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Michael Herbst, Frieder Dünkel et al. (Hrsg.): Daseinsvorsorge und Gemeinwesen im ländlichen Raum

Rezensiert von Prof. Dr. habil. Monika Alisch, 09.01.2017

Cover Michael Herbst, Frieder Dünkel et al. (Hrsg.): Daseinsvorsorge und Gemeinwesen im ländlichen Raum ISBN 978-3-658-11768-9

Michael Herbst, Frieder Dünkel, Benjamin Stahl (Hrsg.): Daseinsvorsorge und Gemeinwesen im ländlichen Raum. Springer VS (Wiesbaden) 2016. 229 Seiten. ISBN 978-3-658-11768-9. D: 39,99 EUR, A: 41,11 EUR, CH: 41,50 sFr.

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Thema

Der Band setzt sich mit den komplexen Problemlagen peripherer ländlicher Räume am Beispiel der Region Vorpommern auseinander. Vor dem Hintergrund schwieriger wirtschaftlicher Verhältnisse, Schrumpfungsprozessen durch den selektiven Fortzug der erwerbsfähigen Bevölkerung, wird die von Karl-Dieter Keim als Peripherisierung beschriebene graduelle Schwächung und Ankopplung sozial-räumlicher Entwicklungen (gegenüber den dominanten Zentralisierungsvorgängen in den Ballungsräumen) interdisziplinär in den Blick genommen.

Herausgeber/Autor_innen

Die Herausgeber sowie die meisten Autor_innen des Bandes sind Forscherinnen und Forscher der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifwald, die seit dem Jahr 2011 in einer interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft unter dem programmatischen Namen „Think Rural!“ an Fragen zur Zukunft peripherisierter ländlicher Räume zusammenarbeiten.

  • Prof. Dr. Michael Herbst ist Professor für Praktische Theologie.
  • Prof. Dr. Frieder Günkel war bis zum Jahr 2015 an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Greifswald für die Kriminologie zuständig.
  • Der Dipl. Theologe Benjamin Stahl, M.A. ist seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung an der Universität Greifwald und Ansprechpartner für das Forschungskonsortium „Think Rural“.

Die Autor_innen des Bandes, der das zweite Symposium der Arbeitsgruppe aus dem November 2014 dokumentiert, kommen aus den Fachdisziplinen Sozial-/Wirtschaftsgeografie, Ökologie, Agrarwissenschaften, Gesundheitswissenschaften, Betriebswirtschaft und Finanzwissenschaft, Theologie, Kriminologie, Präventionswissenschaft und Soziale Arbeit.

Aufbau und Inhalt

Ohne dass es im Inhaltsverzeichnis markiert ist, lassen sich die zwölf Autorenbeiträge in vier thematische Blöcke zusammenfassen:

  1. Die ersten drei Beiträge befassen sich mit der Gesundheitsversorgung in ländlichen Räumen als wesentliches Moment der Daseinsvorsorge.
  2. Im zweiten Themenblock steht das zivilgesellschaftliche Engagement im Zentrum der Betrachtung.
  3. Im dritten Themenfeld geht es in drei Beiträgen um Erwerbsmöglichkeiten und die Sicherung der Daseinsvorsorge aus landwirtschaftlicher und ökonomischer Perspektive.
  4. Im letzten Abschnitt des Bandes skizzieren die Autor_innen in zwei Beiträgen Antworten auf Fragen der Sicherheit und Kriminalität in peripheren, ländlichen Räumen.

Quasi als Fazit des gesamten Bandes setzt sich der letzte Beitrag mit den weiteren Forschungsperspektiven zu ländlichen Räumen und explizit der Greifswalder Forschungsgruppe „ThinkRural!“ auseinander.

