Yasemin Niephaus, Michaela Kreyenfeld et al. (Hrsg.): Handbuch Bevölkerungssoziologie
Rezensiert von Dr. rer. pol. Hansjörg Bucher, 21.04.2017

Yasemin Niephaus, Michaela Kreyenfeld, Reinhold Sackmann (Hrsg.): Handbuch Bevölkerungssoziologie. Springer VS (Wiesbaden) 2016. 737 Seiten. ISBN 978-3-658-01409-4. 69,99 EUR.
Thema
In diesem Band präsentieren die drei Herausgeber einen breiten und einführenden Überblick über aktuelle Themen der Bevölkerungssoziologie. Über vierzig Autoren, die alle an der Schnittstelle von Demographie und Soziologie tätig sind, haben für das Handbuch Überblicksartikel ihrer jeweiligen Forschungsgebiete verfasst und damit eine Bestandsaufnahme aktueller bevölkerungssoziologischer Fragestellungen geleistet.
Das Handbuch Bevölkerungssoziologie richtet sich an ein breites Publikum wie Forschende und Lehrende der Bevölkerungswissenschaft, Studierende der Demographie, der Soziologie, der Politikwissenschaften, alle politisch Verantwortlichen, letztlich auch die an Gesellschaftspolitik interessierte Öffentlichkeit.
Entstehungshintergrund
Die Demographie ist ein notorisch theoriearmes Fachgebiet, das eher von der Empirie lebt. Eine wesentliche Ursache hierfür ist der Aggregatcharakter der Bevölkerung. Auf der Makroebene lassen sich schwer Erklärungen und Theorien finden für das demographisch relevante Verhalten der Individuen. Hier bekommt das Forschungsgebiet der Soziologie eine Chance, indem es die Makroebene verlässt und auf der Mikroebene des Individuums nach Kausalbezügen fragt. Indes entstehen hierbei Probleme, wenn von Teilen auf das Ganze geschlossen werden soll.
Aufbau
Der Band umfasst fünf große Abschnitte. Drei davon beziehen sich auf die beiden Komponenten der Bevölkerungsdynamik, die natürlichen und die räumlichen Bewegungen. Für die natürlichen Bewegungen sind zwei eigene Kapitel jeweils den Geburten und den Sterbefällen vorbehalten. Das einführende Kapitel gibt zunächst einen breiten Überblick über den betrachteten Gegenstand Bevölkerung, und zwar dessen besondere Eigenschaften wie auch die methodische Herangehensweise an dessen wissenschaftliche Durchdringung. Das abschließende Kapitel ‚Der demographische Wandel als gesellschaftliche Herausforderung‘ befasst sich mit Strategien zur Vermeidung wie auch zur Bewältigung des demographischen Wandels in verschiedenen Politikbereichen.
Zu 1 Überblick
Kapitel 1 umfasst sieben Beiträge. Sie befassen sich mit dem Was, dem Wo und dem Wie der Bevölkerungssoziologie.
Was: Basisinformationen über die Bevölkerung, über demographische Prozesse, über den inneren Aufbau und über die Dynamik der Bevölkerung in Deutschland gibt der Beitrag ‚Demographische Prozesse, Bevölkerungsstruktur und -entwicklung in Deutschland‘ von Olga Pötzsch, einer Mitarbeiterin des Statistischen Bundesamtes.
Wo: Bevölkerung ist immer definiert als die Zahl der Individuen, die innerhalb eines abgegrenzten Gebietes leben. Die räumliche Dimension ist insofern wesentlicher Bestandteil der Bevölkerung, was indes öfter vernachlässigt wird. Der Beitrag ‚Demographie und räumlicher Kontext‘ von Sebastian Klüsener, stellt Raumkonzepte, aber auch regionalstatistische Probleme der Demographie dar.
