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Jürgen Budde, Susanne Offen et al. (Hrsg.): Das Geschlecht der Inklusion

Rezensiert von Prof. Dr. Wiebke Falk, 02.08.2017

Cover Jürgen Budde, Susanne Offen et al. (Hrsg.): Das Geschlecht der Inklusion ISBN 978-3-8474-0794-2

Jürgen Budde, Susanne Offen, Anja Tervooren (Hrsg.): Das Geschlecht der Inklusion. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2016. 181 Seiten. ISBN 978-3-8474-0794-2. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.

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Thema

Im Diskurs um Inklusion dominiert die Auseinandersetzung mit der Differenzkategorie „Behinderung“. Die UN-BRK (UN-Behindertenrechtskonvention) hat die Debatte um Inklusion intensiviert. Hieraus erklärt sich die Konzentration auf die Kategorie „Behinderung“. Dies bedeutet allerdings – so der Diskurs hierbei stehen bleiben würde – eine verkürzte Auffassung von Inklusion sowie der gesellschaftlichen Realität von Teilhabe und Ausschluss. Zunehmend werden andere Diskurse über soziale Ungleichheit zum Inklusionsdiskurs in Beziehung gesetzt. Bereits vor der UN-BRK wurde, bspw. durch die Disability Studies, die Fokussierung auf einzelne Ungleichheitsdimensionen kritisiert und die wechselseitige Befruchtung von Diskursen erprobt bzw. betrieben. In diesem Zusammenhang ist auch das Buch von Budde/Offen/Tervooren zu sehen. Es verknüpft Diskursstränge mit dem Ziel einer wechselseitigen Perspektivenerweiterung, kritischen Auseinandersetzung mit Verkürzungen des Diskurses und auch der Praxis von Inklusion.

Herausgeber*innen

  • Prof. Dr. Jürgen Budde ist am Institut für Erziehungswissenschaft der Europa Universität Flensburg tätig. Er lehrt und forscht u.a. zu Erziehungs- und Bildungsprozessen in Schule und Unterricht, Geschlechterfragen in diesen Kontexten, Umgang mit Heterogenität und Inklusion.
  • Dr. Susanne Offen ist Studienrätin an einer berufsbildenden Schule, wo sie Politik unterrichtet. Außerdem lehrt und forscht sie am Institut für integrative Studien der Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Themenschwerpunkte sind politische Bildung, Inklusion bzw. Exklusionsrisiken, Didaktik der Sozialwissenschaften, der Sozialen Arbeit und des Sachunterrichts sowie soziale Ungleichheit und Professionalisierung.
  • Prof. Dr. Anja Tervooren ist am Institut für Pädagogik der Universität Duisburg-Essen tätig. Sie betreibt schwerpunktmäßig Bildungs- und Sozialisationsforschung, Kindheits- und Jugendforschung und arbeitet zum Thema der Konstruktionen von Differenz und Intersektionalität.

Autor*innen

Neben den Herausgeber*innen fungieren als Autor*innen der Beiträge im Buch:

  • Mechthild Bereswill,
  • Nina Blasse,
  • Carla Di Georgio,
  • Bettina Kleiner,
  • Margarete Menz,
  • David Mitchell,
  • Heike Raab,
  • Torben Rieckmann,
  • Ulrike Schildmann,
  • Sharon Snyder,
  • Christine Thon,
  • Linda Ware,
  • André Frank Zimpel und
  • Johanna Zühlke.

Entstehungshintergrund

„Das Geschlecht der Inklusion“ ist erschienen in der Reihe „Jahrbuch Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft“, Verlag Barbara Budrich. Die Reihe befasst sich aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive mit Geschlecht und Geschlechterdifferenz und setzt mit jedem Reihentitel unterschiedliche thematische Schwerpunkte. Sie beabsichtigt die Geschlechterforschung in diesem Fach „kontinuierlich“ zu dokumentieren sowie ein „innovatives Forum“ für den wissenschaftlichen Diskurs zu sein. Die Beiträge der Reihe werden in einem nach internationalem Standard konzipierten Review-Verfahren begutachtet.

Aufbau

Der Reihentitel beginnt mit einer Einleitung durch die Herausgeber*innen und ist dann in drei Teile gegliedert.