Der Volkswirt und Finanzwissenschaftler Walter Ried eröffnet den Band nach einem Herausgebervorwort sowie einem Vorwort der Friedrich Ebert Stiftung, die das Symposium und die Produktion des Sammelbandes unterstützt hat, mit seinem Beitrag „Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum: Ziele und Indikatoren“. Obwohl es nicht die Einleitung des Bandes ist, startet dieser Beitrag mit den grundlegenden Klärungen zu den nicht unproblematischen Begriffen ‚Ländliche Räume‘, ‚Daseinsvorsorge‘ und die ‚Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse‘. Diese Klärungen sind für alle folgenden Beiträge relevant. Dabei lässt sich der Autor nicht auf die jeweils umfassenden Debatten zu den Begriffsbefüllungen ein, sondern hält sich an die Definitionen, die von Entscheidungsträgern verwendet werden. Im Anschluss werden die Ziele und Indikatoren der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum erläutert. Dabei wird herausgestellt, dass „bestehende regionale Unterschiede in der Gesundheitsversorgung und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ (S. 11) nur dann valide abgebildet werden können, wenn bei der Formulierung von Zielen und der Auswahl von Indikatoren darauf geachtet wird, „dass diese neutral im Hinblick auf die Versorgungsaspekte“ (ebd.) sind. Dies sind „(1) der Ort, an dem die betreffenden Leistungen erbracht werden, (2) die Leistungserbringer, (3) die Art und Weise, in der die Leistungen erbracht werden und (4) die Weise, in der für die Bevölkerung der Zugang zu den Leistungen ermöglicht wird“ (ebd.). Zur Formulierung von Zielen für die regionale Gesundheitsversorgung hebt Ried hervor, dass die Gesundheit eines Individuums eine wichtige Voraussetzung für seine Teilhabe am Leben darstelle (vgl. ebd. 12), „ohne die zahlreiche Aktivitäten nicht oder nur in sehr eingeschränktem Umfang möglich wären“ (ebd.). Entsprechend sei die Formulierung von Zielen der Gesundheitsversorgung in ländlichen Räumen analog zur Daseinsvorsorge darauf gerichtet, dass das Angebot von Gesundheitsleistungen flächendeckend und die Leistungen ein (Mindest-)Qualitätsniveau nicht unterschreiten dürfen. Sich auf diese Standards zu verständigen, ist die eigentliche Herausforderung. In einem weiteren Abschnitt schlägt Ried Indikatoren vor, die die Angemessenheit einer regionalen Gesundheitsversorgung beschreiben können. Abzubilden sind der Bedarf der regionalen Bevölkerung, die vorhandenen Angebotskapazitäten und die Zugänglichkeit dieser Angebote. Die Indikatoren müssten vor allem offen sein für neue Versorgungskonzepte, die von der vorherrschenden Regelversorgung abweichen.

Ulrike Stenzel, Wolfgang Hoffmann und Neeltje van den Berg vom Institut für Community Medicine, Universitätsmedizin Greifswald stellen die Ergebnisse einer Studie zu „Gesundheitsberufe(n) in Mecklenburg-Vorpommern – Angebot und Nachfrage von Qualifikationen und Qualifizierten“ zur Diskussion. Für ihre Analyse haben die Autor_nnen das Angebot zum Stand 2012 und den voraussichtlichen Bedarf an ausgewählten Angehörigen von Gesundheitsberufen bis zum Jahr 2020 ermittelt. In der Studie wird zwischen den akademischen Berufen der Ärztin, der Zahnärztin und der Apothekerin sowie den Nicht-ärztlichen Gesundheitsberufen der Gesundheits- und Krankenpflege, der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege, der Physiotherapie, Ergotheraphie, Altenpfelge und der medizinischen Fachangestellten unterschieden. Für beide Berufsgruppen wird zunächst eine Ist-Analyse vorgenommen, dann der Nachwuchs anhand der Studierenden- und Auszubildendenzahlen erläutert und mit dem Wiederbesetzungsbedarf die Versorgungsperspektive abzustecken versucht. Die Autor_innen schlussfolgern, dass die Datengrundlage insb. für die Abschätzung des Wiederbesetzungsbedarfs für Altenpflegerinnen und Gesundheits- und Krankenpflegerinnen nur schwierig zu beurteilen sei. Sie schlagen zur Bewältigung eines Fachkräftemangels insb. vor, attraktivere Bedingungen zu schaffen, die sie vorwiegend auf Angebote der Fort- und Weiterbildung, auf Entwicklungs- und Karrieremöglichkeiten beziehen.