Wie: Fünf Beiträge befassen sich mit Methoden der Bevölkerungssoziologie. Drei davon sind allgemeiner gehalten und behandeln die historische Entwicklung der Demographie als Forschungsfeld ‚Gegenstandsbereich der Bevölkerungssoziologie‘ (Michaela Kreyenfeld, Yasemin Niephaus, Reinhold Sackmann), die Entwicklung formaler Theorien in der Bevölkerungswissenschaft (Daniel Courgeau), die Vielfalt demographischer Kennziffern zur analytischen Durchdringung des Forschungsgegenstandes ‚Demographische Kennziffern und Methoden‘ (Marc Luy). Die beiden verbliebenen Beiträge konzentrieren sich auf Bereiche der natürlichen und der räumlichen Dynamik der Bevölkerung. Dabei geht es um handlungstheoretische Ansätze zur Erklärung von Fertilität und Familienbildung (Bernhard Nauck) wie schließlich um makrosoziologische Ansätze zur Erklärung von Migration (Dirk Hörder). In letzterem stehen vor allem internationale Wanderungen und transkulturelle Effekte im Fokus.
Zu 2 Fertilität, Familie und Lebensformen
Kapitel 2 betrifft ein klassisches, daher bereits sehr intensiv bearbeitetes Forschungsfeld der Bevölkerungssoziologen und hat in diesem Band auch den stärksten Umfang mit insgesamt zehn Beiträgen.
Ein einleitender Beitrag ‚Fertilität und Familienformen in Europa: Eine historische Perspektive‘ (Georg Fertig, Mikolaj Szoltysek) fasst Entwicklungen in der neueren historisch-ökonomischen und historisch-anthropologischen Familiendemographie zusammen. Die wichtigsten Forschungsparadigmen zur Familie werden beschrieben, historische Ergebnisse zu Paarbildung, Fertilität und Haushalt vorgestellt. Die Autoren stellen ein Nebeneinander von Familienforschung bei den Historikern und bei den Soziologen fest, das jeweils durch blinde Flecken für die Arbeiten des anderen Fachgebietes beeinträchtigt wird.
Das Gros der Beiträge befasst sich mit Phasen der Partnerschaft und mit Familienformen:
‚Der Auszug aus dem Elternhaus‘ (Dirk Konietzka, Andre Tatjes) als zentraler Schritt auf dem Weg in eine sozial und ökonomisch eigenständige Lebensführung. Methodisch steht dabei der LebenslaufAnsatz im Vordergrund.
‚Der Partnermarkt und seine bevölkerungssoziologische Relevanz‘ (Thomas Klein, Johannes Stauder) für Aktivitäten der Partnersuche ist demographisch deshalb bedeutsam, weil der Partnermarkt nicht nur die Partnerwahl, sondern auch die Beziehungsstabilität, die Fertilität, die Ausgestaltung der Beziehung und weitere gesellschaftliche Prozesse beeinflusst.
‚Eheschließungen und Scheidungstrends in der Bevölkerungssoziologie‘ (Henriette Engelhardt, Jan Skopek) bietet einen Überblick zu soziologisch-demographischen Zugängen von Heirat und Scheidung als elementare familiale Prozesse. Während sich der klassisch demographische Blickwinkel vornehmlich die Erfassung und Quantifizierung von entsprechenden Kenngrößen in der Bevölkerung erfasst, stellt die Soziologie vor allem auf die soziale Strukturiertheit von Heirat und Scheidung ab.
‚Kinderwunsch und Geburtenentwicklung in der Bevölkerungssoziologie‘ (Johannes Huinink) behandelt zentrale Themen der Bevölkerungssoziologie. Mit dem LebenslaufModell wird ein theoretischer Erklärungsversuch vorgestellt, welche individuellen Motive potenzieller Eltern für die Entscheidung zugunsten des ‚ob‘ und ‚wann‘ der Geburt von Kindern führen. Die Bedingungen, unter denen Kinderwünsche realisiert oder aufgeschoben oder verworfen werden, geben Hinweise darauf, warum in Deutschland eine große Diskrepanz zwischen der gewünschten und der letztendlich realisierten Familiengröße besteht.
Mit der deutschen Einigung wurde das Rechtssystem der alten Länder auch in den neuen Ländern eingeführt. Dies führte zu massiven Anpassungsprozessen in der Familienbildung. Die Pluralisierung der Lebens- und Familienformen zeigt der Beitrag ‚Private Lebensformen in Ost- und Westdeutschland‘ (Michaela Kreyenfeld, Dirk Konietzka, Valerie Heintz-Martin). Vorgestellt werden theoretische Konzepte und gängige Klassifikationen, Stärken und Schwächen der amtlichen Statistik, analytische Eigenschaften von Studien zu Lebensformen.
