Birgit Daiber: Und sie bewegt sich doch ... (Soziale Bewegungen)
Rezensiert von Prof. Dr. Christa Paulini, 01.06.2018

Birgit Daiber: Und sie bewegt sich doch ... Progressive soziale Bewegungen, die EU und die UNO - Ein Lesebuch. AG SPAK Bücher (Neu Ulm) 2016. 252 Seiten. ISBN 978-3-945959-05-3. D: 19,00 EUR, A: 19,00 EUR, CH: 20,00 sFr.
Thema
Das Buch beschäftigt sich mit progressiven sozialen Bewegungen, die seit den fünfziger Jahren des vorherigen Jahrhunderts immer wieder Impulsgeber für politische Veränderungen gewesen sind. Der Unterschied zu den politischen Parteien liegt in ihrer zeitlichen und /oder thematische Begrenztheit, ihren Anspruch auf Basis-Demokratie und ihrer transnational bzw. internationalen Verortung. Die Autorin geht dabei näher auf die gegeninstitutionelle Bewegung und 1968 ein, beschreibt die neue Frauenbewegung sowie die Umweltbewegungen und Friedensbewegungen. Sie geht näher auf die Anti-Globalisierungsbewegung und den europäischen Gewerkschaftsbund als der großen „alten“ Schwester der Neuen Sozialen Bewegungen ein. Das Buch schließt mit einem „Nachwort“ zum Verhältnis zwischen den neuen Sozialen Bewegungen und Parteien.
Autorin und Entstehungshintergrund
Die Autorin (Jg. 1944) hat an einigen der progressiven sozialen Bewegungen teilgenommen, angefangen mit der 1968er Bewegung. Sie war Abgeordnete im Europa-Parlament (1989-1994), Mitglied der Grundsatzkommission der ehem. PDS und hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brüssel ab 2008 aufgebaut. Sie ist als EU-Consultant für soziale Integration, integrierte Stadtentwicklung und lokale Wirtschaft und Beschäftigungsstrategie tätig. Sie ist Expertin für soziale Stadtentwicklung und hat vor allem in ihrer Berliner Zeit (1982-2007) einige der herausragenden Berliner Frauen- und Bildungsprojekten mit aufgebaut und ist Expertin in der Geschichte von Frauennetzwerken und Frauenbetrieben in Berlin.
Aufbau und Inhalt
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis des Buchs.
Das Buch beginnt mit einem Prolog und dem Versuch einer Zusammenfassung sowie mit der Feststellung, dass die progressiven sozialen Bewegungen aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit überall auf der Welt nicht mehr wegzudenken sind (S. 12). Emanzipatorische Bewegungen unterscheiden sich von politischen Parteien. „Sie sind eine eigenständige Form der politischen Interessensartikulation. Sie erfassen relevante Minderheiten in der Gesellschaft und können meinungsbildend wirken“ (S. 12). Die neuen sozialen Bewegungen sind transnational organisiert, sie entstehen als Bürgerproteste, können die institutionelle Politik beeinflussen und die soziokulturelle Verfasstheit von Gesellschaften verändern. Sie sind hybride Gebilde, ihr Verlauf ist offen, sie sind basisdemokratisch, haben einen informellen Charakter und sind unmittelbar themen- und aktionsbezogen. In den transnationalen Kontexten sind die EU und die Vereinten Nationen von Bedeutung.
