) „Die Vernunft“, die es dazu braucht, „hat immer existiert“, vermerkte Marx und setzte ironisierend hinzu, „nur nicht immer in der vernünftigen Form.“ Dem „politischen Staat“, um es zu verdeutlichen, testierte er, er enthalte „in allen seinen modernen Formen die Forderungen der Vernunft“, gerate aber „ebenso überall in den Widerspruch seiner ideellen Bestimmungen mit seinen realen Voraussetzungen“, was über die Bezugnahme auf den Staat hinaus zu verallgemeinern ist. Da bleibt die ‚Rebellion’ gegen geschlechtsspezifisch ungleichen Lohn für gleiche Arbeit, heutzutage fast atavistisch anmutend, in ‚Befreiung’ stecken und dringt nicht vor zur Freiheit von Lohnarbeit und dem System, das ohne sie nicht sein könnte, von dem aber das gesellschaftliche Bewusstsein zusammen mit seinem Begriff von Vernunft ‚bestimmt’ ist. Arendts Skepsis gegenüber einem „Übermaß an Vernunft“ (zit. S. 103) ist da nicht als Kritik an herrschender Vernunft zu lesen, sondern stützt die Argumentation von Frau Meyer und nährt zugleich ihre Kritik: „Gerade wenn also die Vernunft als wichtige und vielleicht einzige Norm bejaht wird, um in einer pluralen Gesellschaft Meinungsverschiedenheiten unter Individuen und Gruppen friedlich zu schlichten und Krieg und Kampf zu vermeiden, so sind damit immer Effekte der Durchsetzungsmacht verknüpft, insofern die Position der Dissidenz unaufhebbar bleibt. Der deliberative Streit in Form partikularen und vorübergehenden Konsent macht diese Problematik manifest im Unterschied zur Idee des universalen Konsenses, die vom Ende der Deliberation träumt.“ (S. 104) Natürlich kommt man über endloses Beratschlagen nicht zur ‚Freiheit’, wenn sie denn als Ziel von ‚Befreiung’ und darin als ein Mehr als bloß ‚Befreiung von’ gedacht ist. Palavern, um es zu ironisieren, wird überdies irgendwann langweilig; es ist, um es wieder mit Arendt auf eine ernsthafte Ebene zu bringen, ‚vergänglich’ und darum letzten Endes ‚vergeblich’. Natürlich muss man handeln. Was es dann „zu verankern“ gilt, also zu institutionalisieren laut Arendt, muss über Besinnungen auf die Problematik von Gewalt und Moral auch im Hinblick auf die Zweck-Mittel-Relation im Prozess der Realisierung (des Traumes) von Freiheit (vom ‚falschen Ganzen’) über Befreiung gewonnen werden. Sonst besteht die Gefahr befriedender Integration, wie es bei Marx ironisierend in Bezug auf den Arbeitstag formuliert ist und hier auf den ‚spaltenden’ Gegenstand des Frauenlohns gewendet werden kann: „An die Stelle des prunkvollen Katalogs der ‚unveräußerlichen Menschenrechte’ tritt die bescheidene Magna Charta eines gesetzlich beschränkten Arbeitstages“ – oder hier: eines gleichen Lohns für Frauen für gleiche Arbeit von Männern. Wie Marx auch das quittieren würde, ist mit seinem abschließenden Vergil-Zitat gesagt: „Quantum mutatus ab illo!“ Wenn auch das Bestreben um solche Veränderung hier bespöttelt wird, ist sie als möglicher Lernprozess zu qualifizieren und folgt dabei eher dem Gebot der Fairness (nach Rawls), auf das hier und heute Gerechtigkeit heruntergebrochen ist, die jedoch weiter gefasst werden könnte und dann den nervus rerum berührte, der stets in praktisch-philosophischen und philosophisch-politischen, dann tatsächlich kritischen Theoriedebatten namhaft zu machen ist. Wohl vorab und generell und hier auch für den Feminismus böte es sich an, dabei hinsichtlich einer vielleicht doch zu implementieren Vernunft bei dem philosophischen Altmeister Kant nachzulesen und sei es nur darum, um zu sehen, wie er über seinen Vernunftbegriff und sein Verständnis von einem ‚aufgeklärten Zeitalter’ Marx’ These angerichtet hat: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.“ – Da dann ist auch die Diskussion um die Zweck-Mittel-Relation eine in höchstem Maße politisch-praktische. ‚Veränderung’ ist auch Absicht der Verfasserin und dazu trägt ihre Schrift bei, auch unter Verzicht auf solche ggf. wiederkehrende Argumente, die auf der Wegstrecke geblieben sein mögen. Zu einer Diskussion, einer nicht konfrontativen (und im Hinblick auf Formen der Auseinandersetzung vielleicht doch an Marcuse anschließenden), um Ziel und im Hinblick auf welches Ziel welchen einzuschlagenden Weg provoziert sie in fruchtbarer Weise.