  1. Essays

  2. Thementeil

  3. Offener Teil

Inhalt

Mit der UN-BRK ist der Anspruch Inklusion für sämtliche mit Bildung befassten Institutionen und Felder maßgebend. Dementsprechend dynamisch und vielfältig sind der Diskurs und die darin zu findenden Auffassungen von Inklusion. Das Jahrbuch knüpft an ein breites Verständnis von Inklusion an, das „vielfältige Dimensionen von Heterogenität“ berücksichtigt und sich auf „jegliche Exklusionspraxen in Bildungsinstitutionen und gesellschaftlichen Prozesse“ (S. 7) bezieht, mit dem Ziel selbige abzubauen. Bedeutsam seien dabei Widersprüche zwischen dem Anspruch der Inklusion (Teilhabeorientierung und eine menschrechtsorientierte Pädagogik) und

  • dem System formaler Bildung, für welches Differenz konstitutiv ist,
  • Prozessen gesellschaftlichen Ausschlusses, die sich entlang unterschiedlicher Differenzkategorien bilden, die mit Bildung zwar zusammenhängen aber durch Bildung nicht aufgehoben werden können.

Die Herausgeber*innen stellen fest, dass sich die Frauen- und Geschlechterforschung schon seit Langem mit eben diesen Widersprüchen auseinandersetzt sowie mit der „Verschränkung unterschiedlicher Heterogenitätsdimensionen“, weshalb eine Bereicherung des Inklusionsdiskurses durch diese Perspektive erwartet wird. Sie gehen von der These aus, dass der Diskurs und die Praxis von Inklusion vielfältig verwoben sind mit den Geschlechterdiskursen. Nicht zuletzt soll der Teilhabeanspruch, der mit Inklusion verknüpft ist, geschlechtertheoretisch durchdacht werden. Es ist das Anliegen des Buches, das Verhältnis von Frauen- und Geschlechterforschung, Queer Studies sowie Disability Studies in den Blick zu nehmen und den Diskurs um Inklusion durch eine geschlechtstheoretische Perspektive zu befruchten. Die Beiträge des Buches widmen sich diversen Fragestellungen, die sich in der Verknüpfung der Inklusionsthematik mit Fragen des Geschlechtes ausmachen lassen. Darüber hinaus unterscheiden sie sich hinsichtlich der Disziplin aus der heraus die Thematik aufgegriffen wird, wie auch hinsichtlich ihrer methodischen Herangehensweise. Exemplarisch werden hier einige Beiträge des Buches vorgestellt. Alle weiteren Beiträge werden anschließend aufgeführt.

Carla Di Georgio untersucht an einer frankophonen Schule in Kanada die Zusammenhänge von Sprache/kulturellem Hintergrund, Geschlecht (v.a. der Eltern, aber auch Lehrkräfte und Schüler*innen) und Beeinträchtigung bzw. besonderem Förderbedarf und Inklusion. Als konzeptionelle Grundlage dient Bourdieus Theorie der Kapitalsorten. Im Ergebnis ist festzustellen, dass die Sprachkompetenz der Eltern – auch unterschieden nach Mutter oder Vater – einen Einfluss auf inklusive Prozesse hat. Fühlen sich Eltern der französischen Sprache mächtig, steigen ihre Möglichkeiten aktiv wie passiv am Schulgeschehen teilzuhaben und damit positiv Einfluss auf die Teilhabe ihres Kindes in der Schule (bzgl. akademischer wie sozialer und kultureller Aspekte) zu nehmen. Dabei ist festzustellen, dass Väter eher den akademischen Erfolg ihrer Kinder im Blick haben, während Mütter vergleichsweise mehr auf das soziale Wohlergehen ihrer Kinder achten. Das Einbezogensein der Eltern in das Schulgeschehen beeinflusst in positiver Weise das Verhältnis der Lehrkräfte und Eltern zueinander, wodurch die Beziehung der Schule zum Gemeinwesen („community“) profitiert sowie die Teilhabe der betreffende Schüler*innen.