Im dritten Beitrag zur Gesundheitsversorgung als wesentliches Element der Daseinsvorsorge im ländlichen Raum setzen sich der Betriebswirt und Gesundheitsmanager Steffen Fleßa und die Diplom Kauffrau Vanessa Gieseler mit der „Rolle der Krankenhäuser im ländlichen Raum“ auseinander. Sie gehen der Frage nach, ob und inwiefern Menschen in ländlichen Räumen systematisch bei der stationären Versorgung benachteiligt werden und was Krankenhäuser tun können, um diese Situation zu verbessern (vgl. S. 43). Zur Beantwortung dieser Fragen beschreiben die Autorin und der Autor zunächst den Status Quo der stationären Krankenhausversorgung in Deutschland. Anschließend stellen sie das (alte) Modell der District Health Care der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die innovative Variante des „Regional Health Care“ (RHC) vor und versuchen, die Rolle der Krankenhäuser in einem solchen System zu skizzieren. Deutlich wird, dass die eigentliche Expertise für eine regionale Daseinsvorsorge im Gesundheitsbereich bei den Krankenhäusern liegt – nicht bei den Kommunen, die jedoch im Zuge der Sicherstellungsverantwortung adressiert sind, die Gesundheitsversorgung zu sichern. In der Konzeption der WHO gehen die Kompetenzen der Krankenhäuser deutlich über die stationäre Kuration hinaus. Sie seien „gerade in ländlichen Räumen eine Referenzinstitution für vorgelagerte Einrichtungen (ambulanter Sektor)“ (S. 48). Neben seiner Funktion als Diagnostik-, Therapie-, und Ausbildungsinstitution, sieht das RHC Konzept das Krankenhaus als Steuerungszentrale. Die Autorin und der Autor schlussfolgern für ihre Referenzregion Mecklenburg-Vorpommern, dass für die Umsetzung eines solchen Ansatzes, mehr Krankenhäuser auf dem Land benötigt werden. Dass solche kleinen ländlichen Krankenhäuser vor erheblichen Herausforderungen stehen, wird im weiteren Beitrag deutlich. Am Beispiel der Region Vorpommern werden Beispiele für die Übernahme neuer Rollen und Funktionen ländlicher Krankenhäuser im Ansatz diskutiert: Notfallversorgung, Integration und ambulante Versorgung sowie eine grenzüberschreitende Versorgung, die für den Grenzlandkreis Vorpommern-Greifswald von besonderer Bedeutung wäre. Die zur Umsetzung erforderlichen Entscheidungen beziehen sich auf eine ausreichende Personalausstattung, die Personalgewinnung und das Halten des Personals in der Region. Wettbewerbsrechtlich sei zu verhindern, dass Krankenhausfusionen den Ansatz der Regionalisierung konterkarieren und eine zentrale Krankenhausplanung müsse darauf ausgerichtet sein, eine ortsnahe Versorgung der ländlichen Bevölkerung sicherzustellen.

„Regional Governance und ländliche Räume“ sind das Thema von Michael Böcher, Forstwissenschaftler an der Universität Göttingen. Mit dem Begriff werden gleichermaßen analytische Konzepte und empirische Praxiserfahrungen der Anwendung von Governance auf die Regionalpolitik gefasst. Nach Böcher konstituiert sich Regional Governance durch die vier Hauptaspekte

  1. regionale Selbststeuerung,
  2. intersektorale Kooperation durch regionale Patenschaften,
  3. Ablösung des Territorial- durch das Funktionalprinzip und
  4. hierarchische Anreizsteuerung durch verschiedene Instrumente.