Unter der Vielzahl der Lebensformen werden zwei besonders angesprochen: Patchwork-Familien und Regenbogenfamilien. Sie sind inhaltlich untererforscht und statistisch weit weniger umfassend beschreibbar als die Kernfamilie:
‚Gleichgeschlechtliche Partnerschaften: Soziodemographie und Lebenspläne‘ (Marina Rupp, Christian Haag) befasst sich mit der Lebenssituation von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften ohne und mit Kindern. Ausgewertet werden Mikrozensen und Befragungen. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Bedeutung von Kindern und Kinderwünschen bei gleichgeschlechtlichen Paaren.
‚Fortsetzungsfamilien in Deutschland: Theoretische Überlegungen und empirische Befunde‘ (Michael Feldhaus) betrachtet Familien, bei denen mindestens ein Kind aus einer vorhergehenden Partnerschaft stammt. Auf der Basis des ‚Familienpanels‘ werden Familienverläufe skizziert und Anregungen für weitere Forschungen gegeben.
Der wechselseitige Einfluss zwischen familialen Generationenbeziehungen und den demographischen Kernprozessen Fertilität/Nuptialität, Mortalität und Migration wird im Beitrag ‚Familiale Generationenbeziehungen aus bevölkerungssoziologischer Perspektive‘ (Anja Steinbach, Karsten Hank) angesprochen. Generationsübergreifende soziale Netzwerke und das darin ruhende Solidaritätspotenzial können Auslöser wie auch Ergebnis demographischer Ereignisse sein. Darüber hinaus werden Auswirkungen auf die Gesundheit und die soziale Ungleichheit wie schließlich die Ausgestaltung der Daseinsfürsorge angesprochen.
Das Handbuch befasst sich mit der Fertilität, jedoch nicht mit der Sexualität und der ‚MenschenProduktion‘ (Gunnar Heinsohn, Rolf Knieper, Otto Steiger: Menschenproduktion: allgemeine Bevölkerungstheorie der Neuzeit, Suhrkamp 1979). Indirekt wird dieses Thema im letzten Beitrag dieses Kapitels angesprochen für den Fall, dass die Zeugung nicht auf die natürliche Weise stattfinden kann: ‚Reproduktionsmedizin: Rechtliche Rahmenbedingungen, gesellschaftliche Relevanz und ethische Implikationen‘ (Heike Trappe). Aus dem Menschenrecht auf Fortpflanzung und einer biologisch bedingten Fertilitätseinschränkung werden Aktivitäten der Reproduktionsmedizin abgeleitet, deren Methoden, juristische, ökonomische und ethische Dimension angesprochen.. Plädiert wird für eine gesellschaftliche Debatte der realistischen Einschätzung der Möglichkeiten und Folgen der Reproduktionsmedizin.
Zu 3 Migration und Mobilität
Kapitel 3 befasst sich mit den räumlichen Bewegungen der Bevölkerung. In insgesamt fünf Beiträgen wird der Wechsel des Wohnstandortes zum Thema gemacht. Und weil hier Soziologen ihr Forschungsgebiet beschreiben, ist auch von Sozialräumen die Rede. Soziologen denken groß, deshalb ist vorwiegend von internationalen Wanderungen die Rede, möglichst auch noch von solchen, bei denen kulturelle Grenzen überschritten werden und Integration als Aufgabe anfällt.
Und auch der ins Auge gefasste Zeithorizont kann durchaus als Langfristperspektive durch gehen: Der historische Abriss im ersten Beitrag, ‚Migrationsentwicklung aus historischer Perspektive‘ (Dirk Hoerder) beginnt vor 200.000 Jahren mit der Besiedelung der Welt. Neben Phasen verschiedener Wanderungskategorien/Migrationssysteme der Menschen werden auch von ihnen mitgeschleppte Krankheiten und mitgebrachte Nahrungsmittel und Haustiere als Austausch systematisiert.