Im ersten Kapitel geht die Autorin auf die „Gegeninstitutionellen Bewegungen und 1968“ näher eine und stellt hier kurz die „Kunst- und Kultur-Guerillas“ als einen wichtigen Impulsgeber für die 1968er Bewegung in Deutschland vor. Gleichzeitig beginnen in fast allen westlichen Ländern Protestbewegungen wie z.B. 1964 in Berkley, wo Studierenden wilde Streiks gegen den Vietnamkrieg, für Frauenemanzipation und die Rechte von Schwulen und Lesben organisierten. Für die 1968er Bewegung in Deutschland waren u.a. die Schwabinger Krawalle und die Spiegel-Affäre 1962 von Bedeutung. Aktionen zur Demokratisierung der Hochschulen, die Notstandsgesetzgebung und der Vietnamkrieg Angriffe der Springerpresse gegen die Protestierer, „die Erschießung Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967“ sind wichtige Ereignisse. Die Internationalisierung und Europäisierung der deutschen APO zeigt sich deutlich am 1968 stattfindenden Vietnam-Kongress. Die Auflösung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, der sich seit 1961 langsam als Sammelpunkt für die deutsche Linke profiliert hat, führt zu einem Zerfall der APO in die unterschiedlichsten Gruppierungen, die jeweils ihre eigenen gesellschaftlichen Wirkungen entfalteten: Landkommunen, Kinderladen-Bewegung, Frauenbewegung, aber auch der Kampf gegen Atomkraftwerke und ebenso die Gründung der „Roten Armee Fraktion“. Ein kleiner Exkurs zur „Selbstverwaltung in Deutschland nach 1968“ beschreibt diese Entwicklungen exemplarisch und kenntnisreich und schließt das Kapitel mit Informationen aus Frankreich, Italien und anderen europäischen Ländern und den jeweiligen Querverbindungen in den Protestbewegungen ab.
Im zweiten Kapitel geht die Autorin auf die „Neue Frauenbewegung“ näher ein, die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre entsteht. Sowohl in der USA 1967 als in der Bundesrepublik 1968 melden sich Frauen zu Wort und kritisieren die Nichtbeachtung der Thematik der Befreiung der Frau. Die Kampagne gegen das Abtreibungsverbot eint Frauen aus verschiedenen Ländern. Ein Charakteristikum der Neuen Deutschen Frauenbewegung ist ihr Anspruch auf die Verbindung zwischen Theorie und Praxis. Die Entwicklung der Frauenbewegung wird geprägt durch die Schaffung von eigenen Foren und Räumen bis 1976, Medienprojekte wie Courage oder EMMA und die Auseinandersetzung mit Gewalt gegen Frauen folgen. Auf der transnationalen Ebene wird die Weltkonferenz zum Internationalen Jahr der Frau 1975 in Mexiko ein wichtiger Meilenstein. Die Frauenbewegung differenziert sich in den 1980er Jahren stark aus. 1980 entsteht auch der erste Lehrstuhl für Frauenforschung.
Die deutsche Wiedervereinigung bringt die neue Frauenbewegung in Deutschland in die Defensive; dies zeigte sich u.a. auch bei der Finanzierung von alternativen Frauenprojekten am Beispiel der „regionalen Entwicklungsagentur für Frauenbetriebe und Projekte (REA)“ in Berlin.
Im Gegensatz zu anderen sozialen Bewegungen war und ist die Frauenbewegung das prägnantes Beispiel dafür, dass eine autonome Protestbewegung institutionelle Reformen anstoßen kann. In der Zusammenarbeit in der EU spielt der ab 1979 geschaffene Ausschuss „für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter“ (S. 65) eine wichtige Rolle. Es werden (10) europäische Rahmengesetze, die jeweils zur Verbesserung der Lebenssituation von Frauen beitragen, beschlossen. Für die Frauenbewegung hat die UNO eine herausragende Rolle bei der Formulierung der Rechte der Frauen. Die Ausrufung des „Internationalen Jahres der Frau 1975“, die Erklärung der Dekade der Frauen von 1975–1985 sowie die Anerkennung der Rechte der Frauen als Menschenrechte 1993 sind wichtige Meilensteine. Wichtig ist auch die Gründung von UN-Women als eigenständige UN-Organisation.
Im dritten Kapitel zeigt die Autorin die Entwicklung der Umweltbewegungen ab 1970 näher auf. Sie bewertet die Umweltbewegungen als die erfolgreichste soziale Bewegung nach 1945 aber gleichzeitig auch als die hilfloseste. Umweltbewegungen kämpfen gegen viele verschiedene Ursachen, die von Atomkraftwerken über Brandrodungen bis zum Kampf gegen Vergiftungen der Umwelt und gegen Superstaudämme reichen. Der unmittelbare Zusammenhang zwischen Faktenwissen und Aktionismus ist charakteristisch für die Bewegung. Wichtig für die Entwicklung sind verschiedene Veröffentlichungen über die Entstehung von Umweltschäden. Die Unterstützung der UNO erfolgte u.a. durch Berichte sowie durch die UNO-Umweltkonferenz 1992 in Rio de Janeiro.