Der Autor stellt heraus, inwieweit Regional Governance als Konzept geeignet ist, beobachtbare Veränderungen in der Regionalpolitik und Regionalentwicklung zu analysieren und gleichzeitig als normativ anzustrebende Praktiken der Regionalentwicklung beschrieben und weiterentwickelt werde. Diese Vermischung der Perspek­tiven auf (Regional) Governance, die in der Politikwissenschaft seit langem proble­matisiert wird, wendet der Autor positiv und skizziert in seinem Beitrag die Bezüge zu den Entwicklungsherausforderungen ländlicher Räume. Dabei legt er die Parallelen offen zu den Kernkriterien von Governance und den Förderprogrammatiken für ländliche Räume, nämlich Partizipation aller relevanter Akteure im (ländlichen) Raum, Aufbau von Dialog- und Entschei­dungsforen, sektorenübergreifende Kooperationen und die dauerhafte Einrichtung eines übergreifenden Regionalmanagements als Steuerungsinstrument. Der politische Rahmen, der über Programme wie die „Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz (GAK)“, LEADER oder Regional­wettbewerbe abgesteckt ist, wird anschließend unter der Frage diskutiert, welche Potenziale und Grenzen von Regional Governance für eine integrierte ländliche Entwicklung sich daraus ergeben.

Die nächsten drei Beiträge des Bandes diskutieren die Rolle des zivilgesellschaftlichen Engagements in ländlichen Räumen.

Diana Kietzmann, Marie Bischoff und Silke Schmidt vom Lehrstuhl für Gesundheit und Prävention fragen nach „Motivationalen Aspekten ehrenamtlichen Engagements im Zivil- und Katastrophenschutz in ländlichen Regionen“. Sie schildern die Ergebnisse des Verbundprojektes „Professionelle Integration von freiwilligen Helfern in Krisenmanagement und Katastrophenschutz (INKA)“ und legen den Schwerpunkt auf die Unterschiede zwischen ländlichen und urbanen Regionen. Im Rahmen der quantitativen Studie wurden sowohl die Gründe für die Aufnahme eines ehrenamtlichen Engagements im Zivil- und Katastrophenschutz erhoben als auch die Einstellungen ehrenamtlich Engagierter. Diese Aspekte werden im Beitrag unter Berücksichtigung der Größe der Stadt, in der die ehrenamtliche Tätigkeit geleistet wird, vergleichend dargestellt (S. 84f). Die Autorinnen stellen fest, dass insbesondere das nähere soziale Umfeld für die Aufnahme eines solchen Engagements verantwortlich sind, weniger die Öffentlichkeitsarbeit der entsprechenden Einrichtungen. Dieser Einfluss des sozialen Umfelds sei in ländlichen Räumen signifikant stärker als im urbanen Kontext. Eine soziale Beeinflussung und politische Verantwortung scheinen nach den Ergebnissen der INKA Studie vor allem in eher ländlichen Regionen (mit weniger als 5.000 Einwohnern) von Bedeutung zu sein als Motiv des Ehrenamts. Hinsichtlich der Zufriedenheit mit dem Ehrenamt und einer möglichen Beendigung der Tätigkeit konnten keine Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Kontexten festgestellt werden.

Der Dipl. Theologe des Instituts für Evangelisation und Gemeindeentwicklung der Universität Greifswald Martin Alex hat mit dem Beitrag „Peripher und engagiert: Kirchlich gebundenes Ehrenamt in peripheren, ländlichen Regionen“ die Ergebnisse einer Studie seines Instituts zur schwierigen Gewinnung von ehrenamtlichen MitarbeiterInnen in drei Gemeinden in Vorpommern aufbereitet. Vor dem Hintergrund der Peripherisierung der Region setzt die Studie bei zwei Ausgangsfragen an: Wie sieht kirchlich gebundenes Ehrenamt in diesen Gemeinden aus? und was fördert und was verhindert, dass sich Menschen im Rahmen der Kirche engagieren (S. 95). In einer zweistufigen Studie wurden zunächst quantitativ Kirchenmitglieder und dann die jeweiligen Pfarrer in qualitativen Interviews befragt. Anders als in Studien zum Ehrenamt üblich, wurde das Potenzial zur Übernahme von Ehrenämtern nicht nur von den Nicht-Engagierten, sondern auch von den bereits Engagierten erfragt, um so einen „weiteren Spielraum zur Übernahme von Verantwortung“ zu ermitteln (S. 100). Alex stellt fest, dass sich das kirchlich gebundene Engagement in ländlich peripheren Regionen in seiner Struktur nur in geringem Maße von anderen Regionen unterscheidet. Festzuhalten sei, dass kirchlich gebundenes Engagement im ländlichen Raum vor allem von Frauen ausgeübt wird und sich eher in aktiver Teilnahme als im Übernehmen von konkreten Aufgaben zeigt. Etwa jeder dritte befragte Nicht-Engagierte könnte sich ein Engagement vorstellen, wäre also durchaus zu aktivieren. Nach einer Skizzierung von das Engagement fördernden und hemmenden Faktoren, kommt der Autor zu dem Schluss, dass die Situation ehrenamtlichen Engagements in peripheren ländlichen Regionen „nicht so pessimistisch einzuschätzen“ sei (S. 113), wie von vielen Kirchenleitungen bzw. Pfarrern angenommen.