Der Beitrag von David Mitchell, Sharon Snyder und Linda Ware kommt aus den amerikanischen „Disability Studies in Education“, in den weitere Perspektiven, wie die der Queer Studies, einfließen. Basierend auf einer Kritik am personenorientierten Verständnis von Behinderung und dessen Auswirkung auf die (US-amerikanische) Umsetzung gemeinsamer Erziehung- und Bildung (kritisch als „inclusionism“ bezeichnet, welcher darauf abziele Abweichungen von der Norm „passend“ zu machen, damit sie in ein „Allgemeines“ integrierbar seien), zeigen die Autor*innen Ansätze auf für eine „no body“ zurücklassende, bzw. diskriminierende, benachteiligende Pädagogik. Zentral hierfür ist der Begriff der „curricular cripistemology“: Auf Behinderungserfahrung basierende Inhalte sind in das Curriculum zu integrieren, um Einblick in alternative (Lebens-) Perspektiven zu ermöglichen.

Bettina Kleiner, Torben Riekmann und André Zimpel arbeiten Verbindungen zwischen Queer Studies und Disability Studies und ihrem Verhältnis zu Inklusion heraus, um daraus Erkenntnisse für „das Programm Inklusion“ abzuleiten. Dies erfolgt mittels „Dialogue Journals“ über einen dokumentarischen Kurzfilm, in welchem sich Judith Butler und Sunaura Taylor über verschiedene Themen, die die beiden „studies“ verbindet, unterhalten. Zentrales Ergebnis: Die Befreiung von Normalisierungs- und Selektionsmechanismen muss auf der Ebene von Wissenschaft beginnen, indem ein neues Verständnis von Bildung und Unterricht im Sinne von Inklusion entwickelt wird.

Jürgen Buddes und Nina Blasses Beitrag nimmt zum Ausgang, dass mit dem Anspruch auf Inklusion und der damit einhergehenden Heterogenisierung von Schüler*innenschaft und Personal die Bedeutung von Care-Tätigkeiten im Unterrichtsgeschehen steigt. Die Auswirkungen hiervon auf den Unterricht sowie die Frage der Vergeschlechtlichung der Care-Tätigkeiten werden beleuchtet. Anfangs wird entwickelt, wie Care im Kontext Bildung und Erziehung bzw. Unterricht zu denken ist. Bezogen auf das Berufsfeld der Schulbegleitung wird aufgezeigt, dass Care-Tätigkeiten generell eine Verweiblichung aufweisen. Basierend auf einer empirischen Untersuchung (Unterrichtsbeobachtung in einer Schule mit „positiver Bezugnahme auf Inklusion“) werden Zusammenhänge zwischen Care und Geschlecht untersucht. Eine deutliche Vergeschlechtlichung lässt sich feststellen, sie besteht v.a. in drei Aspekten:

  1. Schulbegleitung (als Ausdruck heterogener Schüler*innenschaft im Anspruch Inklusion) wird vorwiegend von weiblichen Personen ausgeführt
  2. Care-Tätigkeiten im Unterricht weisen eine für das Schulgeschehen ungewöhnlich deutliche Körperlichkeit auf (und körperbezogene Handlungen sind kulturell gesehen eher weiblich konstruiert)
  3. indem Care als semiprofessionelle Aufgabe vorwiegend von nicht ausgebildeten Fachkräften ausgeführt wird, werden Hierarchien entlang „typisch weiblicher“ (im Sinne von „doing gender“) Aufgaben markiert.

Weitere Beiträge:

  • Schildmann, Ulrike: Von der (reflexiven) Koedukation zur (reflexiven) Inklusion – ein Hürdenlauf der besonderen Art
  • Raab, Heike: Re/Vision – Inklusion, Behinderung und Geschlecht
  • Bereswill, Mechthild/Zühlke, Johanna: „Faktor Frau kommt meilenweit danach“. Eine qualitative Exploration zum Verhältnis von Geschlecht und Behinderung
  • Menz, Margarete/Thon, Christine: Familie und Beruf – oder? Hegemoniale Diskurse, (un)zureichende Alternativen und die Suche nach dem 'guten Leben'

Diskussion

Bei überschaubarem Umfang ermöglicht das Buch neue Perspektiven auf bekannte Fragen, beleuchtet Aspekte, die bisher wenig bis gar nicht thematisiert wurden, und liefert Anregungen im Hinblick auf die Gestaltung guter, inklusiver Bildungspraxis. Dabei nähert sich das Buch der Frage der Verknüpfung des Inklusionsdiskurses mit Geschlechterfragen weniger grundlegend-systematisch, sondern durch die Zusammenstellung von Beiträgen, die sich unterscheiden hinsichtlich der fachlichen Zugänge, der Methoden, der thematischen Aspekte usw. Wodurch das Buch an vielfältig gelagerte Interessen potentieller Leser*innen anknüpfen kann.