Im Zuge der allgemeinen Globalisierungsdiskussion kam es zu einer Transnationalisierungsforschung, bei der staatsgrenzenüberschreitende Sozialzusammenhänge im Mittelpunkt stehen, bei der die Bindung an den Raum von großer Bedeutung ist, bei der alltagsweltliche Lebenszusammenhänge auf einer mikrosoziologischen Ebene behandelt werden. Der Beitrag ‚Transnationale Räume und Migration in der Bevölkerungssoziologie‘ (Ludger Pries) stellt das Konzept transnationaler Sozialräume vor und zeigt deren wechselseitige Beeinflussung mit der Migration.
Einen Überblick über die jüngeren Dynamiken im Wanderungs- und Integrationsgeschehen in Deutschland liefert der Beitrag ‚Migration und Integration in der Bevölkerungssoziologie‘ (Claudia Diehl), wichtige begriffliche und theoretische Konzepte werden diskutiert, zentrale empirische Forschungsergebnisse werden vorgestellt.
Diesseits der internationalen Mobilität gibt es die verschiedensten Ausprägungen von Binnenwanderungen. Die Definition, neuere Entwicklungen und Forschungsfelder solcher räumlicher Mobilität behandelt der Beitrag ‚Regionale Mobilität in der Bevölkerungssoziologie‘ (Stefanie Kley).
Wesentliche Impulse für die gegenwärtige Mobilitätsdynamik gehen auch vom Wandel der Familie und der Geschlechterrollen aus. Der Beitrag ‚Mobilität und mobile Lebensformen‘ (Norbert F. Schneider, Heiko Rüger, Silvia Ruppenthal) fragt nach den Zusammenhängen von Mobilität, Lebensform und Familienentwicklung. Es zeigt sich, dass die Pendelmobilität deutlich weiter verbreitet ist als die Umzugsmobilität.
Zu 4 Mortalität, Morbidität und Pflege
Kapitel 4 kehrt wieder zurück zu den natürlichen Bevölkerungsbewegungen. Insgesamt vier Beiträge befassen sich mit der Mortalität und der Lebenserwartung, schlagen aber auch Bögen zur Sozialstruktur, zur Gesundheit und zum Altern.
Der Beitrag ‚Mortalitätsentwicklung und Gesundheitsbewegungen in Europa: Eine historische Perspektive‘ (Eva-Maria Fach, Frank Rosenbach, Matthias Richter) skizziert die historische Entwicklung der Mortalität und der Morbidität in Deutschland und in Europa; er diskutiert die Determinanten, die auf diese Entwicklung eingewirkt haben. Der Wandel der Todesursachen führte zu einem epidemiologischen Übergang. Die Determinanten des Sterblichkeitsrückgangs werden breit diskutiert.
Man findet einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem sozialen Status von Personen und dem Mortalitätsrisiko, auch als ‚differentielle Sterblichkeit‘ bezeichnet. Klassische Indikatoren, um die soziale Positionierung von Personen in einer Gesellschaft abzubilden, sind der Bildungsabschluss, die berufliche Stellung, der Erwerbsstatus, das Einkommen und die Rentenhöhe. Gerade die Rentenhöhe ist ein ‚kumulatives sozioökonomisches Maß‘ einer Person, welches die Gesundheit und damit das Mortalitätsrisiko bestimmt. Der Beitrag ‚Sozialstruktur und Lebenserwartung‘ (Rembrandt D. Scholz) zeigt, dass der soziale Status das Ernährungs- und das allgemeine ‚Gesundheitsverhalten‘ beeinflusst. Die Grundlagen für ein langes Leben werden in Kindheit und Jugend gelegt und verfestigen sich während des gesamten Lebens durch die Wechselwirkungen zwischen der sozialen Positionierung und dem Gesundheitszustand.
Die steigende Lebenserwartung wird um eine qualitative Komponente erweitert, die ‚Lebenserwartung in Gesundheit: Konzepte und Befunde‘ (Rainer Unger). Die Relation zwischen gesunden und kranken Lebensjahren wird abgebildet mit der Mehrzustands-Sterbetafel, ihre jeweiligen methodischen Vor- und Nachteile werden diskutiert. Ein empirischer Abschnitt skizziert Trends in der gesunden Lebenserwartung, schichtspezifische Unterschiede wie auch internationale Vergleiche. Ein abschließender Ausblick benennt weiteren Forschungsbedarf.