„LehrerInnenbildung im ländlichen Raum – Potenziale unserer regionalen Bildungslandschaft am Beispiel des UNIDorfes Ducherow sowie der Forschungswerkstatt Service Learning“ ist ein Beitrag der Erziehungswissenschaftlerin Anne Heller. Mit den dargestellten Methoden soll es gelingen, „Studierende an gesellschaftliches Engagement heranzuführen bzw. die Erfahrungen bereits Engagierter in der universitären Lehre nutzbar zu machen“ (S. 117). Die von Heller eingebrachten Methodiken zur Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung sind neben dem Service Learning, Community Based Research und Social Entrepreneurship Education, die im Kontext von Action Research im (Schul-)Bildungsbereich bereits seit langem etabliert sind. Im Sinne einer praxisorientierten Lehrerausbildung sollen Lehramtsstudierende forschendes Lernen theoriegeleitet in den Blick nehmen (S. 118) und so im Studium und ihrer Berufspraxis eine forschende Grundhaltung zum „aktuellen Praxis- bzw. zukünftigen Arbeitsfeld Schule“ (ebd.) einnehmen. Im Projekt UNIDorf Ducherow sollten regionale Akteure und Wissenschaft in einen Dialog gebracht werden und „Expertenwissen zu Regionalentwicklung mit erziehungswissenschaftlich-pädagogischer Expertise“ gekoppelt werden (S. 120). Der Beitrag beschreibt den modularen Aufbau des Projektes. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt die Forschungswerkstatt „Service Learning – von der Uni in Schule und Gemeinwesen und zurück“. Hier sollen selbstorganisiert „theoretisch erworbenes Wissen und praktisches Anwenden“ (S. 122) miteinander verbunden werden.

Der „Beitrag der Landwirtschaft zur Sicherung der Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen“ ist das Thema der Geographen Wolfgang Weiß und Jochen Corthier. Ausgehend von den Problemlagen peripherer ländlicher Räume wird die Landwirtschaft als „ein letzter Akteur im ostdeutschen ländlich-peripheren Raum“ beschrieben (S. 129). Am Beispiel der Struktur der Landwirtschaft der Altmark wurden zwei Befragungen mit Leitern landwirtschaftlicher Betriebe durchgeführt, um neben demographischen und sozio-strukturellen Strukturen auch Fragen zur Zukunft der Landwirtschaft und zur Übernahme von Aufgaben der Daseinsvorsorge beantworten zu können. Nachdem die alten LPGs ihre auf das Gemeinwesen bezogenen sozialen, kulturellen und infrastrukturellen Aufgaben nach der Wende weitgehend aufgegeben hatten, wird deutlich, dass die Landwirtschaft vielerorts (wieder) Aufgaben der technischen, sozialen und kulturellen Daseinsvorsorge übernommen hat. „Einerseits soll die Funktionalität des Betriebes erhalten werden. Andererseits sei aber auch das ‚Leben‘ im ländlichen Raum aus eigenem Interesse zu fördern und zu erhalten“ (S. 140). Neben Straßenräumdiensten, Transportleistungen, Sicherheits- und Katastrophendiensten, stellen landwirtschaftliche Betriebe in der untersuchten Region auch Freizeiteinrichtungen zur Verfügung, oder Räume für die Gemeinde/Krankenschwester. Vereinzelt werden auch soziale Infrastrukturen wie Kindergärten bzw. -tagesstätten bereitgestellt – zum Teil auch das entsprechende Personal. Insofern geben die Forschungsergebnisse, die in diesem Beitrag vorgestellt werden, „Aufschluss darüber, dass bereits viele kommunale Aufgaben von Akteuren aus der Landwirtschaft getragen werden“ (S. 143). Problematisch ist dies insofern, als „großer Nachholbedarf […] in der juristischen bzw. vertraglichen Klärung dieser Leistungserbringung durch die privatwirtschaftlichen Betriebe“ bestehe (ebd.). Als grundsätzliche Hindernisse bei der Übernahme von Aufgaben der Daseinsvorsorge sehen die Autoren die Möglichkeit der Übertragung von Aufgaben von der Kommune, bei der sichergestellt werden müsse, dass die Verantwortung für die Erfüllung der Aufgaben weiterhin bei der Kommune bleibe; fehlende soziale und wirtschaftliche Bindung zur Region; Haftungs- und Versicherungsschutz bei der Verrichtung von Daseinsvorsorgeaufgaben und die steuerliche Begrenzung landwirtschaftlichen Engagements.