Zur Sprache kommende Positionen und Erkenntnisse aus den Beiträgen des Buches sind teils im Kern nicht neu (z.B. dass Inklusion sich auf sämtliche Heterogenitätsdimensionen bezieht oder dass „Inklusionismus“ im Sinne einer Einpassung von Schüler*innen mit Beeinträchtigung in das Unterrichtsgeschehen bedeutet, bestehende Normvorstellungen, die Grundlage für Diskriminierung und Benachteiligung sind, aufrechtzuerhalten, was Inklusion zuwiderläuft). Ihre Verknüpfung und Zusammenstellung hat dennoch Neuigkeitswert. Es wird sich der Anknüpfungsfähigkeit der Diskurse vergewissert und damit die Argumentationsgrundlage in Bezug auf Inklusion erweitert. Da in der Öffentlichkeit nach wie vor Debatten über die „Inkludierbarkeit“ von Schüler*innen zu finden sind, ist es sinnvoll den Diskurs um Inklusion immer wieder auf seine Kernfragen zu bringen, wie die Verhinderung von Exklusion, von exklusiver Praxis. Dies ist durch die Berücksichtigung der Perspektiven von Queer und Disability Studies besonders glaubwürdig.

Die ausgewählten, allesamt auf das Themenfeld Bildung und Inklusion bezogenen Beiträge, sind darüber hinaus geeignet – so man sie exemplarisch versteht – auch Impulse zur Erweiterung des Diskurses um Inklusion in anderen Lebensbereichen zu geben. Die Vielfalt der Beiträge (Zugänge, Sprache, thematischer Fokus) ergibt eine anspruchsvolle aber auch anregende Lektüre.

Fazit

Mit dem Buch werden kritische Blicke auf „den“ Inklusionsdiskurs und „die“ Inklusionspraxis geworfen. Nationale wie internationale Beiträge befassen sich mit unterschiedlichen Fragestellungen, welche die Verknüpfung des Inklusionsdiskurses mit Frage der Frauen- und Geschlechterforschung hergibt. Damit trägt das Buch zu einer Weiterentwicklung des Diskurses bei. Die Beiträge im Buch verbindet dabei ein Verständnis von Behinderung, welches klar zwischen der individuellen Beeinträchtigung und der Be-Hinderung im Sinne sozialer Prozesse (analog zu anderen Differenzkategorien und deren Charakter als soziale Konstruktion, z.B. „doing gender“) unterscheidet und davon ausgehend ein Inklusionsverständnis zugrunde legt, wonach eine radikale Veränderung des (Bildungs-) Systems erforderlich ist, damit Normalisierung, Selektion, Exklusion nicht reproduziert werden und eine alle Heterogenitätsdimensionen gleichwertig anerkennende und damit „menschenrechtsorientierte“ Bildungs-/ Unterrichtspraxis möglich wird.

Der Band ist eine empfehlenswerte Lektüre für Theoretiker*innen wie Praktiker*innen, die generell an einer kritischen Auseinandersetzung mit Inklusion interessiert sind, weil er für die Verkürzungen im Verständnis von Inklusion und ihrer praktischen Umsetzung sensibilisiert. Insbesondere empfiehlt es sich – entsprechend der Intention des Buches – für jene, welche sich besonders mit der Verknüpfung des Inklusionsdiskurses (schwerpunktmäßig auf Behinderung bezogen) mit Geschlechterfragen, ihren Gemeinsamkeiten, gegenseitigen Ergänzungen und wechselseitigen Befruchtungen auseinandersetzen möchten. Hier erscheint insbesondere die Vielfalt der Beiträge als gewinnbringend.

Rezension von
Prof. Dr. Wiebke Falk
Hochschule Ravensburg-Weingarten, Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege
Angewandte Sozialarbeitswissenschaft, insbesondere Teilhabeforschung
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Es gibt 1 Rezension von Wiebke Falk.

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ISSN 2190-9245