Mit der steigenden Lebenserwartung und der zunehmenden Kinderlosigkeit sind Veränderungen im Generationengefüge entstanden, die das Alter zu einem komplexeren Phänomen gemacht haben. Der Beitrag ‚Altern und Generationen bei hoher Lebenserwartung‘ (François Höpflinger) präsentiert verschiedene Konzepte der Messung von demographischer Alterung. Er zeigt die Relationen zwischen den Generationen, entwirft Phasenmodelle des Alterns und intergenerationelle Pflegekonstellationen. Zum Abschluss werden gesellschaftliche Folgen hoher Lebenserwartung angesprochen.
Zu 5 Der demographische Wandel als gesellschaftliche Herausforderung
Kapitel 5 umfasst fünf Beiträge, in denen die wesentlichen Dimensionen dieses Wandels – die Alterung, die Schrumpfung, die Pluralisierung und die siedlungsstrukturelle Veränderung – angesprochen werden. Diese Herausforderungen werden von politischer Seite unterschiedlich intensiv und mit verschiedensten Strategien angegangen. Vorherrschend sind Anpassungs- und Bewältigungsstrategien zur Absicherung künftiger partieller Entwicklungen.
Dagegen handelt es sich bei familienpolitischen Maßnahmen um eine Vermeidungs- oder zumindest eine Verzögerungsstrategie, deren Wirkung auf die Höhe der Fertilität indes umstritten ist. Der Beitrag ‚Wirkungen von Familienpolitik auf die Geburtenentwicklung‘ (Martin Bujard) gibt einen Überblick über Studien zur Wirksamkeit familienpolitischer Leistungen, differenziert nach monetären Transfers, Betreuungsinfrastruktur, Zeitpolitik und Gleichstellung ebenso wie familienrelevante Aspekte des Arbeitsmarkts. Zusammenhänge werden belegt, doch unter engen Rahmenbedingungen (Maßnahmenmix, Langfristigkeit, bestimmte kulturelle und ökonomische Rahmenbedingungen).
Die frühesten politischen Diskussionen des demographischen Wandels betrafen das Rentensystem und dessen langfristige Funktionsfähigkeit. Der Beitrag ‚Altern und Alterssicherung in Deutschland‘ (Anika Rasner) beschreibt die Folgen des demographischen Wandels für das Alterssicherungssystem, benennt die Reformaktivitäten der vergangenen fünfundzwanzig Jahre, die die langfristige Finanzierbarkeit des Alterssicherungssystems zum Ziel hatten. Abschließend wird der aktuelle Forschungsstand gezeigt zu den Fragen, ob die beschlossenen Reformen ein wachsendes Altersarmutsrisiko nach sich ziehen, ob ein generationengerechtes Alterssicherungssystem aufrechterhalten und ob eine Akzeptanz für das System bei der jüngeren Generation sichergestellt werden kann.
Zweite zentrale Determinante der demographischen Alterung ist die Abnahme der Zahl junger Menschen. Im Beitrag ‚Folgen des demographischen Wandels für das Bildungssystem‘ (Walter Bartl) werden anhand internationaler Forschungsbefunde sowie Daten zum deutschen Bildungswesen Umgangsweisen mit demographischen Veränderungen im Bildungssystem gezeigt. Anpassungen der Bildungsinfrastruktur an die sinkende Nachfrage sind – auch aufgrund bildungspolitischer Leitideen – nur eingeschränkt möglich und verursachen einen Kostendruck. Aus einer stärkeren Integration des (deutschen) Schulwesens erwachsen neue Chancen im Umgang mit Heterogenität aber auch für die dezentrale Infrastrukturversorgung ländlicher Räume.
Der demographische Wandel zeigt eine große räumliche Vielfalt, wobei sich Alterung und Pluralisierung nur in ihrer regionalen Intensität unterscheiden, die Bevölkerungsdynamik hingegen sogar ein Nebeneinander von Wachstums- und Schrumpfungsräumen aufweist. Der Beitrag ‚Demographischer Wandel und ausdünnende ländliche Räume‘ (Claudia Neu) zeigt für eine siedlungsstrukturelle Kategorie, die zudem noch vom Transformationsprozess der deutschen Einigung betroffen ist, das Dilemma zwischen Erreichbarkeit und Tragfähigkeit von Infrastruktur, die Zielkonkurrenz zwischen dem raumordnerischen Postulat der Schaffung und Erhaltung gleichwertiger Lebensbedingungen einerseits und dem haushaltspolitischen Ziel einer schwarzen Null andererseits. Es wird erwartet, dass neben der sozialen Ungleichheit auch die räumliche Ungleichheit zunimmt und dass das regionale Disparitätengefälle zu verstärkten Verteilungskonflikten führen wird.