Mit „Einkaufsgewohnheiten und Versorgungszufriedenheit im ländlichen Raum“ befasst sich der Betriebswirt Hans Pechtl. Er bezieht sich auf eine nicht repräsentative Studie mit Menschen, die im ländlichen Raum leben und in ihrem Haushalt „für den Einkauf zuständig“ sind. Der Autor geht von der Arbeitshypothese aus, dass sich ‚Stadt‘ und ‚Land‘ in den Beschaffungsmodalitäten zwar unterscheiden, die Zufriedenheit mit den präferierten Einkaufsstätten jedoch keine nennenswerten Unterschiede aufweise (S. 151). Dabei biete das sog. Confirmation-/Dis­confirmation-Paradigma einen Erklärungsansatz, „wonach Zufriedenheit mit einem Sachverhalt aus der Differenz von Erwartung bezogen auf den Sachverhalt und dem tatsächlichen Sachverhalt resultiert“ (ebd.). Der Beitrag skizziert die Unterschiede bezogen auf die Erreichbarkeit der Einkaufsstätten, die Entfernung, die Häufigkeit der Einkäufe, die Kosten und die selbsteingeschätzte Zufriedenheit für die Raumkategorien Großstadt, mittelgroße Stadt, Insel Usedom, Binnenland und „Pommern-Prärie“. Die Ergebnisse der Studie zeigen, „dass nicht der Umstand eines Wohnortes im ländlichen Raum spezifische Beschaffungsmodalitäten bewirkt, sondern lediglich die Wegstrecke“ (S. 160). Auffällig sei, dass sog. Kooperationsmodelle des gemeinsamen Einkaufs eher in der Großstadt als im ländlichen Raum verwirklicht werden und die Preise für Lebensmittel in den peripheren Untersuchungsorten höher sind als in den Städten oder der Touristeninsel Usedom. Da die Befragten durchaus zufrieden sind mit den Möglichkeiten, sich mit Lebensmitteln zu versorgen, kommt der Autor zu dem Schluss, dass der ländliche Raum aus der Sicht der BewohnerInnen keine „Einkaufswüste“ sei.

„Lokale Produktion auf dem Land durch das Neue Dorf im Gartenring“ ist ein Beitrag von Ralf Otterpohl von der TU Hamburg-Harburg, der das Konzept der „neuen Dörfer“ als Methode der synergetischen ländlichen Entwicklung beschreibt. Im Konzept eines Gartenringes um eine Stadt, bestehend aus einer Reihe von Siedlungen/Dörfern mit bis zu 300 Einwohnern wird in Mikrofarmen deren und die Versorgung der StadtbewohnerInnen gesichert. Für die jeweilige Stadt könne diese Methode Teil einer Resilienzstrategie im Rahmen der Stadtentwicklung werden, so der Autor. Hergeleitet von den Problemen einer übermäßigen Urbanisierung wird zunächst die historische Entwicklung von Ansätzen zu ländlichen Kleinsiedlungen mit Gartenbaubetrieben zur Versorgung der städtischen Zentren dargestellt. Das Konzept der Neuen Dörfer wird als Alternative für Wohlstand und Wertschöpfung im ländlichen Umfeld (von Städten) eingeführt, über die Idee der Gestaltung von Mikrofarmen konkretisiert und im Weiteren die Wertschöpfung in synergetischen Dorfstrukturen ausgeführt. Dabei wählt der Autor mit (aus seiner Sicht unvollständigen) Listen von Möglichkeiten der gewerblichen Wertschöpfung sowie der Wertschöpfungsmöglichkeiten mit Dienstlistungen im ländlichen Raum eine Darstellungsform, die einer Handlungsempfehlung nahe kommt. Entsprechend endet dieser Beitrag mit der Aufforderung zur Vernetzung und dem Verweis auf handlungserleichternde Materialien, die als Open Source bereitgehalten werden.