Fazit
Das Signet des Verlagshauses Schwabe aus dem Jahr 1488, in dem die Arbeit von Frau Meyer erschienen ist, illustriert die Bibelstelle Jeremia 23,29: „Ist nicht mein Wort wie Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert?“ Übrigens warnt der Prophet dann im Folgenden vor solchen seiner Zunftgenossen, „die Lügenträume weissagen und sie erzählen und mein Volk irreführen mit ihren Lügen und ihrem Flunkern.“ (23, 32) Heute würde man in der wissenschaftlichen kritischen Debatte statt vom Lügen und Flunkern vielleicht von Affirmation und Legitimation sprechen oder von verwissenschaftlichten politischen Rechtfertigungsnarrativen, die letzten Endes dem Bestandserhalt gesellschaftlicher Ordnung dienen, was sich auch gutgemeinte Kritik als Vorwurf gefallen lassen muss. Da hält die Verfasserin gegen und hakt nach, tritt mit Nachdruck für eine tatsächliche Demokratisierung ein, perspektiviert sie doch für die wie von ihr definierte „Machtteilung“ einen „Effekt wechselseitiger Ermächtigung, Förderung und Kontrolle von Macht“, schlussendlich um „Gewaltverhältnisse in einer Gesellschaft zu vermeiden“, und sich neben der „Macht zum Widerstand auch die Chance bietet, das Handeln mit anderen als sinnvoll zu erfahren, weil alle Beteiligten unterschiedliche Meinungen und Erfahrungen in die gemeinsame Praxis hinein tragen.“ Das gelte besonders im Hinblick auf eine „Weltlage, die mit immer neuen Trenn- und Konfliktlinien konfrontiert ist.“ (S. 184 f.) „Wehe den Hirten, welche die Schafe meiner Weide verkommen lassen, sodass sie sich zerstreuen!“ (23, 1), möchte man da den Verwesern jener Macht, die „an sich böse“ ist, das Wort des Propheten ins Stammbuch schreiben. Ohne jedes Augenzwinkern ist diese Zeile auch in das engagiert vorgetragene, weitergehende Desiderat der Verfasserin umzumünzen, sich nicht „zerstreuen“ zu lassen. Da warten jene sattsam bekannten „Mühen der Ebenen“ (Brecht), wo man auch über den Tellerrand partikularer Interessen hinaus schauen muss. Was hier kurios unter Rückbezug auf das Signet anmuten mag, unterstreicht einmal mehr, von welcher Tragweite die Auseinandersetzung mit Fragen von Macht und Gewalt und Herrschaft waren und sind – nicht nur, aber ganz wesentlich auch für die historisch überkommene ‚Frauenfrage’ und den aktuellen Feminismus. Selbstredend wegen der profunden Aufnahme des Werkes von Hannah Arendt ist das Buch zu empfehlen. Doch zumal und gerade wegen der kritischen Weiterführungen auf die Belange feministischer Theorie und Praxis ist ein breiter LeserInnenkreis zu wünschen, der schon erfahren hat oder qua Analyse und Vernunft darauf gekommen ist, dass herrschende Normalität ein – unter dem Strich weltweit – unwirtlicher bis ruinöser Aufenthaltsort ist, und man sich daher trotz aller unterschiedlichen Erfahrungshintergründe für den Zweck der Emanzipation eher zusammenfinden als ‚spalten’ lassen oder selbst ‚zerspalten’ sollte. Entsprechende zielführende Diskussionen können da folgen, wie sie von Frau Meyer angestoßen sind.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 26.01.2017 zu:
Katrin Meyer: Macht und Gewalt im Widerstreit. Politisches Denken nach Hannah Arendt. Schwabe Verlag
(Basel ) 2016.
ISBN 978-3-7965-3556-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21837.php, Datum des Zugriffs 10.10.2024.
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