Als aktive Verbände werden 1969 the „Friends oft he Earth“ und 1971 „Greenpeace“ gegründet. Die europäischen Umweltbewegungen begannen in Frankreich 1971 mit dem Aufstand der Schafhirten gegen eine Erweiterung des Truppenübungsplatzes.
Die deutsche Anti-Atom-Bewegung nimmt ihren Ausgangspunkt in den Plänen zu Wyhl und später Brockdorf, dass zum Symbol für die Anti-AKW-Bewegung wird. Es schließen sich ab 1977 die langfristigen Proteste gegen Gorleben als Endlager für Atommüll sowie die Proteste gegen den Bau einer Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf/Bayern 1985 an. Die Proteste gegen die Castor-Transporte begannen ab 1995. Atomare Katastrophen wie 1979 in Three Mile Island bei Harrisburg, 1986 in Tschernobyl und 2011 in Fukushima führten letztendlich zum deutschen Ausstieg aus der Kernenergie. Die Entscheidungen in den anderen europäischen Ländern dagegen sind uneinheitlich.
Die Umweltbewegungen organisieren sich frühzeitig im Rahmen der EU. Bereits 1974 wurde das Europäische Umwelt-Büro in Brüssel gegründet. 1992 wurde Umweltpolitik als eigenständiges europäisches Politikfeld im Maastricht-Vertrag verankert; derzeit werden ca. 80–90 % aller Umweltgesetzgebung in Brüssel gemacht wird. Insgesamt sind die Umweltbewegungen und die Bauernopposition in der europäischen Politik sehr erfolgreich.
Die UNO hat sich frühzeitig den Anforderungen einer globalen Politik gestellt. Die erste Umweltkonferenz findet 1972 in Stockholm statt, 20 Jahre später ist die Konferenz in Rio, das Kyoto-Protokoll (2005) sowie die Weltklimakonferenz in Paris 2015 sind weitere wichtige Stationen auf globaler Ebene.
Im vierten Kapitel geht es detailliert um die Friedensbewegungen, als eines der ältesten sozialen Bewegungen. Die Autorin beruft sich hier auf Kants Schrift „Zum Ewigen Frieden“ (1795) und zeigt auch die Entwicklung der Friedensbewegung mit ihren unterschiedlichen Vereinen in der Weimarer Republik auf. In der Bundesrepublik Deutschland konzentrierten sich die Konflikte um das Thema der „Wiederbewaffnung“ und damit verbunden auch der atomaren Wiederbewaffnung. Nach dem faktischen Scheitern dieser Aktionen bilden, die nach britischen Vorbild ins Lebens gerufene „Ostermarsch-Bewegung“ ein kontinuitätsstiftendes Element zwischen den Protesten der 1950er Jahre und der 1968er Bewegung. Erst mit der Massenmobilisierung gegen den Nachrüstungsbeschluss der NATO (ab 1978) wird die Friedensbewegung ab 1981 erneut zur Massenbewegung. Die Entwicklung in den Nachbarländern Österreich, Italien sowie Niederlande verläuft jeweils unterschiedlich. Die Schaffung der KSZE (1975) stellt für die Friedensbewegungen in Osteuropa aber auch für die DDR eine wichtige Unterstützung dar.
Im fünften Kapitel beschäftigt sich die Autorin mit der Anti-Globalisierung-Bewegung. Die Bewegung beginnt 1988 mit großen Demonstrationen anlässlich der Tagung des „Internationalen Währungsfonds und der Weltbank“ in Berlin. Es folgten Demonstrationen 1989 in Paris, 1994 in Madrid und 1999 in Seattle. In Seattle war auch die neu in Frankreich gegründete Attac-Bewegung dabei. Sie macht schon früh auf die „Gefahren der internationalen Finanzspekulation“ (S. 138) aufmerksam und ist seit seiner Gründung an allen großen Aktionen gegen IWF, G8/G20, WTO beteiligt. „Attac gehört auch zu den Veranstaltern des ersten Welt-Sozial-Forums 2001 in Porto Allegre in Brasilien. Mit diesen Welt-Sozialforen und den regionalen Sozial-Foren hat die Anti-Globalisierungsbewegung eine eigenständige Form der Kommunikation und Organisation entwickelt.“ (S. 139). In Porto Alegre, dem ersten Weltsozialforum formulieren die TeilnehmerInnen ihre massive Kritik an der „derzeitigen neoliberalen Ausrichtung der Globalisierung“ (S. 140). Sie fordern u.a. freier Zugang zu Wasser und anderen Gütern wie Kultur, Musik, Land, Saatgut, Wissen. Mit der Verabschiedung einer gemeinsamen Charta werden die Grundlagen für die künftigen Foren geschaffen. „Das Weltsozialforum ist ein globaler Open Space mit Aktionsorientierung“ (S. 148).