Im Beitrag „Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum“ stellt Nina Oelkers, Professorin für Soziale Arbeit in Vechta die ersten Ergebnisse des gleichnamigen Verbundprojektes vor. Ausgangspunkt des Projektes sind die weitreichenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse der Individualisierung, der Globalisierung und der gesellschaftlichen Differenzierung, die mit einem veränderten Umgang mit Kriminalität, Sicherheit und sozialer Kontrolle einhergingen. Das Projekt untersucht, wie die in diesem Zusammenhang meist in Großstädten untersuchten Prozesse auch in ländlichen bzw. kleinstädtischen Räumen zu beobachten sind. Ein zentrales Merkmal des Wandels sei die Umverteilung von Verantwortung für Sicherheit zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren. Daraus ergibt sich für das Projekt der Ansatz, diese Prozesse als Verschiebung und Neuverhandlung von Sicherheitsmentalitäten zu verstehen und zu untersuchen. Das Projekt arbeitet mit verschiedenen Erhebungsmethoden, deren Ergebnisse kontinuierlich zusammengeführt und validiert werden. Im Ergebnis erwiesen sich Stadt-Land-Differenzierungen als tradierte und wirkungsmächtige kulturelle Deutungsstrukturen, die als Teil „eines alltäglichen ‚Doing Rurality‘ gefasst werden“ (S. 191) können. Die Projektergebnisse ermöglichen eine Ergänzung und Erweiterung bestehender für Großstädte entwickelte Typiken von Sicherheitsmentalitäten. So steht „eine hohe soziale informelle Sozialkontrolle [.] in den Untersuchungsregionen unterdurchschnittlich stark ausgeprägten Schutzmaßnahmen gegenüber“ (S. 192). Das Sicherheitsempfinden werde „überlagert von kriminalitätsfremden, generalisierten Ängsten, Raumsemantiken und Vulnerabilitätsthesen, die sich häufig mit Blick auf den Geschlechterdiskurs interpretieren lassen“ (ebd.). Ziel der Untersuchung ist es, aus den rekonstruierten sicherheitsmentalen Elementen, Hinweise für künftige sicherheitsbezogene Herausforderungen und Lösungsansätze abzuleiten.

Ebenfalls mit dem Thema Sicherheit befasst sich der Beitrag „Sicherheit in peripheren ländlichen Räumen: Zwischen sozialer Kohäsion und Desintegration – eine Forschungsskizze“ der Kriminologen Bernd Gang und Frieder Dünkel. Sie skizzieren kurz Sicherheit als Gegenstand der Kriminologie und diskutieren, inwieweit die Peripherisierung ländlicher Räume selbst ein Sicherheitsrisiko darstelle. Ihre zentrale Hypothese sieht eine zunehmende Angleichung der Lebensstile und den damit verbundenen Erwartungen bei gleichzeitiger Differenzierung verschiedener Lebensentwürfe und wachsenden Mobilitätsanforderungen der Menschen in den ländlichen Regionen als Phänomene, die den Peripherisierungsdruck aufgrund der ökonomischen Strukturschwäche und der mangelnden technischen und sozialen Infrastrukturen noch erhöhen würden (S. 203). Am Beispiel des Landkreises Vorpommern-Greifswald zeigen die Autoren anhand der drei Indikatoren „klassische“ Kriminalität (Hellfeld), „klassische“ Kriminalität (Dunkelfeld) und Fremdenfeindlichkeit/ Rechtsextremismus – „politisch motivierte Kriminalität“ mögliche Tendenzen der gesellschaftlichen Desintegration auf. In ihrer Forschungsskizze plädieren die Autoren für eine Mehrebenenanalyse, die auf der Makro-Ebene (kontextuelle Strukturen und Bedingungen von regionalen Disparitäten und Peripherisierung), der Meso-Ebene (Beziehungen zwischen Gruppen) und der Mikro-Ebene (individuelle Bedürfnislagen und Präferenzen, Werthaltungen) anzulegen sei.