Der letzte Beitrag von Kapitel 5 leistet den Versuch einer Zusammenfassung des gesamten Handbuches. ‚Demographischer Wandel und Sozialstruktur‘ (Yasemin Niephaus) benennt die Komponenten des demographischen Wandels, spricht Felder/Aktionsbereiche an, in denen Handlungen stattfinden, die demographisch relevant sind. Die Autorin versagt sich indes – wohlbegründet und zitatgestützt – eine Definition dessen, was man als Sozialstruktur verstehen darf.
Diskussion und Fazit
Zahlreiche Autoren, die mit Demographie und Soziologie zu tun haben, verfassten für das Handbuch Überblicksartikel ihrer jeweiligen Forschungsgebiete und leisteten damit eine Bestandsaufnahme aktueller bevölkerungssoziologischer Fragestellungen. Das Handbuch stellt eine Fundgrube für den Leser dar. Dies gilt für seine theoretischen, seine konzeptionellen, seine methodischen Elemente. Dies gilt auch für den empirischen Teil, in dem zahlreiche Befunde zur demographischen Entwicklung in den Regionen Deutschlands bis hin zur großen weiten Welt vorgelegt werden.
Das Handbuch ist tatsächlich streng soziologisch verfasst. Das war so konzipiert, hinterlässt gleichwohl an einigen Stellen den Eindruck eines Defizits. Die Demographie ist ein interdisziplinäres Fach und neben Soziologen befassen sich auch Ökonomen, Politologen, Historiker, Mediziner, Geographen, Anthropologen et al mit diesem Fachgebiet. Manche der Beiträge in diesem Band hatten eine gewisse Nähe zu demographischen Teilbereichen, die auch in anderen Fachgebieten bearbeitet werden. Hier hätte man sich den Mut zu einer stärker interdisziplinären Ausrichtung wünschen können – der Blick über den Zaun ist manchmal hilfreich und befruchtend. Georg Fertig und Mikolaj Szoltysek nennen diese Konzentration auf das eigene Fachgebiet in ihrem Beitrag ein ‚strukturelles Loch‘. Solche blinde Flecken können den Wert des Handbuchs aber kaum schmälern. Ich möchte jedoch ausdrücklich darauf hinweisen, dass der Leser jenseits der Soziologie noch viel lesenswertes Material zum Bereich Demographie finden kann, das zu einer wesentlichen Ergänzung seines Sachwissens führt. Bei über vierzig Autoren ist der Band zwangsläufig heterogen. Viele Beiträge sind ausgereift und lassen sich mit großem Vergnügen lesen. Nur einige wenige erschließen sich dem Leser, zumal dem Nicht-Soziologen, nicht unmittelbar.
Rezension von
Dr. rer. pol. Hansjörg Bucher
Jg. 1946, Diplom-Volkswirt (Universität Mannheim), Dr. rer. pol. (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) war bis 2011 mehr als dreißig Jahre lang in der Politikberatung tätig als Mitarbeiter des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) bzw. dessen Vorgängerinstitutionen BfLR und BBR in Bonn-Bad Godesberg. Er war dort verantwortlich für den Aufbau des Prognosesystems ‚Raumordnungsprognose‘ zur Einschätzung von Eckwerten der künftigen räumlichen Entwicklung – als prospektiver Teil des räumlichen Beobachtungssystems ‚Laufende Raumbeobachtung‘. Seine inhaltlichen Schwerpunkte lagen im regionaldemographischen Bereich, betrafen aber auch die Wohnungsmärkte und die Arbeitsmärkte. Er war langjähriges Vorstandsmitglied in der Deutschen Gesellschaft für Demographie und auch deren Vorgängerin Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft
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