Angeregt durch das Weltsozialforum in Porto Alegre 2001 finden zwischen 2002 bis 2010 auch Europäische Sozialforen regelmäßig statt.
Im sechsten Kapitel wird der Europäische Gewerkschaftsbund näher dargestellt. Die „alte“ Schwester der Neuen Sozialen Bewegungen bildet 1972 eine gemeinsame europäische Organisation (EGB). 2013 gehören 85 nationale Organisationen und 10 sektorielle Gewerkschaftsbünde aus 36 Ländern dazu. Der EGB agiert sowohl auf nationalen als auch auf internationalen Level. Die Aktionsprogramme und Kampagnen des EGB bewegen sich zwischen sozialem Dialog und Widerstand. Ab 1979 wird der Kampf um „Arbeitszeitverkürzungen und die 35-Stundenwoche“ Thema. Erfolgreich sind die Jahre zwischen 1985–1995 unter Jacques Delors als Kommissionspräsident. Sie gelten als die goldenen Jahre der Sozialpolitik und des sozialen Dialogs auf EG-/EU-Ebene. In dieser Zeit ist es möglich viele soziale Gesetze zu verabschieden. Mit der Methode der offenen Koordinierung ändert sich das Vorgehen der EU in der Sozialpolitik. Gemeinsame Zielsetzungen werden nun festgelegt, deren Realisierung aber den Mitgliedstaaten überlassen bleibt. 1997 beginnt der erste europäische Streik und zwischen 2004 bis 2006 steht der Widerstand gegen die Bolkestein-Richtlinie (Dienstleistungsrichtlinie) im Fokus. Wichtige weitere Veranstaltungen sind 2011 der Kongress in Athen und seine Forderung nach „Neuen Grünen und sozialen Deal“ sowie 2013 der alternative Gipfel in Athen,
Im Nachtrag bzw. im Schlusswort beschäftigt sich die Autorin nochmals mit dem Verhältnis Soziale Bewegungen und Parteien. Sie stellt fest, dass die Neuen Sozialen Bewegungen Teil der europäischen Bürgergesellschaft sind (S. 212). Es gibt zwar historisch gewachsene oder aktuelle Verbindungen zwischen Parteien und den Neuen Sozialen Bewegung, aber auch Unverträglichkeiten. In ihren Aussagen über die Unterschiede in Führungsstruktur und nationaler oder transnationaler Ausrichtung knüpft die Autorin letztendlich an ihr Vorwort an. Sie vertritt die Auffassung, dass die Neuen Sozialen Bewegungen ihre Erfolge letztendlich verschenken und sich auf aktuelle Proteste beschränken, während sich die Parteien auf ihr „business as usual“ reduzieren und die sozialen Kämpfe unserer Zeit nicht in Gesellschaftspolitik umsetzen können (S. 221).
Zielgruppen
Dieses Buch ist für alle am Zeitgeschehen Interessierten sehr interessant. Als Lesebuch vermittelt es einen guten Überblick über die Entwicklung von Neuen Sozialen Bewegungen. Auch für Studierende – nicht nur aus der Sozialen Arbeit – ist dies interessant. Es vermittelt Wissen über vergangene und gegenwärtige soziale Bewegungen.
Fazit
Der Titel macht neugierig, die Ausführungen sind meist spannend und gut nachvollziehbar. Das Buch wird seinen Anspruch „progressive soziale Bewegungen, auch im Kontext von EU und die UNO, in Form eines Lesebuchs“ darzustellen sehr gut gerecht und bietet einen guten Überblick über die Neuen Sozialen Bewegungen.
Rezension von
Prof. Dr. Christa Paulini
HAWK Hildesheim/Holzminden/Göttingen, Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit
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