Der den Band abschließende Beitrag „Der ländliche Raum: Perspektiven und Beitrag der Greifswalder Forschung“ von Frieder Dünkel, Bernd Geng und Kristof Lintz ist eine Einladung an Forscherinnen und Forscher der unterschiedlichsten Disziplinen, sich verstärkt auf den Forschungsgegenstand ländliche Räume einzulassen und sowohl mit eigenen Forschungsvorhaben als auch in der begleitenden, evaluierenden und politikberatenden Forschung, die Prozesse in den sehr unterschiedlichen ländlichen Räumen ein stückweit mitzugestalten. Der Ausblick auf die weitere Arbeit des interdisziplinären Konsortiums deutet auch und gerade interdisziplinär angelegte Forschungsvorhaben an.

Diskussion

Die zwölf Beiträge aus beinahe ebenso vielen Fachdisziplinen bieten einen sehr breiten Einblick in das Spektrum der gesellschaftlichen Herausforderungen, die es in ländlichen Räumen jetzt und künftig zu bewerkstelligen gibt. Gleichzeitig bleibt das Gefühl zurück, dass selbst diese Vielfalt noch nicht ausreichen dürfte, um alle relevanten Fragen zu bearbeiten oder gar zu beantworten. Dies mag daran liegen, dass die verschiedenen Disziplinen meist traditionell auf unterschiedlichen Ebenen der Analyse unterwegs sind und so bei manchen Fragestellungen die Strukturen, in denen Probleme entstehen oder bearbeitet werden (Makroebene), nicht gleichzeitig die Mikroebene der Individuen mit ihren sozialen Verflechtungen, Haltungen oder Biographien in den Blick nehmen (können). Insofern ist der letzte kurze Beitrag zur Forschungsperspektive besonders wichtig, denn hier löst sich das gewisse Unbehagen fehlender Interdisziplinarität auf und eröffnet gegenstandbezogen Optionen quer zu den disziplinären Forschungstraditionen.

Aber bereits innerhalb der in diesem Band zur Diskussion gestellten Forschungen zeichnen sich Konturen des mehr trans- als interdisziplinären Forschens ab, die in der nunmehr fünfjährigen Zusammenarbeit des ThinkRural! Konsortiums sicherlich möglich sind oder wären. Dass sich das Konsortium für die Zukunft gerade den diffizilen Gegenstand der Daseinsvorsorge als gemeinsamen Fokus vorgenommen hat, verspricht spannende Erkenntnisse. Gerade den Begriff des Gemeinwesens als bekannt und allgemein verständlich vorauszusetzen, wäre ebenfalls in künftiger Forschung zu hinterfragen und selbst ein lohnenswerter Forschungsgegenstand.

Fazit

Der Band regt zweifellos zu einer inter- (oder eben trans-)disziplinären Erforschung der Herausforderungen ländlicher Räume an und gibt zudem durch die einzelnen Beiträge Anregungen zur Übertragbarkeit regional ermittelter Befunde auf anders strukturierte ländliche Räume in Ost und West sowie in einer transnationalen Perspektive.

Rezension von
Prof. Dr. habil. Monika Alisch
Hochschule Fulda, Fachbereich Sozialwesen, Hessisches Promotionszentrum Soziale Arbeit, Sprecherin des CeSSt – Wissenschaftliches Zentrum Gesellschaft und Nachhaltigkeit.
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ISSN 2190-9245